Tschewengur – Frank Castorf debütiert mit Andrej Platonows Revolutionsroman als Regisseur in der westdeutschen Wirtschaftswundermetropole Stuttgart
Lokomotive der Geschichte
von Verena Großkreutz
Stuttgart, 22. Oktober 2015. Eklig: Matti Krause als fette Kakerlake fällt über Johann Jürgens' Bein her, haut seine Zähne ins Gliedmaß, das eh schon ziemlich blutig ist, auch weil es zuvor (oder war es danach?) von Astrid Meyerfeldts Messer operativ bearbeitet wurde. Jedenfalls hat Meyerfeldt Blutspritzer im Gesicht. Und wieder einmal an diesem Abend wurde ganz real und bildlich der sprichwörtliche Finger in die Wunde gelegt: in die Wunde der "Revolution", des "Kommunismus" oder was sonst noch so zu den Themen passt, die Andrej Platonows Roman "Tschewengur" aufwirft.
Den Schwaben die Revolution erklären
Da lässt sich Frank Castorf auch in Stuttgart nicht lumpen: die Bühne zu einer großen Textbaustelle zu machen, dort immer wieder – peng peng peng – mit Assoziationen um sich zu schießen. Allein schon die finale, viertelstündige Performance in Gestalt eines zugespielten Videofilms, in dem alle Protagonisten des Abends in einem Maisfeld minutiös den Tod finden oder suchen und sich selbst oder gegenseitig mit sehr viel Theaterblut garnieren, kann ein "Säuberungs"-Massaker meinen, Shakespeare, aber auch die ganze Welt. Wir merken's ja gerade wieder, wie dünn der Boden der Humanität ist.
Castorf inszeniert erstmals in Stuttgart. Er hat sich wieder einmal einen dicken russischen Roman vorgenommen, eines der wichtigsten Werke der frühen russisch-sowjetischen Prosa über die Revolution 1917: Andrei Platonows Roman "Tschewengur", geschrieben in den 1920er Jahren, wegen seiner Sozialismuskritik unterdrückt und jahrzehntelang totgeschwiegen, erstmals als Ganzes 1972 in Paris erschienen, in Russland dann erst in Glasnost-Zeiten.
Nun nimmt ihn Castorf und erklärt den Schwaben die Revolution – im Geiste Platonows natürlich, der ein Schriftsteller des Mitgefühls war: resignativ, melancholisch, mit Vorliebe für düster-groteske Gegenwartsanalysen – in einer Sprache, die Parteijargon, Wissenschaftsterminologie und poetische Metaphern miteinander vermischt. Im Roman geht's etwa um einen Fischer, der sich aus "Neugierde auf den Tod" selbst ertränkt, und um einen Don Quijote der Revolution, der sein Pferd "Proletarische Kraft" nennt und Rosa Luxemburg verehrt und mit des Fischers Sohn Sascha auszieht, um in einem Provinz-Kaff namens Tschewengur "den Kommunismus unter dem einfachen und besseren Volk zu suchen". Aber das erledigen andere: Die Einführung des Kommunismus, die brutale Liquidierung und Vertreibung der "Bourgeoisie". Das mit dem kommunistischen Paradies, in dem Sorgen, Krankheiten, Tod keinen Platz mehr haben sollen, funktioniert dann so gar nicht. Am Ende wird Tschewengur von namenlosen feindlichen Truppen vernichtet und das "Ende der Geschichte" ist eingetreten. Finster, finster.
Im Innern des Monuments
Aber so schön nacheinander erzählt Castorf das natürlich nicht. Beinahe arios wird sich ständig solistisch brüllend aufgeregt – ob Meyerfeldt sich über den bis zur Verwesung gehenden Verfall des menschlichen Körpers echauffiert, ob Matti Krause mit hochgetunter Stimme den beobachteten Geschlechtsverkehr der Eltern anprangert. Ob vom Alkoholismus unter Künstlern, von der Hungersnot und der Folter durch die Knüppel der Staatsmacht die Rede ist oder vom Weltall als einer laufenden Frau. Oder vom Bauern, der das Pflügen aufgegeben hat, um sich nun ganz konkret vom Erdreich zu ernähren: Andreas Leupold sieht so verlehmt aus, als hätte er mehrere Tage kopfüber in einem Acker gesteckt.
