Zürcher Theater Spektakel - Landiwiese Zürich
Gegen die Welt wüten
von Valeria Heintges
Zürich, 19. August 2019. Bereits zum 40. Mal ist die Landiwiese Schauplatz des Zürcher Theater Spektakels, das Familien, Flaneure, Freiluftfans und Festivalgäste aller Art am See zusammenbringt. Zum Treffen, Tratschen, Tafeln. Und zum Theaterschauen. Künstler aus aller Welt und allen Genres spielen auf Wiesen und Wegen, auf Gratisbühnen und in festen Häusern. Wer will, zahlt, wer nicht will, kommt auch auf seine Kosten.
Gratis und großzügig
Letztes Jahr hat Matthias von Hartz die Intendanz des Theater Spektakels übernommen. Es ist nicht nur ihm zu verdanken, dass sich Zürich plötzlich von seiner großzügigen Seite zeigt. Auch nicht, dass sich die Zentral genannte Bühne für die Openair-Straßenkunst in neuem Gewand mit gleich drei Bühnen statt einer zeigt. Auch die frei über das Gelände flottierenden Straßenkünstler haben sich schon vor Jahren als feste Größe etabliert. Aber es ist von Hartz' Programm, das gratis zugängliche Symposien, Stammtische und Vorträge bietet. Und zum 40. Geburtstag als "Geschenke" deklarierte Gratis-Stücke wie "Violin Phase" von Anne Teresa de Keersmaker & Rosas oder die Musikinstallation "Unless", die Dimitri de Perrot, früher als Teil des Duos Zimmermann & de Perrot beinahe Inventar des Festivals, in den Eingangsbereich gebaut hat.
Die Carte Blanche hat von Hartz dieses Jahr an den französischen Tänzer und Choreografen Boris Charmatz vergeben, der mit seinen Arbeiten auf "gratis für alle und jeden" setzt. Charmatz rief in Rennes das Musée de la Danse ins Leben, das er als "Kunstraum ohne Architektur", also ohne Dach und Wände definiert, und gab unter Chris Dercon ein kurzes Gastspiel an der Berliner Volksbühne. Auch in Zürich arbeitet er unter freiem Himmel und oft ist auch der Eintritt frei: Beim beinahe täglichen "Public Warm-up" kann jeder mitmachen. Und auch die 20 Tänzer für das 20. Jahrhundert, verteilen sich frei zugänglich über das ganze Gelände.
Gewaltig und weiblich
Wer bereit ist, für Kunst auch zu bezahlen, dem wird in den Eröffnungsstücken des Festivals enorm zugesetzt. Gewalt ist das Thema. Still und leise geht es in "Titre provisoire" von Chrystèle Khodr & Wael Ali um die Gewalt, die Migranten antreibt, ihre Heimat zu verlassen. Wie eine szenische Lesung wirkt die Erkundungsreise der Libanesin und des Franko-Syrers nach Vorfahren, die nach Schweden emigrierten.
In "Paisajes para no colorear" der chilenischen Truppe La Re-sentida um Marco Layera donnert die Gewalt, die Frauen und Kindern angetan wird, von der Bühne herab. Neun Mädchen zwischen 13 und 17 Jahren zeigen die machistischen Strukturen, in denen sie stecken. Kleinste Abweichungen werden gemaßregelt, Frauen haben lange Haare zu tragen, Lesben werden angefeindet. Und auch minderjährige Vergewaltigte müssen das Kind austragen. Die Wut steckt den Mädchen im Bauch, bricht sich in Solos, in Gruppenarbeiten, in Videos aus einem vergrößerten Puppenhaus Bahn, wild und leidenschaftlich. Am Ende treten sie alle an die Rampe, fordern mehr Gehör für die Jugend, eine Frauen-Revolution. So viel Kraft, so viel Energie kam selten von der Bühne. Und selten soviel Applaus aus dem Publikum zurück.
Lia Rodrigues führt das Centro de Arte da Maré in einer der ärmsten Favelas von Rio de Janeiro. Das Centro ist Proberaum, Tanzschule und Ausbildungsort für Tänzer. Neun von ihnen zeigen in "Fúria", wohin sie führt, die Gewalt – zu unbändiger, unberechenbarer, unstillbarer Wut. Doch richtet sich diese Wut gegen alle, alles und jeden – und wird damit so ziel- wie wirkungslos.
