Der Lindberghflug / Der Flug der Lindberghs / Der Ozeanflug

Inszenierungsvorschlag der Gruppe LIGNA (Hamburg / Berlin / Frankfurt)

22. Dezember 2015. LIGNA schlägt vor, nach dem Auslaufen der Urheberrechte ein Stück Bertolt Brechts endlich so zu spielen, wie es bisher nicht gegeben werden konnte: originalgetreu unvollständig.

Das Stück

Es handelt sich um das "Radiolehrstück", das unter dem Titel "Der Lindberghflug" bei den Baden Badener Musiktagen 1929 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Das Stück findet auf die Frage, was mit dem Konzert oder dem Theaterstück passieren solle, wenn das moderne Medium Radio die Darbietung an unendlich viele Orte zerstreut, somit die einheitliche Rezeptionssituation im Konzert- oder Theatersaal zerteilt und zerstört und nur noch ein Abbild der künstlerischen Darbietung ausstrahlt, eine radikale Antwort: Es zerteilt auch das Stück selbst. Der Flug der Lindberghs, in dem es um den ersten geglückten Flug über den Atlantik von Charles Lindbergh geht, sei, so Brecht in den nach der Uraufführung entstandenen Erläuterungen, ein "Lehrgegenstand" und zerfalle in zwei Teile: Der eine Teil werde vom Apparat zur Verfügung gestellt, er umfasst die Chöre, die Gesänge der Elemente, die Wasser- und Motorengeräusche, sprich: das gesamte Hörstück – mit einer Ausnahme. Die Rolle des Fliegers – die Hauptrolle des Stückes – wird nicht mit ausgestrahlt. Sie ist der "pädagogische Teil" und "Text für die Übung": der "Übende (an anderer Stelle wird von einer Gruppe gesprochen, deshalb auch die Veränderung des Titels in 'Der Flug der Lindberghs'; nachdem Lindberghs Sympathien für den Faschismus bekannt werden, verschwindet sein Name ganz aus dem Stück) ist Hörer des einen Textteiles und Sprecher des anderen Teiles".

Mit anderen Worten: das Stück soll unvollständig ausgestrahlt werden – überall dort, wo in der Partitur Lindbergh spricht oder singt, ist lediglich die Orchesterbegleitung zu hören. Die HörerInnen antworten auf diese Leerstelle: sie singen und sprechen den Lindberghteil vor dem Apparat mit. Ohne – und das scheint uns entscheidend – ohne damit das Stück zu vervollständigen, ohne den radikalen Schnitt, den Brecht zwischen den beiden Teilen vornimmt, zu überdecken: Er bleibt weiterhin deutlich hörbar, denn der volle und vollständige Klang, die Präsenz der konzertanten Auffühung, die mit der Radioübertragung zerstört ist und nur noch als Abbild zu den HörerInnen nach Hause geschickt wird, wird hier nicht zu einer gelungenen Ganzheit wieder zusammengefügt. Dieser Bruch wird in der gemeinsamen Übung von HörerInnen und Apparat vielmehr hervorgearbeitet und verstärkt. Denn der Apparat leitet die Übung nicht nur ein, vielmehr "unterbricht" er sie immer wieder; die Übenden hätten im Gegenzug den Text, so Brecht, "mechanisch zu sprechen und zu singen" – dem gegenüber, was da aus dem Apparat kommt und der gesamten gemeinsamen Übung ist also mit Distanz zu begegnen.

Genau darin scheint uns die Pointe der Brechtschen Übung zu liegen: Sie legt nahe, in dem Apparat eines der vielen Medien der Verdinglichung zu erkennen, zu dem es eine Haltung zu gewinnen gilt, die nicht darin bestehen kann, sich in einen Helden "hineinzufühlen". Die Haltung der Hörenden ist nicht der Nachvollzug der "heroischen" Haltung Lindberghs, sondern deren distanzierte Prüfung. So erklärt sich auch Brechts durchaus ambivalent zu lesender Satz, die Übung diene "der Disziplinierung, welche die Grundlage der Freiheit ist": Erst die "disziplinierte" Distanz dem Medium gegenüber, die zu üben ist, ermöglicht eine freie Handlung.

Hellsichtig erkannte Brecht, dass der Rundfunk seiner Zeit kein Interesse daran haben wird, ein unvollständiges Stück auszustrahlen. Bei den Baden Badener Musiktagen konnte die Trennung zwischen Radio und Hörer – ein Abgrund, der sich nicht mehr zuschütten, nur noch überdecken lassen wird - immerhin in einer öffentlichen Generalprobe demonstriert worden. Seitdem gab es lediglich konzertante Aufführungen des Werkes.