Aleksandar Denić hat für den Abend ein beeindruckendes Bühnenbild zusammenzimmern lassen: Auf der Drehbühne thront ein mächtiges Monument – zusammengesetzt aus einer leicht derangierten Windmühle (wegen des Don Quijotes der Revolution), ärmlichen Bretterverschlägen als Volksbehausungen, einem Stacheldrahtzahn für den Gulag und dem Rumpf einer Dampflok (Revolutionen sind ja schließlich die Lokomotive der Geschichte, so Marx). Die Lok lässt gelegentlich die grellen Scheinwerfer blinken, und aus ihrem Schornstein – einer Kreuzung aus Zwiebelturm und orthodoxem Kreuz – entweicht Rauch, was an Krematorien erinnert. Aus dem Cola-Automaten bedient man sich gern, und mit dem schrottigen Auto lässt sich Bewegung vortäuschen. Wobei, so heißt es im Stück, Bewegung eine Sache der Masse sei. Aber gespielt wird natürlich vor allem im Innern des Monuments, und Kameraleute sorgen für die Übertragung auf die Videoleinwände.
Musikalischer Subtext
Weil der ganze erste Teil des Abends leise mit finsteren Passagen aus Schostakowitsch-Sinfonien unterlegt ist, liegt ein bisschen Oper in der Luft. Und tatsächlich hört man gelegentlich melancholische russische Weisen aus dem Munde der Protagonistinnen. Und ja, auch witzig: das groteske Tänzchen im Tütü flankiert von Säbeltanz und Stechschritt zu Schostakowitschs Suite aus dem Ballett "Der Bolzen", einer Satire auf die proletarische Revolution und seinerzeit von der Zensur als "gesellschaftlich unbrauchbar" eingestuft – wie Platonows Roman. Es ist gerade dieser musikalische Subtext, der den Abend stark macht. Schließlich war Schostakowitsch ein Meister in der musikalische Gratwanderung zwischen äußerem Schein und eigentlich Gemeintem, was ihn überleben ließ.
Aber wie reagiert Stuttgart auf Castorfs ausuferndes Assoziationstheater? Nach der Pause ist ein Drittel der Zuschauer verschwunden. Doch die, die bis um halb eins ausharren, jubeln am Ende uneingeschränkt. Gefällt's? Versteht man's? Ist es zu lang? Wie immer bei Castorf sind das nicht die zentralen Fragen. Sein Theater denkt. Und deshalb ist es.
Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen
nach dem Roman von Andrej Platonow
aus dem Russischen von Renate Reschke
Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Licht: Felix Dreyer, Video und Live-Schnitt: David Wesemann, Sound Design: Carsten Bänfer, Dramaturgie: Jan Hein, Carmen Wolfram, Produktionsleitung: Sebastian Klink
Mit: Sandra Gerling, Johann Jürgens, Katharina Knap, Horst Kotterba, Matti Krause, Manja Kuhl, Andreas Leupold, Astrid Meyerfeldt, Wolfgang Michalek, Hanna Plaß, Tobias Dusche, Daniel Keller, Philip Roscher, Philipp Reineboth.
Dauer: 5 Stunden, 30 Minuten, eine Pause
www.staatstheater-stuttgart.de
"Castorf hat den Roman durchpflügt wie Mütterchen Erde und wirft die losen Klumpen auf Aleksandar Denićs Abenteuerspielplatzbühne", beschreibt Jan Küveler auf welt.de die Inszenierung und wendet sich wie folgt an seine Leserinnen und Leser: "Damit Sie da einigermaßen durchsteigen, folgt eine Kritik in Form eines revolutionären Registers, eines kommunistisches Katalogs oder meinetwegen eines bolschewistischen Breviers. Das ordnende Prinzip ist leider nicht das kyrillische Alphabet, sondern das lateinische. Das ist eine grobe Verfehlung und wird bei der nächsten Selbstkritik entsprechend geahndet." Unter Stichworten wie "Utopie", "Bourgeois", "Netzstrumpfhosen" oder "Lokomotive" wird dann der Abend höchst amüsant abgehandelt.
