Die Dreigroschenoper - Antú Romero Nunes zeigt Brecht/Weills Gassenhauer am Thalia Theater als Spiel mit dem V-Effekt
Und Olaf Scholz lächelt
von Falk Schreiber
Hamburg, 13. September 2015. Auftritt der Autor. Jörg Pohl schlappt als Brecht über Florian Lösches Bühne: Blaumann, Schiebermütze, Nickelbrille. Und baut aus dem Geist des epischen Theaters eine Szene. Das Büro Peachums, eine leere Bühne, die Pohl mit Requisiten vollschwadroniert, ein Stuhl, ein Schrank. Und ebenso verwandelt sich Brecht in Peachum, der einen armseligen Bittsteller (Paul Schröder) in die Kunst des Bettelns einweist: "So, so, und gleich nochmal von vorn". Eine Szene wird geprobt, und genau so legt Antú Romero Nunes auch seine Neuinszenierung von Brecht / Weills Abonnentenschmeichler "Dreigroschenoper" am Hamburger Thalia Theater an: als große, kluge Probe.
Will sagen: Die Darsteller treten immer wieder aus ihren Figuren heraus, kommentieren das Geschehene als Theater, versuchen die Szene noch einmal aus einer anderen Perspektive. "Ein durchaus probates Mittel, um die Bedeutung eines Vorgangs für eine Szene herauszuschälen, ist, diesen Vorgang ein zweites Mal zu wiederholen", stellt Thomas Niehaus als Polizeichef Brown fest. Und dann wiederholt er die Szene ein zweites Mal, natürlich. Verfremdungseffekt galore, das ist kein neuer Zugriff auf ein Stück, doch die Konsequenz, mit der Nunes die eigentlich längst ausinszenierte "Dreigroschenoper" verfremdet, überzeugt dann doch. "Langsam begreifen wir, dass der V-Effekt kein Energiegetränk ist", da lacht das Publikum, aber es lacht verstehend.
Mit reitenden Boten
Indem er auf die Radikalität des V-Effekts baut, rettet sich der Regisseur freilich davor, interpretierendes Regietheater abzuliefern. Interpretation führt einen bei der "Dreigroschenoper" gerne auf ausgetretene Holzwege, einen Satz wie "Was ist der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?" beispielsweise zur Analyse der Finanzkrise zu nutzen, ist auf eine so läppische Weise naheliegend, dass es erfrischt, wie deutungsfrei Nunes sich auf die Räuberpistole, die der "Dreigroschenoper" zu Grunde liegt, einlässt. Beziehungsweise, wie er einen in die vorausgehenden Diskussionen einbezieht.
Kurz vor Schluss bricht Schröder das Spiel ab, überlegt, dass die Brecht-Moral zutiefst verbraucht sei, und dass man den Deus ex Machina eben nicht mit Brecht ironisch einsetzen sollte, sondern ganz konkret, als reitenden Boten, der den Gangster Mackie vor dem Galgen rettet. Was dann auch tatsächlich so durchgespielt wird, mit echtem Pferd, das fröhlich auf die Bühne kackt. Und das Stück in den letzten Minuten ins Biedermeier abstürzen lässt – Regieentscheidungen haben Folgen, das lernt man ebenfalls aus dieser "Dreigroschenoper", und unter Umständen sind das Folgen, mit denen man nicht unbedingt einverstanden sein muss.
Platz für Solonummern
Johannes Hofmann derweil entgassenhauert die Musik Kurt Weills sanft, also: Die größten Hits der Vorlage ("Die Moritat von Mackie Messer", "Die Seeräuber-Jenny") werden nur kurz angespielt, andere angetäuscht ("Lass uns gleich das Kanonenlied singen!" – "Nö!"), außerdem lappen die Arrangements mal Richtung HipHop, mal Richtung Easy Listening, mal Richtung Balkanpop. Was einem ebenfalls das Gefühl gibt, sich hier nicht unter Niveau zu amüsieren und trotzdem noch ein, zwei Ohrwürmer mitzunehmen. Bloß dass der Musikeinsatz dann mit dem Gagasatz "Das wichtigste an den Songs ist, dass der Zeigende gezeigt wird, wie er zeigt" kommentiert werden muss, ist eine Postdramatik-Karikatur für ganz, ganz Arme. Ein billiger Lacher, über dem Nunes eigentlich stehen sollte.
Aber das ist lässlich, zumal die Performance einiges wieder auffängt. Mit campy Solonummern etwa: Sven Schelker gibt den Mackie mit massiver Körperlichkeit (und einem St.-Sebastian-Zitat von solcher Schönheit, dass es einem fast den Atem nimmt), Victoria Trautmannsdorff beweist als Frau Peachum ein Talent für schräg-aggressive Frauenfiguren, das zuletzt in der Rollenkonvention der Verhärmten verschüttet schien, und Katharina Marie Schubert keift sich als Polly Peachum durch die Handlung und lässt ansonsten aufs Reizendste den Unterhemdträger über die Schulter rutschen (über die toll proletarischen Kostüme Victoria Behrs sollte man übrigens auch noch reden). Alles in allem aber pflegt Nunes seinen Ruf als Ensembleregisseur, der all seinen Schauspielern ihren Raum lässt. Am Thalia wird das dankend angenommen: Der Abend ist nicht zuletzt ein darstellerischer Glücksfall.
