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"German Angst" essen Seele auf?

von André Mumot

Braunschweig, 28. Februar 2011. Man fühlt sich gleich zu Hause. Man sitzt im Staatstheater Braunschweig und nickt: Ja, das ist deutsches Theater. Da stehen drei Mikrofone, drei junge Damen sprechen karg-nackte Textpassagen und nehmen sich gegenseitig mit einer Videokamera auf, deren Bilder vergrößert über die Bühnenrückwand huschen. Es geht rau zu und laut, und es wird viel nachgedacht, und das allermeiste wird ironisch gebrochen. Aber um gleich den falschen Eindruck zu vermeiden - schlecht ist das durchaus nicht, nur eben sehr, sehr typisch. Und das ist vielleicht auch ganz gut so, denn irgendwie soll das eben auch repräsentativ sein.

Bei allem liegt schließlich ein Hauch Grand Prix in der Luft. Acht Nationen, acht Stücke, und ein strahlender Sieger am Schluss. "Fast Forward" heißt das "Europäische Festival für junge Regie", das jetzt zum ersten Mal in Braunschweig stattgefunden und vier Tage lang die Bühnen freigemacht hat für Begegnungen des internationalen Theaternachwuchses. Was, wie Kuratorin Barbara Engelhardt betont, eine "Erkenntnis der Differenz" ermöglicht, ein Austarieren auch von Streit- und Berührungspunkten in ganz unterschiedlichen kulturpolitischen Welten mit eigenen Ästhetik-Traditionen. Ein Plan, der hervorragend aufgeht, auch wenn man sich natürlich vor der Annahme hüten muss, jede hier vorgestellte Produktion sei per se charakteristisch für die Theatertendenzen des jeweiligen Landes.

Frauen leiden, weil die Männer böse sind

"Sonne, Tod und Meer" © Clara Bosch
"Sonne, Tod und Meer" nach Camus © Clara Bosch

Aber immerhin: Für die Gastgeber trifft es schon mal zu. Wenn Gernot Grünewald in seiner Studienarbeit für die Theaterakademie Hamburg "Der Fremde" von Albert Camus adaptiert, greift er nämlich ganz selbstverständlich auf jede Menge multimedialer Verfremdungstechniken zurück: Die drei Darstellerinnen leiten das Stück ein und aus mit autobiographischen Statements, sie wechseln zwischen den einzelnen Rollen hin und her, und der Text wird mitunter von Tonbandgeräten abgespielt, die an die Mikrofone gehalten werden. Ein Spieleinfall folgt dem nächsten, mancher davon verglüht schon, bevor er wirklich auf die Nerven gehen kann, andere verursachen Beklemmungen, indem sie die Themen von Entfremdung und Gleichgültigkeit sehr beredt auf den Punkt bringen.

Da ist sie also wieder, die "German Angst", die Furcht davor, dass alles so, aber immer auch ganz anders sein könnte, die Furcht, nichts tief und skeptisch genug hinterfragt und gebrochen zu haben. Sie bildet eine Trennlinie zu den Gastländern, was sich besonders deutlich zeigt, wenn die französische Compagnie Dinoponera Fassbinders "Bremer Freiheit" von 1971 in erdrückender Eindimensionalität zelebriert. Stark schematisiert klagt Regisseur Mathias Moritz eine chauvinistisch-kapitalistische Männergesellschaft an, wobei Vergewaltigungen, Kruzifix-Masturbation, Geldscheinregen, Stahlhelme und Pissoir-Spülungen pausenlos untermalt werden von unheilvollen Klavierakkorden. In finsterer Monotonie wird exemplifiziert, wie stark die Frauen zu leiden haben, weil die Männer so abgrundtief böse sind.

Modisches und Aggressives aus Spanien und Italien

Genauso übrigens bei "Eileen Shakespeare". Die Spanierin Marta Gil Polo hat ein wenig originelles Ein-Personen-Stück des französischen Modeautoren Fabrice Melquiot umgesetzt, in dem eine Schauspielerin in einem Bühnenbild voller fremder Schuhe und fremder Identitätsangebote sehr umständlich ausbreiten muss, dass es sich bei ihr um die Schwester des populären William handelt. Sie war es nämlich, die alle seine Stücke geschrieben hat, was die Welt der Männer dazu bringt, sie nackt auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, während sie schwerst pathetisch eine Zukunft der Shopping-Center ankündigt.