Wütend
Zürichs Seebühne ist die schönste der Bühnen auf der Landiwiese. Hinter der durchsichtigen Wand gleiten elegant beleuchtete Schiffe entlang, zu Beginn hört man die Takelage der in den Wellen schaukelnden Boote an den Mast klackern, über den Köpfen der Tänzer, vier Männer, fünf Frauen, kreisen Fledermäuse. Auf der Bühne aber ist nichts idyllisch. Die Rituale der Anbetung sind alt und schal geworden, zurückgeblieben sind nur Fetische, leere Symbole. Immer wieder formieren sich die Tänzer zu Tableaux Vivants, lebensgroß aufgebauten Gemälden. Aber ihre Kleider sind aus Müll, der knallrote Rock des Königs aus Papier, der Schleier der Göttin ein Fischernetz, das Gold nur Farbe. Sogar die Fahne hängt in Fetzen.
Was soll nur werden – das ist die Frage, die das Stück stellt, entstanden kurz nach der Wahl des Rechtspopulisten Jair Bolsonaro zum Präsidenten. Was wird aus der Beziehung der Geschlechter untereinander, aus der Zweisamkeit, der Gesellschaft? Alles fällt, so die Antwort, in Trümmern. Wird zerhackt vom immergleichen treibenden Beat, der in Endlosschleife aus den Lautsprechern wummert. Man kann nur in Zuckungen ausbrechen oder in Trance verfallen, wenn man sie hört. Die Tänzer formieren sich zu halsbrecherischen Pyramiden, dann wieder zu isolierten Einzelfiguren, zu Schlägereien und Anbetungen, während die Grenze dazwischen verwischt. Am Ende dieser Messe der Wut halten sie Transparente hoch und prangern den Mord an der queeren, schwarzen Stadträtin Marielle Franco an. Sie war kurz vorher Vorsitzende einer Kommission geworden, die militärische Interventionen überwachen sollte. Die Wut hat viele Ursachen. Nicht nur in Brasilien.
Trans-Identisch
An allem ist das Patriarchat schuld, so scheint die Antwort zu lauten, die Phia Ménard & Cie. Non Nova mit "Saison Sèche" geben. Die französische Choreografin quält ihre sieben Tänzerinnen zunächst ausgiebig. Kaum schaffen es die scheinbar muskellosen Wesen in weißen Hemdchen, ihre Glieder so zu ordnen, dass sie auf den Beinen stehen, donnern Schüsse aus den Lautsprechern, quetscht sie die – fahrbare – Decke ein, dass sie sich nur noch kriechend bewegen können. Dabei braucht es so wenig. Den dann nackten Tänzerinnen genügt ein wenig rot, blau, grüne Farbe, ein Strich quer über die Brust, ein schwarzer Kreis rund um die Scham – und schon erscheinen sie bekleidet. Eine blasse Stoffpuppe spendet Farbe – und am Schluss quillt ihr eine schwarze Unterhose aus dem Bauch, mit eingebauten Kugeln darin. Wer sich den Schritt knetet, der hat solche "balls", dass jeder Macho neidisch werden muss.
Phia Ménard, selbst im falschen Körper als Mann geboren, spielt das Spiel mit den Geschlechtern genüsslich. Ein Kleidersack mit Klischee-Klamotten für Sportler, Rapper oder Anzugträger, ein paar Klischee-Gesten – und die Frauentruppe wird zur Männerbande. Der fällt nichts Besseres ein, als sinnlos, hirnlos und bald auch endlos zu marschieren, in immer neuen Formationen. Einer nach dem anderen sackt zusammen. Aber weil nur der Stärkste gewinnt, zwingt es sie immer wieder in Reihe. Am Ende übernimmt das Bühnenbild: Die hochgefahrene Decke lässt Schlitze zum Vorschein kommen. Zunächst rinnt Wasser, dann folgt dicke, schwarze Schmiere, die alles versippt, verdreckt, vermatscht. Das Haus ist brüchig geworden. Den Frauen bleibt die Aufgabe, die eingeweichten Wände herauszureißen, das nackte Gerüst bloßzulegen. Und abzutreten.