Nachdenken übers Theater
Vielleicht kann man ein Stück wie die "Dreigroschenoper" nur noch so inszenieren – als Nachdenken über ein Theater, das schon bis zum Erbrechen durchdacht wurde. Was die Aufführung freilich weit aus der Realität des Jahres 2015 entfernt, nur in Passagen wie dem "Ersten Dreigroschenfinale" scheint etwas durch, das man auf die Gegenwart anwenden könnte. "Ein guter Mensch sein? Ja, wer wär's nicht gerne?", singt Pohl als Peachum da. "Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so", und wahrscheinlich denkt Nunes hier an gutwillig sozialdemokratische Versuche, die Welt zu einem halbwegs erträglichen Ort zu machen.
Zumindest gab er das dem Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz vor der Premiere mit auf den Weg: "Ich wünsche Ihnen dieses Stück als großes Glück. Und auch als Strafe." Scholz aber lächelte – mit den Verhältnissen kennt sich der Politikprofi immer noch am besten aus, und bevor so jemand sich von der "Dreigroschenoper" strafen lässt, muss schon ein bisschen mehr passieren als nur eine hochintelligente postdramatische Neuauflage des V-Effekts.
Die Dreigroschenoper
von Bertolt Brecht, Musik von Kurt Weill
Regie: Antú Romero Nunes, Musikalische Leitung: Johannes Hofmann, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Victoria Behr, Dramaturgie: Matthias Günther
Mit: Franziska Hartmann, Thomas Niehaus, Jörg Pohl, Sven Schelker, Paul Schröder, Katharina Marie Schubert, Anna-Maria Torkel, Victoria Trauttmansdorff. Musiker: Carolina Bigge, Anna Katharina Bauer, Eva Barta, Kerstin Sund, Natascha Protze, Jonathan Krause, Anita Wälti, Chris Lüers.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.thalia-theater.de
Kritikenrundschau
An diesem Abend gehe es "ums Ganze", um "Mensch und Politik, analysiert mit den Mitteln des epischen Theaters", so ein angetaner Werner Theurich auf Spiegel online (13.9.2015). Die Metaebene "entpuppte sich im Laufe des Abends als tragfähiger roter Faden". "Der zunächst oberlehrerhaft anmutenden Erklärbär-Haltung nahm Nunes durch den Sprach-Gestus und die komödiantische Kompetenz der Akteure die pädagogische Spitze". Mit "fast rührender Trotzköpfigkeit" verweigere er "jedwede wohlfeile Aktualisierung" des betagten Brecht-Stücks. "Man lacht als Zuschauer, aber man lacht mit Niveau. (...) Das gehört zu den Wundern dieser Inszenierung: Durch die dauernde Ansprache im Volkshochschul-Teil der Aktion darf man die Kulinarik des Theaters genießen, bekommt aber anschließend die Absolution der Distanz gleich zurück." Auch die Musik setzte Theurich "in Erstaunen", das war "mehr als nur Begleitung", "auch Stützkorsett für die Inszenierung."
Frappierend und erfrischend modern findet Ulrike Cordes vom Hamburger Abendblatt (online 14.9.2015) Nunes' Konzept. Dabei bemühe er sich "gar nicht um inhaltliche Aktualisierung, sondern spielt höchst lustvoll und unterhaltsam mit Brechts Theorien zum 'Epischen Theater'." "Äußere Kargheit" wechsele sich dabei "mit prallen Szenen" ab. "Wie neu gesehen" wirke diese "Dreigroschenoper" auf den Zuschauer, "jedoch wohl mehr als gekonnt freches Spiel denn als politischer Sprengstoff. Hinreißend singen und sprechen die spielfreudigen Darsteller ihre berühmten Liedertexte" und die Musiker*innen träfen "einen zündend schrägen Ton."
In der Printausgabe des Hamburger Abendblatts (14.9.2015) amüsiert sich Armgard Seegers über einen angemessen verfremdeten "reinen" Brecht, der "sich viel verspielter gibt, als der heute oft schrecklich oberlehrerhaft wirkende Autor es sich je erdachte." Ideenreich, frisch und modern der Zugriff, getragen von einem "glänzenden Ensemble". Winziger Einwand: Im Finale erstarrten "Belehrung und Unterhaltung, die ja schon bei Brecht auf Kriegsfuß stehen", zu einem "Genrebild".
"Was für ein Fest! Und das ganz ohne Ausstattungsplunder, ohne die übliche Bettlerfolklore, ohne Spelunkenschick, die sündigen Kleidchen der Prostituierten." So jubelt Heide Soltau im NDR (13.9.2015). Nunes treibe Brechts V-Effekt "auf die Spitze", enthalte sich "platter Kommentare" oder etwaiger "Bezüge zur Gegenwart" und gewinne "eine wunderbare Leichtigkeit".
Nunes sei nichts eingefallen zu Brecht, bis auf "altbekannte Regie-Mätzchen“, wettert dagegen eine Kurzkritik unter dem Autorenkürzel stg (Stefan Grund) in der Welt (14.9.2015). Das Schauspielkollektiv wechsle "zwischen Deklamation und Geschrei", der Stücktext sei u.a. mit Sekundärtexten zum V-Effekt und zur Theorie des epischen Theaters angereichert ("Schön für alle, die sie bisher nicht kannten."). Im Ganzen sieht der Kritiker hier den "Tatbestand der Brechtquälerei" erfüllt.
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Grüße
jnm)
Frau Cordes ist keine Mitarbeiterin des Abendblatts. War sie auch noch nie. Sie schreibt für dpa. Und diese Kritik hat das Abendblatt online gestellt. Alle klar?