"Made in Italy" © Marco Caselli Nirmal
"Made in Italy" © Marco Caselli Nirmal

Der Themenkomplex der machistischen Unterdrückung setzt sich fort, aber die Gruppe Babilonia Teatri kommt dabei zum Glück in der Gegenwart an. Valeria Raimondi und Enrico Castellani wüten sich bei "Made in Italy" durch eine hoch disziplinierte Aggressions-Performance, in der sie mit bissigster Bösartigkeit Stichworte des italienischen Alltags, der politischen und sozialen Doppelmoral, der Korruption und Fremdenfeindlichkeit ins Publikum feuern. Es ist ein energetisches und doch beherrschtes Exerzitium der funkelnden Empörung, es ist kurz und knapp und überaus unsentimental.

Eine Tatsache, die man sich schon deshalb klar vor Augen führen muss, weil die beiden großen Zuschauer-Lieblinge des Festivals im Grunde genau das Gegenteil repräsentieren. Zwei Produktionen, eine kleine und eine große, widmen sich vor allem dem überwältigenden Aufruhr der Seele. Und wenn man sich (vielleicht in einem Anfall von "German Angst") auch fragen mag, was das alles mit den wirklich brennenden Fragen unserer Zeit zu tun haben soll - entziehen kann man sich hier nicht. Entziehen wäre feige.

Festhalten und nicht mehr loslassen: ein famoser "Postmeister"

Da ist nämlich plötzlich diese junge Russin (Inna Sukhorestkaja), ein ganz zartes, empfindliches Ding aus dem frühen 19. Jahrhundert, das zwischen ihrem braven Vater und einem schneidigen Husaren hin- und hergerissen ist. Einen Knopf näht sie an, einen imaginierten Faden beißt sie ab, das genügt schon. Schaut man ihr zu, ist man rettungslos verloren. Kirill Vytoptov hat Puschkins "Postmeister" für die Russische Akademie für Theaterkunst inszeniert und damit seine Regieausbildung abgeschlossen. Das Ergebnis ist ein schmerzliches, hauchfeines Schmuckstück.

Vom Publikum aus singt manchmal ein kleiner Chor erzählende Passagen, und die drei Darsteller bewegen sich eher durch eine Choreographie als durch hergebrachtes Schauspiel. Das Herausragende aber ist die Genauigkeit jeder einzelnen Aktion. Jede Berührung, jede Geste, jedes Aufgreifen einer Requisite, jede pantomimische Ersatzhandlung ist mit erzählerischer Bedeutung belegt und so exakt ausgeführt, das man einzelne Momente spielerischer Bravour festhalten, nicht wieder loslassen möchte. Ballettös drehen sich die drei virtuosen Schauspieler umeinander, und dabei entwickelt sich eine keineswegs platt-naturalistische, sondern umso differenziertere psychologische Verdichtung.

Aufrichtige Rührung: ein norwegischer "Werther"

Die Jury, die sich zusammensetzt aus dem Braunschweiger Intendanten Joachim Klement, dem isländischen Regisseur Thorleifur Ör Arnarsson, dem Regisseur und Präsidenten der European Theatre Convention (ETC) Jean-Claude Beruti und "Theaterformen"-Leiterin Anja Dirks, kann aber trotzdem nicht anders: Sie muss Jonas Corell Petersen aus Norwegen auszeichnen. Womit sie ihm zugleich die Inszenierung einer eigenen Arbeit am Staatstheater Braunschweig in der kommenden Spielzeit ermöglicht und seinen Beitrag zur nächsten Generalversammlung der ETC nach Nottingham einlädt.

Es ist schon so: Der "Werther" vom Norske Teatret aus Oslo ist eine herrliche Sache. Weil Torbløm Friksen mit schutzlos launischer Lebendigkeit über eine Bühne fegt, die mit einer niedlichen Holzhütte und Tannenaufstellern besetzt ist, während seine Lotte auf Skiern durch die Lüfte segelt. Textgetreu ist die Erkundung des emotionalen Absolutheitsanspruchs und dem Stoff jederzeit gewachsen. Vor allem aber beglückt auch hier der Reichtum der szenischen Ideen: Die Souffleuse jagt Werther mit der Taschenlampe, Albert improvisiert das Gewitter auf dem Akkordeon, und auch das Publikum wird immer wieder sehr locker ins Spiel mit einbezogen. Es herrscht eine so fabelhaft aufgekratzte Leichtigkeit, dass man während der ersten Hälfte gar nicht mehr aufhören kann, vor sich hin zu grinsen. Und am Ende, wenn Lotte, Werther und Albert an drei Klavieren ihre große Abschiedsnummer als untröstlichen Gesang aufführen, muss man sich wohl fragen, wann man zum letzten Mal so aufrichtig gerührt gewesen ist im Theater.

