Zuschauerkonferenz des Centraltheaters in Leipzig
Ein Hartmann für alle
von Johanna Lemke
Leipzig, 18. Dezember 2008. Eine Bestandsaufnahme nach nur einhundert Tagen, das ist nach einem Intendantenwechsel natürlich ein bisschen gewagt. Ein künstlerisches Konzept zu etablieren, das so radikal anders als das des Vorgängers ist, braucht vermutlich mehr Zeit. Andererseits, die Diskussionen der letzten Wochen über den wohl radikalsten aller Theaterneustarts des Jahres, nicht zuletzt auch in den Foren auf dieser Seite, gaben Grund für eine Zwischenbilanz, die das Centraltheater gestern auf einer Zuschauerkonferenz selber zog.
Kurz zur Erinnerung: Vor genau drei Monaten hatte Sebastian Hartmann sein Amt als Intendant am Schauspiel Leipzig angetreten. Zuerst einmal nannte er das Haus in "Centraltheater" um, die kleine Spielstätte in "Skala", riss alles Bunte von den Wänden und Webseiten und machte auf Anti-Stadttheater.
Leipzig ist nicht Berlin
Weil die Tagespresse in Leipzig zuvor schon vor dem "Radikal-Regisseur" gewarnt hatte, fühlte man sich bestätigt – und war nicht wenig angekratzt von diesem Castorfschüler. Er wollte alles anders machen als sein Vorgänger Wolfgang Engel, in dessen Theater nicht nur die Röcke der Damen auf der Bühne bis auf den Boden gereicht hatten, sondern auch die Zuschauerzahlen frappierend in den Keller gegangen waren.
Die ersten Premieren unter Hartmann waren dann allerdings weniger skandalös als befürchtet, aber die Zuschauerströme blieben ebenfalls aus. Hartmann schien einer typischen Leipziger Verführung erlegen zu sein, die da lautet: Die Stadt ist voll von Studenten, Künstlern und Medienleuten, die muss man nur ins Theater locken und schon ist die Hütte voll.
Denkste! Leipzig ist nicht Berlin, will es nicht mal sein. Und das Kulturangebot, die freie Theaterszene zumal, ist für eine Halbmillionenstadt ziemlich groß, der Leipziger hingegen oft recht träge in seiner Abendgestaltung. Das typische Dilemma: Die "Jungen" kamen zwar, jedoch längst nicht in Scharen, die Abonnenten warfen in den Premieren die Türen. Und schrieben böse Briefe an die Tageszeitungen und sogar den Stadtrat.
Das Theatervolk murrt
Von Arroganz der neuen Theatermacher war immer wieder die Rede, von dem Versuch, eine zweite Volksbühne zu errichten, gegen die Bedürfnisse der Stadt. Diesem Vorwurf wollte Sebastian Hartmann sich gestern im fast vollen Zuschauersaal stellen. Gleich drei Experten wurden geladen: neben Hartmann auf dem Podium die Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard, Volksbühnen-Dramaturg Maurici Farré und der Theaterwissenschaftler und Postdramatik-Experte Hans-Thies Lehmann. Eine Verteidigungskommission des Regietheaters, könnte man fast sagen.
Und das schien zunächst auch nötig, denn die ersten erbosten Kommentare bezogen sich auf genau jenen Theaterbegriff, den Hartmann in Leipzig etablieren will: "Macbeth" sei schlicht Etikettenschwindel! – und die Mikros kommen den Kommentaren kaum noch hinterher. Abfälliges Gelächter der "Jungen" über die biederen Theateransichten, Applaus der "Alten" bei Radikalverurteilungen des Hartmannschen Theaters. Die schulmeisterlichen Erklärungen der Experten, was Theater heute sein müsse, warum es Texttreue noch nie gegeben habe, gehen in Gemurre unter – die Welt erklären lassen will man sich hier nicht!
"Ich mache das für Sie!"