Genreübergreifend
Das Theater Spektakel geht noch zwei Wochen weiter. Vor allem genreübergreifend. Die Performerin Geumhyung Jeong mischt in "Rehab-Training" Bildende Kunst und Theater zu einer endlos-langen Performance über die sich wandelnde Beziehung einer Pflegerin zu ihrer Gummipuppe. Am Ende haben sie Sex miteinander, wie zu erwarten. Oder hat nur sie Sex mit sich? Dürftige Fragen für einen so langen Abend. Später wird weiter gemixt. The Palestinian Circus mischt Zirkus mit Politik, Nikko Weidemann, Mit-Komponist für "Babylon Berlin" und Mit-Erfinder des Moka-Efti-Orchesters, zeigt im biographischen Konzert viel Schauspiel. Socalled Friends kombinieren Puppenspiel und anarchisches Musical, Jan Lauwers mit der Needcompany Schauspiel, Musik, Tanz und Sprachen. Der Bildende Künstler William Kentridge geht mit "Drawing Lesson II", einer Spoken-Word-Multimedia-Lecture, zurück zu seinen Anfängen als Zeichner und Schauspieler. Und das Zürcher Theater Spektakel unter Matthias von Hartz einen großen Schritt vorwärts.
Zürcher Theater Spektakel
15. August bis 1. September 2019
www.theaterspektakel.ch
Das Geheimnis des Erfolgs des Zürcher Theaterspektakels beschreibt Daniele in der NZZ (26.8.2019) wie folgt: "Es stellt uns implizit vor die Frage: Wo beginnt Inszenierung? Wer verteilt die Rollen? Ist meine Rolle selbst gewählt?" Wer sich hier aufhalte stolpere über solche Fragen an jeder Kreuzung und könne in jedem Strassenkünstler eine wieder andere Antwort für sich finden. "Theater wiederum ist pure Körperlichkeit, Bodenarbeit, wenn die Schauspieler des 'Palestinian Circus' Bilder für die Lage eines Flüchtlings suchen." William Kentrigde bei dem Festival sei keine Entdeckung mehr, "doch immer ein starker Wert", so , die enthusistisch über das Festival ist: "Das Theaterspektakel muss Schule machen."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 12. Oktober 2024 Sanierung des Theaters Krefeld soll 154 Mio. Euro kosten
- 12. Oktober 2024 Theater an der Rott: Weiterhin keine Bundesförderung
- 11. Oktober 2024 Theater Ansbach: Großes Haus bleibt bis 2026 geschlossen
- 10. Oktober 2024 Berlin: Neue Teamleitung fürs GRIPS Theater ab 2025
- 10. Oktober 2024 Literaturnobelpreis für Han Kang
- 08. Oktober 2024 euro-scene Leipzig: Kritik an Einladung palästinensischer Produktion
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
neueste kommentare >
-
Woyzeck, Wiesbaden Zum Glück
-
Leserkritik Alle meine Männer, Rendsburg
-
Eines langen Tages Reise, Bochum Mehr als die übliche Instantkost
-
Blue Skies, Hamburg Verharmlosend
-
Bark of Millions, Berlin Ein wissender Jubel
-
Frei, Bremen Aufwachsen bei Väterchen Stalin
-
Woyzeck, Wiesbaden Kein Boomer hat diktiert
-
Woyzeck, Wiesbaden Kindergartenbunt
-
Woyzeck, Wiesbaden Altbacken
-
Glaube, Geld, Krieg..., Berlin Einfach erzählen
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Es ist selten zu erleben, dass ein Publikum so begeistert zum Schlussapplaus aufspringt wie die überwiegend sehr jungen Zuschauer*innen beim FIND-Festival der Schaubühne nach dem chilenischen "Paisajes..."-Gastspiel. Ein Abend, der sehr beklemmend und eindringlich von Mobbing und Gewalt erzählt: https://daskulturblog.com/2019/04/08/paisajes-para-no-colorear-schaubuhne-kritik/
"Fúria" erzählt mit wenigen Worten und starken Bildern von der Polizeigewalt in Brasilien. Die Tänzer*innen zerren sich gegenseitig über die Bühne, benutzen sich als Last- und Reittiere, während die Prozession unbeirrt weiterzieht, in die sie sich später einreihen. Eine sehr düstere, pessimistische Arbeit, die unmittelbar nach dem Wahlsieg Bolsonaros entstand und im Mai am HAU bei einem kleinen Festival zum Thema Opposition und Widerstand in Brasilien eingeladen war: https://daskulturblog.com/2019/05/08/a-invencao-de-maldade-furia-tanz-aus-brasilien-hebbel-am-ufer-kritik/