Vor und zurück

29. September 2023. Viel laufen, viel posen, wenig sagen. Mit "jetzt, jetzt, jetzt" macht Hausregisseurin Suna Gürler am Zürcher Schauspielhaus energiegeladenes Bewegungstheater für ein großes, jugendliches Ensemble und setzt dafür unter anderem ihre Arbeit mit dem Autor Lucien Haug fort. Wann wird aus vielen Einzelnen ein Netzwerk?

Von Tobias Gerosa

"jetzt, jetzt, jetzt" am Schauspielhaus Zürich in der Regie von Suna Gürler © Zoe Aubry

29. September 2023. Seit der Intendanz Stemann / Blomberg ist das Jugendtheater am Schauspielhaus Zürich nicht mehr separiert vom Hauptprogramm. Premiere ist Premiere, und wenn 30 junge Laien aus den Spielclubs oder dem Theaterjahr spielen, gehört das ins Premieren-Abo – wohin sonst? Der Blick in den Zuschauerraum des Pfauen bei der Premiere zeigt: Das scheint aufzugehen, im Publikum mischt sich traditionelles und auffallend junges Publikum.

"Wie bei Marthaler!"

"jetzt, jetzt, jetzt" von Suna Gürler (Regie), Lucien Haug (Text), Alina Immoos (Co-Choreografie) und Yunus Ersoy (Dramaturgie) sprengt dabei den altehrwürdigen Pfauen fast, einerseits durch die schiere Größe des Ensembles, vor allem aber mit seiner Energie. Dabei mäandert der Abend inhaltlich mit wenig Text und viel Bewegung irgendwo zwischen dem Spiel von Individualität und Gruppe, Auslegeordnung verschiedener Ideen und strengem Exerzitium.

Mit dem Exerzitium beginnt er. Zuerst wird viel geschritten. "Rundlauf" nennt das der Text (der hier eher ein Drehbuch ist). Aus dem Zuschauerraum treten junge Leute auf die Bühne, die wie ein Sprungbrett oder Laufsteg aussieht, schwarz und weit, und überqueren sie diagonal – man hätte zählen sollen. "Wie bei Marthaler", raunt eine Dame in Reihe acht, die ihr Premierenabo offenbar schon länger hat, nicht ganz zu Unrecht. Im fünften Durchgang fällt auf, dass vielleicht der rechte Arm mehr schlenkert als der linke, beim siebten (oder war's der achte?) schleichen sich kleine, individuelle Spezialbewegungen ein, daraus werden bald kleine Dance-Moves und Blicke ins Publikum.

Viele Körper, ein großer Körper © Zoe Aubry

Man hat Zeit, die einzelnen Spieler:innen zu betrachten. Auch wenn sie sich bald zur Gruppe formieren, sie bleiben als einzelne sichtbar. Aus den Einzeldiagonalen werden dann Gruppen-Pendelgänge: Vor und zurück, vor und zurück, immer fast gleich. Dazwischen: Eine leitmotivisch eingesetzte Choreo, mal einzeln, mal in kleiner Gruppe weit, dann in großer ganz eng. Zu diesen drei Bewegungsmustern kommt der Abend leitmotivisch immer wieder zurück (Choreografie: Suna Gürler und Alina Immoos). Und auch immer wieder markiert ein Zurückzählen von 10 bis 1, dass jetzt, jetzt, jetzt etwas passiere – als Szenemarkierung funktioniert das tadellos.

Das Netzwerk stärken

Das reine Bewegungstheater dominiert diesen kurzen Abend. Wer beginnt etwas? Wer macht mit, schließt sich an? Diese Spiele sind bestechend umgesetzt, geraten aber lang. Wie wird aus Einzelnen ein Netzwerk, fragt das Programm (das im Schauspielhaus seit dieser Spielzeit nur noch online existiert) und erklärt "jetzt, jetzt, jetzt" zu einer Art Endpunkt des Projekts, die Angebote für Junge im Schauspielhausprogramm zu integrieren. Das Netzwerk von Menschen, die sich da für verschiedene Projekte zusammengefunden haben, will man hier jetzt nochmals zusammenführen und stärken.

"Was haben Sie für Ihren Platz bezahlt?"