Dann passiert etwas Erstaunliches. Sebastian Hartmann hört sich ein paar dieser Urteile an und sagt dann mit seiner sehr einfachen Sprache: "Ich spüre da einen kleinen Hass." Und: "Ich mache das für Sie" – auf einmal ist Ruhe im Saal, es entsteht tatsächlich so etwas wie ein Gespräch. Hartmann hört sich nickend die Kritik der Zuschauer an, das Gegenüber immer ansehend und duzend versucht er, sein Theater zu verteidigen.
"Wir nehmen Sie ernst", sagt da sogar der nicht gerade für seinen Charme geliebte Chefdramaturg Uwe Bautz. Er spricht von den Plänen, Publikumsgespräche und Programmhefte einzuführen, auf die man bisher verzichtet hatte. Die ersten Monate seien eben ein Ausprobieren gewesen. Aber jetzt sei man bereit, die bisherigen Konzepte in Frage zu stellen und sich den Bedürfnissen zu öffnen.
Theater für jeden
Ist das vielleicht der Schlüssel? Denn so sehr man sich in Leipzig echauffiert, so mild lässt man sich offenbar stimmen, wenn man spürt, dass man ernst genommen wird. Bemerkenswert ist, wie viele lobende Stimmen sich erheben, nicht nur von den "Jungen". Am Ende scheint alles sehr harmonisch. Kein empörter Ex-Abonnent erbost sich mehr, niemand fordert Klassiker zurück.
Ein paar wichtige Fragen werden übergangen: Was soll mit der Skala passieren, der Nebenspielstätte mit eigenem Konzept und Ensemble, die als Werkstatt geplant war und sich als Wurschtelei geriert? Auch die Debatte um die Aufgaben des Stadttheaters kommt zu kurz. Kann man dieses Konzept, ein Haus mit Kunst "für jeden" zu gestalten, tatsächlich negieren? Hartmann stellt am Ende noch die nächsten Premieren vor. Und die erinnern tatsächlich mehr an Stadttheater als an alles andere.
Mehr über Sebastian Hartmann ? Seinen Einstand gab er im September 2008 mit der Matthäuspassion. Anfang Oktober folgte die Leipziger Fassung seiner Hamburger Publikumsbeschimpfung. Danach prüfte Hartmann die Leipziger hart mit einer Neuauflage seines Magdeburger Macbeth.
Wir bieten profunden Theaterjournalismus
Wir sprechen in Interviews und Podcasts mit wichtigen Akteur:innen. Wir begleiten viele Themen meinungsstark, langfristig und ausführlich. Das ist aufwändig und kostenintensiv, aber für uns unverzichtbar. Tragen Sie mit Ihrem Beitrag zur Qualität und Vielseitigkeit von nachtkritik.de bei.
mehr debatten
meldungen >
- 10. September 2024 Tabori Preis 2024 vergeben
- 10. September 2024 Theaterpreis des Bundes 2024 vergeben
- 10. September 2024 Fabienne Dür wird Hausautorin in Tübingen
- 10. September 2024 Saarländisches Staatstheater: Michael Schulz neuer Intendant
- 08. September 2024 Künstlerin Rebecca Horn verstorben
- 08. September 2024 Österreichischer Ehrenpreis für David Grossman
- 04. September 2024 Görlitz, Zittau: Theater will seinen Namen verkaufen
- 02. September 2024 Trier: Prozess gegen Ex-Intendant Sibelius eingestellt
neueste kommentare >
-
Essay Osten Kuratieren im Osten
-
Hamlet, Wien Zumutung
-
Sachsens Kultur Ich wünsche ...
-
Leserkritik Vorhang Auf, Rendsburg
-
Nathan, Dresden Unterschätze nicht den Kasper!
-
Nathan, Dresden Verbaute Sicht
-
Hamlet, Wien Welche Warnung?
-
Don Carlos, Meiningen Kraftvoller Opernabend
-
Doktormutter Faust, Essen Eher entmächtigt
-
Vorwürfe Ivo Van Hove Zweierlei Maß
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Danke.
Ansonsten halte ich direkte Angriffe auf die Kritiker/in für sehr befremdlich. In den Kritiken steht ja auch nicht: Sebo oder Lawinky oder whovever sollen verschwinden. Mit der Performance (auch von Kritikern) kann und soll man sich auseinandersetzen, mit Personen bitte nicht. Ad personam ist immer Scheiße.