"Warum aber ist die Revolution in Stuttgart so langweilig?" fragt Christian Gampert in der Sendung "Kultur heute" beim Deutschlandfunk (23. 10.2015) und antwortet gleich selbst: "weil der Regisseur Frank Castorf heißt". Über weite Strecken bleibt dem Kritiker unklar, worum es in dessen Inszenierung überhaupt geht. Gampert sieht "große, aber platte Bilder" zum Komplex "Russische Revolution", wähnt sich in einem "pseudolinken Disneyland" mit "Körper und Gekreische". Castorf sei die Mitteilungsfunktion, die Theater normalerweise habe, wohl völlig abhandengekommen. "Offenbar reicht es ihm aus, alle möglichen Zitate aneinanderzureihen, Roadmovie, Melodram, Kitsch- und Marschmusik, Pantomime, Ballett, sinnfreies Gestrampel. Russische Stummfilme werden mit dem Geschehen auf der Bühne überblendet, überhaupt wird ja alles abgefilmt, und für jeden gigantomanen Sound-, Licht- oder Videoeffekt stehen im Ausbeutungsbetrieb Theater 50 Technik-Sklaven bereit, wenn der Meister nur mit dem Finger zuckt."
Gegen Ende zerfasere der Abend, findet Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (24.10.2015). Vorher sei man aber "immer wieder ganz nah an einem Roman, den man wegen seiner lyrischen Sprachmacht gelesen haben sollte, und nicht selten wirkt er, als würden heutige, ganz aktuelle Problemlagen kommentiert." Castorf akzentuiere "vor allem die Macht sozialutopischer Ideengebäude, die dem Wohl des Volkes dienen sollen, tatsächlich aber nur Diktaturen fördern und massenhaft Armut erzeugen. Das ist ja auch heute ein Grund für die Flüchtlingsströme aus Bürgerkriegsländern."
"Ein starker Abend zur Geschichte der Menschheit, schreibt Otto Paul Burkhardt in der Südwest Presse (24.10.2015). Allein für einige Momente, die das spektakuläre Bühnen-Panorama von Aleksandar Denic biete, lohne sich der Besuch der Aufführung. Doch auch die Schauspieler, "allen voran Wolfgang Michalek und Astrid Meyerfeldt, zeigen eine beeindruckende Ensembleleistung und steigern sich immer wieder in den Castorf-eigenen, fast hysterischen Tonfall, den die Regie oft ironisch bricht - etwa, wenn Meyerfeldt brüllt: 'Ich akzeptiere keinen altgewordenen avantgardistischen Regisseur mehr!'"
Sie werde nie wieder eine Castorf-Inszenierung besuchen, gibt Elske Brault in der Sendung "Fazit" beim Deutschlandradio Kultur (23.10.2015) zu Protokoll. "Wahrscheinlich ist das, was wir da zu sehen bekommen, tatsächlich der innere Kosmos von Frank Castorf. Der würde immer noch gern an die schicken jungen Frauen rankommen, spürt aber, dass er für sie ein sabbernder Greis ist. Das verletzt ihn und macht ihn bluten, innerlich. Doch während so eines Theaterabends dreht er (Video) das Innere nach außen. Und alle machen mit, werden angesteckt von dieser ungeheuren Energie, mit der Castorf fünf Stunden lang mit größtenteils unverständlichen Texten auf die Zuschauer eindrischt. Es ist ja nicht Castorfs Schuld, wenn der Zuschauer für diese Texte zu blöd ist. Die Schauspieler können sie auswendig lernen, wirklich eine Glanzleistung des Ensembles übrigens, da muss das Publikum sie doch verstehen können!" Fazit: "Die Effekte erschlagen sich alle gegenseitig, heraus kommt ein Einheitsbrei von laut und permanent und kalauernd und bunt und angestrengt."