Inszenierungsvorschlag

Wir schlagen eine Auffühung des Stückes vor, die den Flug der Lindberghs tatsächlich als Übung im Brechtschen Sinne begreift, also auf die Ausstrahlung der Hauptrolle verzichtet. Das aber wird, so lange die Urheberrechte gelten, Probleme mit sich bringen, denn die Verwalter des Erbes, so ergaben Vorrecherchen, bestehen auf einer Aufführung, die nicht nur originalgetreu, sondern "originalgetreu und vollständig" zu erfolgen habe, also als konzertante, ("also falsche", so ließe sich aus Brechts Notizen zur Vorstellung bei falscher konzertanter Verwendung ergänzen) Aufführung, in der auch der Lindberghpart von einem Profisänger im Konzertsaal gesungen wird. Eine Auseinandersetzung über die Unsinnigkeit der Bestimmung "originalgetreu und vollständig" in Bezug auf den Lindberghflug wäre natürlich jetzt schon, vor 2027, interessant.

In unserer Fassung würde der erste Teil von einem Orchester, SchauspielerInnen/ SängerInnen und einem Chor ganz nach den Vorgaben der Partitur aufgeführt werden. Einzig der Charles Lindbergh würde dem Ensemble fehlen. Zur Ausstrahlung des unvollstänigen Stückes müsste ein Radiosender gewonnen werden. Es scheint uns jedoch wichtig, dass auch das Theater oder Konzerthaus, in dem diese Aufführung erfolgt, während der Darbietung für den Publikumsverkehr geöffnet ist, so dass man sich in den Zuschauerrängen die lückenhafte Ausführung anhören kann.

Der zweite Teil der Übung – der Part der HörerInnen - wird im Stadtraum stattfinden. Verteilt über die Innenstadt bauen wir häusliche Situationen mit Tisch und Stuhl auf (ein Aufruf fordert die AnwohnerInnen auf, ihr Mobiliar für diesen Tag zu verleihen), wo jeweils ein Radio die Übertragung des Stückes aus dem Theater oder Konzertsaal spielt und zum Vervollständigen der Protagonistenrolle einlädt. Da die Rolle des Charles Lindbergh nicht leicht zu singen ist, werden wir in den Wochen vor der Auffühung mit Laien an der Interpretation gearbeitet haben. Diese SängerInnen werden bevorzugt an den über den Stadtraum verteilten Hörstationen Platz nehmen. Das Publikum bewegt sich in der Stadt von einer Hörinsel zur anderen, lauscht den verschiedenen Realisierungen, singt mit oder wohnt der (unvollständigen) Aufführung im Theater bei.

Offene Frage

Handelt es sich bei der Übung, die Brecht mit dem Flug der Lindberghs ermöglichen wollte, lediglich um eine Unterwerfung unter den Apparat, eine frühe Form der Einübung in kybernetische Regelkreisläufe, wie gerade in neueren Lektüren des Stückes vielfach kritisiert wird? Oder eröffnet die von Brecht beschriebene distanzierte Haltung, die von ihm geforderte Genusslosigkeit des "Mittuns", gerade eine Möglichkeit des Umgangs mit den medialen Apparaten, die für unsere heutige Zeit, in der nicht allein ständiges Mitmachen, sondern gerade die totale Affirmation und der permanente Genuss des Mitmachens gefordert ist, interessant sein könnte? Eine originalgetreu unvollständige Aufführung des Flugs der Lindberghs könnte diese Frage weiter bearbeiten – leider wohl erst 2027, wenn Facebook und Twitter nur noch halb vergessene Namen aus längst vergangenen Zeiten sind.

 

LIGNA ist eine Medienkunst- und Performancegruppe LIGNA bestehend aus Ole Frahm, Michael Hüners, Torsten Michaelsen. Seit Beginn der gemeinsamen Arbeit beim Radiosender Freies Sender Kombinat in Hamburg setzt sich LIGNA intensiv mit dem Schaffen Bertolt Brechts auseinander.

ligna.blogspot.de

 

Hier die anderen Beiträge zur Ausschreibung: von Alexander Karschnia, copy & waste, Kevin Rittberger, friendly fire und Ivo Eichhorn.

Kommentare  
Urheber(b)recht – LIGNA: gerne unterhalten
Die Verwalter des Erbes, so ergaben Vorrecherchen, bestehen auf einer Aufführung, die nicht nur originalgetreu, sondern "originalgetreu und vollständig" zu erfolgen habe, also als konzertante, ("also falsche"...)
Würde mich gern mit Ihnen unterhalten, wenn Interesse besteht.
Urheber(b)recht: Kontakt
Sehr gerne unterhalten wir uns! (Wir haben die Nachricht erst heute entdeckt, deshalb die späte Antwort.) Wir sind zu erreichen unter ligna(at)ligna.org
Kommentar schreiben