(Kürzungen der Redaktion erkennt man daran, dass die Auslassungspunkte in Klammern gesetzt sind. Aber wir werden darüber nachdenken, auf redaktionelle Eingriffe gesondert hinzuweisen. Die Red.)
Hilfe, oder besser: "Hülfe"!
Als ob nun verhinderte Thespisjünger genau diejenigen wären, die ein anständiges Stadttheater in die Knie zwingen würden! Mit ihrer mangelnden Anwesenheit? Da wird doch vielleicht viel eher umgekehrt ein Schuh draus! Wer sich den anziehen mag, ist mir im Moment auch ziemlich wurscht!
Ich frage mich viel eher, WO die Deutsch-LKs dieser Stadt bleiben? Die machten doch - und der aktuelle Spielplan ist inhaltlich... also lehrplankonformer geht's nimmer... - locker jeden Abend drei Häuser dieser Größe voll! Wo heckt der Lehrer? Wo schüchtert die Lehrerin? Liegt's an der Schnittstelle: Theaterpädagogik? Glaube eher nicht.
Massives Unverständnis. Eher wohl: DIE Inszenierung - NICHT für meine Klasse! Wegen Nebel, Pudel, Pimmel und Titten! Fragezeichen? Herrje, willkommen im Leben, Frau Fachkabinett! Wie ernst nehmen Sie heuer ihre adoleszenten Schutzbefohlenen? Vielmehr kleingeistiger Rückzug, das isses! Sonst wäre das Haus voll, jeden Abend!
Hier ist eine obsolete, mithin postkoitale (sic!), Post-Bürgertums-Phantasmagorie am Walten, die sich vor ALLEM sträubt, was aber auch nur im Hauch eines Ansatzes nach "neu" oder "anders" riecht. Motto: "Das gab's hier vor hundert Jahren nicht - so wusste es zumindest die Großmutter zu berichten - das brauchen wir auch jetzt nicht!"
Dies sage ich als gebürtiger Leipziger mit genau DEM familiären Background. Oder eben so:
"You're so painfully transparent, Blackadder!"
(The Blackadder-Series, BBC; 1983-1987)
Ätsche!
April, April!
Dümmlicher kann man weiß Gott mit diesem Haus im Moment nicht umgehen!
Kulanzlos und forderungsdreist.
Schämt euch! Schämt euch ihr Klamottenhelden, die ihr nur beim Abholen eures Mantels das Maul gegenüber der Garderobière aufreißen könnt, sonst schweigt, wenn der Saal voll ist bei der Publikumsdiskussion! Nicht getraut, was, wie? Wie peinlich ist das denn?
Z. B. der hiesige Molière von Kruse wäre Grund genug, sich über die Maßen zu freuen: in gut zwei Stunden ein solches Feuerwerk: dramaturgisch, spielerisch, musikalisch, bühnentechnisch - bezaubernd, wenn man's sehen will!
Um die Inszenierung fangen andere Theater an, uns in Leipzig mittlerweile zu beneiden. Zu recht!
Jegliches hat seine Zeit... deshalb: ein bisschen mehr Respekt, bitte! Von beiden, von allen Seiten!
So groß ist Leipzig nu ooch nich...
Eine Sache aber ist immer nett: Als Besucher ist man irgendwie eingeklemmt zwischen tief atmenden Traditionalisten und feixenden (Berufs)Nonkonformisten. Das hilft beim Bleiben - und beim Gehn.
Gespannt jedoch darf ich verfolgen, wie sich die Schimpfenden, die Echauffierten, die Grauhaarigen sich zunehmend zurückhalten. Herrlich, wie sie ihre Argumente selbst entlarven.