Von "tabulosem Hochenergie-Theater" berichtet rm in der Stuttgarter Zeitung (24.10.2015). Natürlich trage "dieses planvoll entfesselte Bombardement mit Szenen zur Überforderung der Zuschauer bei. Zur Pause nach 140 Minuten verlässt ein Drittel des Publikums den Saal. Teil eins ist vorüber, ein düsteres Nachtstück voller Sterben und Tod, das mit melancholischem Ingrimm auf den Skandal der Endlichkeit des Lebens hinweist. Castorf variiert diese Szenen endlos und stellt eine Dauerdepression im Dämmerlicht her, die alles vermissen lässt, was Teil zwei seiner Seelen-Expedition auszeichnet: Rhythmus, Frische, Humor und zumindest relative Klarheit."
"Wissenschaft trifft Religion, Bauernhof trifft Gulag auf Aleksandar Denics Bühne", schreibt Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (25.10.2015). Dieser "verschachtelte Ort" passe "hervorragend" zur Struktur von Platonovs Roman. Dass die Schauspieler hier permanent von Livekameras und Mikrofonen verfolgt würden, ergebe tatsächlich einen Sinn: "Die Figuren stehen unter staatsrevolutionärer Beobachtung – und jeder ist bemüht, seine Rolle in dieser neuen Gesellschaft zu finden, beobachtet sich währenddessen auf der Leinwand als Denunziant seiner selbst." Castorf zeige "die Menschen in ihrer Endlichkeit, ihrer Beschränktheit" und mache sich "über ihre Weltverbesserungsversuche lustig." Es sei "ein Abend zwischen Lenin und Landlust, zwischen Stalin und Stuss. Viele Späße, aber noch mehr Leid." So dominiere "ein todernster Grundton". Castorf zeige in diesem "Apokalypsentheater" nicht, "wie die Menschen sein sollen, sondern wie sie sein wollen. Und wie sie tatsächlich sind: widersprüchlich."
Einen "echten Trüffel" habe Castrof mit Platonows "Tschewengur" ausgegraben, freut sich Kerstin Holm in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (26.10.2015), und "der Trash-Berserker" transponiere die Figuren zuverlässig "in die Steppe der Posthistorie und verurteilt sie zu überdrehtem Dauerparlando." Castorfs "Altmännerobszönitäten, die leerlaufende Berliner Hysterie" machten dabei jedoch "alle Jenseitserwartungen unglaubwürdig, denen Platonows Bolschewiken anhängen – wie heute junge Islamisten", so Holm. Zwar funkelten zwischendurch "immer wieder Perlen", aber im Endeffekt werde das Publikum "von Castorfs ausgefranstem Dauerhochdruck-Exerzitium einfach überfahren".
"Läge irgendwo der Kommunismus begraben, sähe der Friedhof wohl ähnlich aus wie das, was sich zur Premiere von Frank Castorfs Inszenierung 'Tschewengur' auf der Bühne des Stuttgarter Schauspiels drehte", schreibt Judith Engel in der taz (26.10.15). Man könne sich angesichts der deutlichen historischen Verortung fragen, "warum in Zeiten, in denen aktuell eher der Kapitalismus heiß läuft und zu entgleisen droht, gerade eine Erzählung über das Scheitern des Kommunismus von Bedeutung sein sollte". Und lässt Castorf selbst antworten: "'Unsere Gesellschaft ist vielleicht frei, vielleicht gleich. Aber sie ist eins ganz bestimmt nicht: brüderlich. Und deshalb interessiere ich mich für die Autoren, die für diese Werte verreckt sind', antwortet Frank Castorf, (…) in einem Interview mit den Stuttgarter Nachrichten." Zurück zu Tschewengur, das "eine lange Wanderung statt einer rasanten Bahnfahrt" sei – "aber wer sie mit offenem Herzen bestreitet (…) und die Erwartung einer Handlung ablegt, kann in der Inszenierung von Platonovs sprachgewaltiger Verhandlung des Todes die gesammelte Weisheit des Lebens erfahren."