Das, was die beiden Produktionen aus Russland und Norwegen so bemerkenswert macht, ist aber nicht ihre uneingeschränkte Gefühligkeit, auch nicht ihre Diskursverweigerung, sondern die Bereitschaft, jeden einzelnen Bühnenmoment zu einem differenziert erdachten und wahrhaftigen Ereignis zu machen. Schön ist das, und schön ist damit auch, dass "Fast Forward" jetzt jedes Jahr stattfinden soll. Es könnte also bald wieder dabei helfen, ein bisschen Angst abzubauen.

 

Stancionnyi smotritel (Der Postmeister)
nach Alexander Puschkin
Russische Akademie für Theaterkunst (GITIS), Moskau
Regie: Kirill Vytoptov, Licht: Nikita Kobelev.
Mit: Inna Sukhoretskaja, Alexander Gorelov, Evgeni Matvejev, Chor: Polina Lazareva, Dmitry Zakharov, Jegor Koreshkov.

Liberté à Brȇme (Bremer Freiheit)
von Rainer Werner Fassbinder
Compagnie Dinoponera, Howl Factory, Strasbourg
Regie: Mathias Moritz, Ausstattung: Arnaud Verley, licht: Bertrand Llorca, Ton: Michael Schaller.
Mit: Céline Bertin, Jacques Bruckmann, Marie Bruckmann, Deborah Cherriere, Antoine Descanvelle, Guillaume Luquet, Walter M. Ponzo, Vincent Portal.

Eileen Shakespeare
von Fabrice Melquiot
Tantarantana Teatre, Barcelona
Regie: Marta Gil Polo, Bühne: Marta Gil Polo, Cristina Ayala, Kostüm: Isabel Franco, Licht: Sylvia Kuchinowa, Ton: Laura Teruel.
Mit: Txell Botey.

Made in Italy
von Babilonia Teatri
Konzept, Regie, Spiel: Valeria Raimondi und Enrico Castellani, Bühne: Babilonia Teatri/Gianni Volpe, Kostüme: Franca Piccoli, Licht und Ton: Ilaria Dalle Donne

Die Sonne, der Tod und das Meer
nach "Der Fremde" von Albert Camus
Theaterakademie Hamburg
Regie: Gernot Grünewald, Bühne: Michael Köpke, Julia Bau, Objekte, Masken: Clara Bosch.
Mit: Ann-Kathrin Doerig, Marie Seiser, Julia von Doege.

Unge Werthers Lidingar (Die Leiden des jungen Werthers)
nach Johann Wolfgang von Goethe
Det norske teatret und Kunsthøgskolen, Oslo
Regie: Jonas Corell Petersen, Musik: Gaute Tønder, Ausstattung: Nia Damerell, Licht: Per Willy Liholm.
Mit: Torbløm Friksen, Marie Blokhus, Tobias Santelmann.

Angriff auf Anne
von Martin Crimp
Universität Mozarteum Salzburg
Regie: Katrin Plötner, Bühne und Kostüm: Victoria Kleinecke, Genija Leis, Licht und Ton: Felix Grimm.
Mit: Anna-Sophie Fritz, Ralph Kinkel, Antonia Labs, Theresa Palfi, Janina Schauer, Daniel Sträßer, Esther Vorwerk.
(nicht besprochen)

Det is myjn Vader (Das ist mein Vater)
Het beloofde fest, Teil 3 von Ilay den Boer
Het huis van Bourgondië
Konzept und Regie: Ilay den Boer, Bühne: Edo Sutherland, Musik: Melle Kromhout, Supervisison: Willibrord Keesen, Technik, Licht: Robert Richter
Mit: Ilay den Boer, Gert den Boer.
(nicht besprochen)