Die Aufgabe des CTs ist schließlich nicht das Auf-die-Bühne-Bringen von bebilderter Lektüre, sondern vielmehr arbeiten Künstler hic et nunc. In einer Welt erfüllt von Massen- und Popkultur. Wahrnehmungsweisen und Situation der Zuschauer sind völlig andere als noch vor 20 oder gar 10 Jahren. Was mal schick und anständig war, ist heute von gestern. Theater muss immer anders sein als es mal war, sonst könnte man es ja rekorden und im Videoregal horten.
Die übliche Differenz der Generationen (Die Alten schimpfen auf die verkommene und dumme, unanständige Jugend - Die Jugend belächelt die altmodischen, pessimistischen, besserwissenden Alten) war auch hier präsent. Das ist doch bezeichnend für die Aufgabe, vor der Hartmann und seine Mannschaft stehen: Ein so interessiertes wie auch differenziertes Publikum ist zu versorgen! Wie soll man es denn allen recht machen? Und vor allem: Soll man überhaupt? Das sind die spannenden fragen, die das CT sich und seinem Publikum stellt. Schließlich polarisieren und provozieren die Centralisten nicht aus Abneigung vor dem älteren Publikum.
Vielmehr ist es auch ein gesellschaftliches Problem, wenn überhaupt Problem, eher: Zustand. Natürlich mag ich meine Großmutter. Aber bin ich auch einer Meinung mit ihr? Wenn wir zusammen fernsehen, können wir uns dann auf ein gemeinsames Programm einigen? Oder können wir gemeinsam ins Theater gehen und beide denselben Spaß an derselben Sache haben? Ist es das, was wir wollen?
Letztendlich ist Hartmanns Motivation keine bösartige, selbst wenn viele Zuschauer ihm genau dies unterstellen. Soll man inszenieren, damit jeder Zuschauer das Drama versteht? Oder soll das Ensemble gemeinsam mit dem Regisseur sich auf die Reise begeben, um herauszufinden, WAS an einem Dramentext für sie und ihr Publikum lohnenswert und interessant wäre, um es lebendig werde zu lassen? Mit welcher Motivation sieht man sich zum fünfzehnten Mal eine Macbeth-Inszenierung an? Will der Zuschauer, was er schon weiß, oder will er eine neue Sicht auf die Dinge?
Unabhängig davon, ob man Hartmann einfach nicht gut findet, oder ob man ihn schon (mehr als) hasst: Ein jeder (Zuschauer, Kritiker etc.) möge doch bitte davon ausgehen, wenn er eine Meinung und eine Liebe zum Theater hat, die er sich, Hartmann gegenüber stehend, zu verteidigen aufgerufen fühlt, dass Hartmann selbst dieselbe Motivation mit ihm teilt. Man unterstelle diesem Künstler doch unbedingt, dass auch er Theater liebt und lebt, dass auch er etwas von Theater versteht!
Fehlt nur noch etwas Faber-Bashing, "Gysis Störtruppen" und etwas "Ihr Ossis seid so undankbar".
Danke. Hochwertig.
Aber zum Thread:
Kann der nicht geschlossen werden? Der Anlass ist ein Jahr alt... hier können im Moment nur indifferente Grabenkämpfe ausgetragen werden.
Demnächst gibt es eine neue Zuschauerkonferenz. Da könnte man es nochmal versuchen. Mit den Argumenten.
da müssen Sie mich dann doch verwechseln.
Zu Ihrem eigentlichen Anliegen: Ich war vor Tagen hier auch verführt, seltsame Sätze zu bilden... aber einen Beitrag wie Nr. 11 kann und sollte man ignorieren.
Bei Ihnen scheint es (nur) die Leidenschaft zu sein. Sie wären wahrscheinlich diskussionsfähig, wenn Sie nicht dumm angemacht werden. Die Diskussion des Pro - und da des Details - wäre das eigentlich interessante an der Leipziger Situation.
ich schaue mir auch lieber das original in berlin an als das castorf-plagiat in leipzig.
übrigens werden ihre witze nicht besser mit der zeit.
nix ist verwerflich. wollte nur auf die etwas wackelige Verbindung zwischen dem 'Gesicht des Ensembles' und 'Sophie Rois ist Medea' hingewiesen haben. dann bis gleich nach MEDEA, "Frank"!