Bernd Noack ist, wie abzusehen war, angeödet von Castorf. In der Neuen Zürcher Zeitung (29.10.2015) schreibt er: Castorf illustriere den "hinlänglich bekannten Niedergang" müde, kleistere "die verlorenen Illusionen" am Ende ziemlich "hilflos theaterblutrot zu", luge ein wenig schelmisch hinter Karikaturen seiner eigenen Kunst hervor und wage einen sehr überflüssigen Ausfallschritt ins Ballettfach. Die Stuttgarter Schauspieler habe Castorf "ordentlich chaotisch auf hochtourige Volksbühnen-Linie" gebracht ...
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ich finde auch nicht, dass die länge problematisch, sonder die schwäche.
Beim Kauf des Programmheftes kam die zu erwartende Auskunft: Dauer ca. 5 Stunden (bis max. halb 1), nach gut 2 Stunden eine Pause. Diese haben wir genutzt und entsprechend verlängert.
Das Bühnenbild war auch zu erwarten: diesmal freilich eine Windmühle mit Rosa Luxemburg als eine Art Wappen oben angebracht. Die meiste Zeit verbrachten die SchauspielerInnnen mit vollem Körpereinsatz in diesem Räumen, von schwarzgekleideten Männern auf Schritt und Tritt verfolgt, die ihren Radau auf eine Leinwand brachten. (Eine Unsitte im Theater, das sich immer mehr dem Film annähert, ich habe die meiste Zeit auf diese Leinwand gestarrt.) Mein Pech war die erste Reihe, in der ich saß. Dass die SchauspielerInnen gelegentlich vor mir herum gerannt sind, nicht so schlimm, aber wenn eine dann mit voller Lautstärke ins Publikum geschrien hat, so ist die Konsequenz, dass man auch auf solche Veranstaltungen unbedingt Watte für die Ohren mitnehmen muss. (Wenn man sich das denn antun will.)
Am Montag waren wir im Schauspielhaus zu einem einführenden Vortrag über Platonow und seinen Roman, ein interessanter und guter Vortrag; nur konnte – nicht nur ich – keinen Zusammenhang zwischen Roman und Spektakel auf der Bühne erkennen. Wer die Verhunzung von Thomas Manns Zauberberg an gleicher Stelle erlebt hat, muss sich nicht wundern.
Nochmals zum Bühnenbild bzw. Aufbau: diesmal in Form einer Windmühle mit kleinen Zimmerchen darin, wo das meiste statt fand. Die SchauspielerInnen wurden permanent von schwarz gekleideten Leuten mit Video-Kameras verfolgt, die das Geschehen hautnah auf eine Leinwand übertrugen.
Es wurde viel geschwätzt, und natürlich, wer viel schwätzt sagt auch mal, wie eine stehen gebliebene Uhr zweimal am Tag stimmt, etwas richtiges oder interessantes. Sonst eben viel Radau, Groteske, Spektakel, meistens sinnfrei, aber sicher undifferenziert antikommunistisch.
Mehr denn je ist es eine Frage, was die Leute an diesem Regisseur (und seinem Stuttgarter Pendant) finden, der sie, siehe auch die Interviews, nicht sehr ernst nimmt? Er liefert ein buntes Panoptikum an Formen, Farben, Aktion und Wortkaskaden, aus dem man wie aus abstrakten Bildern dann etwas heraus- oder hineinlesen kann. Und an diese wahlweise sinnreduzierten oder aufgeblähten Häppchen sind wir ja auch von anderen Künsten her gewöhnt.