So wurde das Ensemble groß und die gemeinsam entwickelten Ideen mussten offenbar stark gefiltert und reduziert werden. Die eine Frage ins Publikum ("Was haben Sie für Ihren Platz bezahlt?") bleibt isoliert, wie das eigenartige Intermezzo eines spiegelnden, großen, am Seil pendelnden Balls aus dem Bühnenhimmel oder dass sich alle aus den jugendlichen Freizeitklamotten plötzlich in Anzüge aus dem Fundus kleiden – 1034 Jacketts seien dort zu finden, erfährt man. Aha. Auch diese ironische Verkleidung (so schlecht sitzende Anzüge und peinliche Krawatten sah man in Zürich tatsächlich zuletzt bei Marthaler) bleibt eine lustige Momentaufnahme.

JetztJetztJetzt Zoe Aubry 3Vor dem Theaterspiegel © Zoe Aubry

Schade eigentlich, denn die im letzten Drittel übers Mikro und bei leerer Bühne mehr angedeuteten, in Schweizerdeutsch erzählten "Ich würde"-Geschichten, sind interessant. Was wird mit diesem Theater in 30 Jahren sein: Sehnt man sich dann nach dem "woken Einheitsbrei" zurück, den gewisse Kreise dem Schauspielhaus jetzt vorwerfen? Und wann wurde von der Bühne schon so direkt und ehrlich gewünscht, dass im Zuschauerraum, bei "denen, welche es Scheiße finden", eine Klappe aufgehe und alle "unaufmerksamen Säcke" (ist Unaufmerksamkeit und schlecht finden eigentlich dasselbe?) in ein "dunkles Loch" stürzen? Diese kurzen Textstellen ziehen rasch vorbei. Am Schluss steht wieder ein langer Rundlauf, nun aufs Publikum zu bis zur Schlusspointe. Das wirkt wie einiges, engagiert, kraftvoll, authentisch – aber auch etwas zufällig. Der Premierenapplaus war gleichwohl frenetisch.

 

jetzt, jetzt, jetzt
Konzept: Yunus Ersoy, Suna Gürler, Lucien Haug, Alina Immoos, Inszenierung: Suna Gürler, Bühnen- und Kostümbild: Moïra Gilliéron, Cleo Niemeyer-Nasser, Musik: Singoh Nketia, Choreographie & Probenleitung: Suna Gürler, Alina Immoos, Text: Lucien Haug, Licht: Michel Güntert, Dramaturgie: Yunus Ersoy.
Mit: Mit Gizem Baruk, Yanike Mica Becklas, Helene Bott, Onur Can, Timon Däster, Xhenisa Demiri,  Moubarak Djibril, Amanda Lucia Dos Reis, Tamiris Dos Reis, Lee Fischer, Lara Fuchs, Fayrouz Gabriel,  Samira Graf, Mira Guggenbühl, Jascha Harke, Flynn Jost, Mila Knapp, Willy Krähenbühl, Rosa-Lin Meessen, Vanessa Meyer, Elias Kim Müller, Sora Ndiaye, Alina Rehsteiner,  Enno Rennenkampff,  Dominik Schüepp, Lionel Schwägli, Anina Steiner, Minou Mafalda Taghavi, Valerie Tveiten, Dariia Yelahina.
Uraufführung am 28. September 2023
Dauer: 1 Stunde, 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 Kritikenrundschau

Das Stück erweist sich für Ueli Bernays in der Neuen Zürcher Zeitung (30.9.2023) "als ein Schaulaufen der Generation Z. Allerdings auch nicht als wesentlich mehr." Den Abend müssen man wohl "wie einen performativen Workshop zur Einführung in die Bühnenkunst verstehen. Das Ensemble lernt die Grundstruktur des Theaters kennen", so Bernays weiter. Man könne es zwar als demokratische Tugend auslegen, dass der Fokus nicht auf schauspielerischem Können oder anderen artistischen Qualitäten liegt. "Und vielleicht sucht diese Jugend, die mit Casting-Shows und Tiktok-Clips aufgewachsen ist, im Theater heute überhaupt etwas anderes als künstlerische Virtuosität und Bravour. Insgesamt wirkt 'Jetzt, jetzt, jetzt' aber doch etwas blass – und provinziell."

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