http://www.staatstheater-braunschweig.de/spielplan/fast-forward

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Kommentare  
Fast Forward, Braunschweig: ins Schwarze getroffen
"Ja, das ist deutsches Theater. Da stehen drei Mikrofone, drei junge Damen sprechen karg-nackte Textpassagen und nehmen sich gegenseitig mit einer Videokamera auf, deren Bilder vergrößert über die Bühnenrückwand huschen. Es geht rau zu und laut, und es wird viel nachgedacht, und das allermeiste wird ironisch gebrochen", die Kritik trifft mit ihrer Beschreibung absolut ins Schwarze und charakterisiert den problematischen Kern des weltweit einzigartigen deutschen Regietheaters. Erst bei derartigen Festivals kann entdeckt werden, was den Deutschen Bühnen fehlt: Leidenschaftliche Produktionen, die Theater machen, anstatt dem Hang zu verfallen alles wie im Proseminar erklären und analysieren zu wollen, in denen Figuren auf der Bühne stehen, statt Diskurs aufsagenden Schauspielern, in denen Theater ein Publikum begeistert, statt es klinisch und ästhetisch sauber zu langweilen. Es gibt einige wenige Ausnahmen auf Deutschen Bühnen (zum Beispiel Jürgen Kruse, der jedoch inzwischen auch nicht mehr die ganz großen Bühnen bespielen darf), aber der Rest ist "Schweigen". Bleibt zu hoffen, dass Festivals wie dieses etwas nach Deutschland zurückbringen, was irgendwo in unserer Geschichte verloren gegangen ist. Immerhin, der norwegische Sieger inszeniert in der nächsten Spielzeit in Braunschweig, ein Anfang ist gemacht!
Fast Forward, Braunschweig: eine kleine nachtkritik-Kritik
auch in nachtkritik(kommentare) geht es manchmal etwas laut, rau und grob zu (finde ich). es wird viel (nicht immer zu jedem thema) n a c h g e d a c h t und vieles wird ironisch (und noch schlimmer bis boshaft) g e b r o c h e n (und be-rochen).
ich übertreibe natürlich etwas - viele fühlen sich bei nachtkritik gleich (ziemlich) zu hause (warum eigentlich?)
man sitzt vor dem bildschirm und nickt dazu (od. schüttelt den Kopf-neinein!): ja, ja, sagt man sich, das ist deutsche theater-nachtkritik
(aber letztlich ist diese doch positiv, kritisiere ich jetzt einmal meine kleine nachtkritik-kritik...)
Fast Forward, Braunschweig: sinnliches Theater
Dem kann ich nur zustimmen! Deswegen sind Gastspiele aus dem Ausland oftmals so ein Balsam für die Theaterseele. Obwohl ich auch im deutschsprachigen Raum etliche RegisseurInnen ausnehmen würde: Castorf und Marthaler haben immer sehr sinnlich gearbeitet, David Bösch macht auf ganz andre Art lebendiges und pralles Theater, Alvis Hermanis arbeitet mittlerweile ja auch im deutschsprachigen Raum, auch Karin Beier würde ich dazuzählen ...
Fast Forward, Braunschweig: so derb ist deutsches Theater
Wir aber zeigen das Leben so wie es ist, und nicht so wie es sein sollte!
(in Deutschland jedenfalls)

Das also ist Deutsches Theater.
... schlecht ist das durchaus nicht, nein durchaus nicht, nur eben - sehr, sehr typisch...
und so sage ich jetzt gleich ziemlich laut schreiend + grob:
das ist vielleicht auch ganz schlecht und böse so, denn
so irgendwie - muss das doch eben repräsentativ für das typisch Deutsche Theater und Deutsches Leben seyn:
Erkenntnis der Differenz (wir waren schon immer anders als alle anderen im Extrem!):
Es lebe der kleine(große) Unterschied!
Ganz klar unterschiedliche kultur-polische Welten, mit ganz eigener
eigentümlicher Ästhetik-Tradition
eigentlich fürchterlich diese brutale Theater-Tendenzen der Deutschen Länder:
Immer Mikrofone, junge Damen sprechen (kreischen) karg-nackte Text-Passagen (wann nur wann ziehen sie sich endlich vollständig aus!
und wann kommen nackte Deutsche Männer, die ihnen zeigen müssen-wollen wo`s lang geht - kleine raue, harte Vergewaltigungs-Szenen, oder
Vergewaltigungs-Tendenzen dürfen jedenfalls nicht fehlen, und dass
Männer Männer kopulieren sollte auf keinen Fall vermieden werden - )
Das Theater, Spiegelbild der Nation? (oder der ganzen Welt?!)
Da geht es rau, da geht es laut schreiend und gröblich-kriegerisch meist zu immer zu immer zu - -
diese Lust an Gewalt und Brutalität, ähnlich wie in schlechten (od. auch guten) Filmen, und so un-endlich viel, wird dabei ziemlich laut nachgedacht
(ein Land das viel nachgedacht+kritisiert schon immer hat) -
und dann Eigenes + Fremdes übers Knie gebrochen hat und bricht.
Leben, Menschen-Leben werden da gerne gebrochen auf den Bühnen
(wie`s im Leben eben leider nun einmal auch ist: brechen und gebrochen werden!)
Sehr typisch für Deutschland? -
sehr, sehr typisch!
und so irgendwie soll das doch auch repräsentativ sein für dieses Land, für Deutschland immer wieder seyn:
Die Kotze herausgekotzt, denn unser Leben ist wahrhaftig gekotzte-stinkende Kotz-Brühe!
Geben sie sich also keinerlei Mühe -
dass es anders sein könnte!
etwa so,
so wie das Leben in manchen ausländischen Theatern gezeigt wird,
so wie Leben im Ausland vielleicht ganz anders ist - -
jedenfalls nicht (treu)deutsch ist
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