Das Stuttgarter Theater, d.h. dieses Haus, ist ein Ort, in dem man grüne Kulturpolitik studieren kann. Dass dies nur unter Kopfschmerzen und gewissen finanziellen Einbußen möglich ist, nun ja. Es gibt, nicht nur wegen dieses Hauses, inzwischen bei Leuten, die niemals in ihrem Leben CDU gewählt haben, eine gewisse nostalgische Verklärung, was deren Kulturpolitik angeht. Der grüne Postmodernismus auf Bühne und übrigens auch dahinter, wovon die KollegInnen der benachbarten Kulturinstitution der Staatsgalerie ein Lied singen können, hier sehen wir ihn in voller Pracht. Wir vermissen den Kommunismus wie ihn Karl Kraus vermissen würde, als Drohung, die sie im Zaume hält. Diese fehlt schrecklich.
Das sich der Saal leerte ist auch dem Umstand des Durchschnittsalters des Publikums und den Fahrzeiten der öffentlichen Verkehrsmittel geschuldet...´
Auch Gedanken dürfen wie Drehbühnen kreisen...
Unbedingt ansehen und selbst eine Einschätzung finden!
Ich habe Bilder einer wuchtige Auseinandersetzung auf Tod und Leben um rote Theorie und Praxis gesehen, in der sich Komik und Tragik mit einem High Five begegnen. Zum Brüllen, zum Schaudern, aber auch zum Verzweifeln tief. Und bin begeistert gewesen wie das verbliebene Publikum mehrheitlich. Große Klasse
ein trauriges Stück - das war das Geleit für die schon erkaltete Leiche
Nechvorajkos (...). Dvanov bedauerte Nechvorajko, denn er wurde nicht
von Vater und Mutter beweint, sondern nur von der Musik, und die
Menschen folgten ihm mit ausdruckslosen Gesichtern, selbst zum
unausweichlichen Tod des Revolutionsalltags bereit." (S.6) //
Ihre Größe erreicht diese Aufführung im Sterben - und das verwundert
nicht, Castorf hatte ja in der Zeitung über Platonov und den Tod
gesprochen, nur ist das gegen Mitternacht bereits vergessen. Oder nicht
gleich zu erinnern, denn er inszeniert ihn nicht als "Schweinerei".
Die große Sterbeszene im Maisfeld, eine Stummfilmszene mit
(nichtrevolutionärer) Musik, wird von den Protagonisten mit großer
Innigkeit gespielt, nicht ausdruckslos, sie drückt mehr aus als
Blutketchupflaschen und zeigt in den Gesichtern des Todes das
individuelle, Sterben, der Liebe wesensverwandt, nicht das Töten oder
einen Hass.
Es gelingt die völlige Ausblendung der physischen Todesursache - sie ist
für die Dramaturgie des Abends so unwichtig wie der physische Tod für
die offenen Herzen der Revolutionäre.
Man glaubt das wirklich.
Feine Ironie aber, dass der Tod nicht live stattfinden könne, weder im
Repertoirebetrieb des Theaters noch des Lebens. Vorproduziert schon aus
metaphysischen Gründen. Unerträglich wäre er in jener Form intimer
Hyperauthentizität geworden, wie in dieser Inszenierung und auf dieser
Bühne vorher durch Livekameras und Tonangeln vermittelt.
Solche Technik ist weniger eine Schwäche als eine Qualität in der
Arbeitsteilung, als Konsequenz aus der Verlagerung der revolutionierten
Welt in den Mikrokosmos eines grandiosen Bühnenbildes. Grandios
verdichtet es ja Symbole und Chiffren der Sowjetrevolution, ohne deren
spätere Staatstotalitarismen, aber mit Sicht auf Löcher im Stacheldraht,
auf Holzgerippe unter dem Lokomotivstahl und das agrikulturierte, nicht
industrierevolutionäre Fruchtland der russischen Revolution.
In Stuttgart hat man Handkamerabilder oft gesehen, zuletzt in der
geistesverwandten Hartmann-Inszenierung von "Im Stein" , aber mehr noch
bei Castorf transportieren sie diverse große Momente im Detail,
irrlichternde Augen und Blicke buchstäblich, in denen die Spieler
mimisch und subtil Lebensrealität definieren und die Differenzierung
bieten, die ihrem in der Totale notgedrungen grellen und lauten Spiel
fehlen. Letzteres für Unsicherheit der Schauspieler durch Castorfs Stil
zu halten, dürfte eine Fehlprojektion sein, denn in ihren Anforderungen
unterscheidet sich diese Spielweise nur unwesentlich vom sonst in
Stuttgart Üblichen. Keinerlei Schwächen also, allenfalls (intendierte)
Beschränkungen der darstellerischen Möglichkeiten und Nivellierung
individueller Stärken. Es ist ein Theaterstil, der sich nicht für
Individualismen interessiert - wohl aber für ihre mimische Essenz:
siehe große Sterbeszene.
Inszenierung das Problem der Latenz, des sich Versetzens und
gegenseitigen Überholens von Wort und Bild in Ungleichzeitig, nämlich
als einen komischen V-Effekt zur Unterstützung von Knaps, Plass' oder
Meyerfeldts Sprachvirtuosität; komisch ist das auch durch die Ausnutzung
des magischen Trickqualität des Live-Video auf der Bühne, durch
fokussierende Verdopplung die Ebene des live Gefilmten zur relativ
realeren als die seiner Wiedergabe zu erheben. Auch wenn alles nur
Theater wäre.)
Größe (zumindest) der Erkenntnis dann auch im postmortal verklärten
Schlussbild der Aufführung, als "Platonov" Andreas Leupold fast
unbeholfen kunstlos einige Sätze vorbringt, die (ohne es zu sein) wie
der Epilog des Romans wirken. Sie können das Spiel nicht szenisch
abschließen, und der Abend endet in einer bloßen, in ihrer Lieblosigkeit
rührenden Bühnenkonzession an den Tod, pro forma ernstgenommen.
Auf ähnliche Weise hatte der Beginn der Inszenierung durch
Rahmenhandlung mit Vorstellung des Autors auf dem Theater und durch
Ansätze klarer Kapitelgliederung den Anschein oder das Versprechen
formaler Strenge (oder des Respekts vor einem Autor und einem Buch)
erweckt, ebenso das durch die Pause geteilte und verdoppelte
Pferdeballett im Entr'acte, das stilgetreu mit den typischen Mitteln der
Sowjet-Groteske arbeitet. -
Das dichte Bühnenbild birgt eine Gefahr, gerade die der räumlichen
Verdichtung. Es wirkt dominant und beengend, und die pragmatische
Bühnenkunst Castorfs wie seiner Klangregie liegt nun darin, großräumige,
durch bisweilen episch leere Adagio-Flächen von Sowjetsinfonik als
background soundtracks den Bühnenraum erweitern zu lassen; sogar die
Einbindung melodramatischen Steppendramen-Fremdmaterials erscheint erst
hierdurch konsequent. Die Musik jedenfalls ergänzt hier als
Antagonistin die Bühnenarchitektur und ist (anders als bei Sebastian
Hartmann) nie Vehikel von Überwältigungsästhetik. -
Es kann dem Theater nicht darum gehen, Sprache 1:1 durch Sprache
auszudrücken oder sie bloß aufzuführen - und selbst bei der Inszenierung
praktisch unbekannter, "ausgegrabener", verheißungsvoller Texte gilt
keine - um eine dämliche Kritik zu paraphrasieren - "Mitteilungspflicht".
Ein Missverständnis wäre es also, Castorfs Platonov auf der Ebene seiner
Sprache begegnen zu wollen, trotz der immer wieder bewundernswerten und
klugen Sprachfertigkeit einiger DarstellerInnen. Viel Sprache füllt hier
die Szene, aber sie klingt weder fremd noch nach Platonov: seine steht
ja auf dem Papier manchmal in herrlicher Leere, wie selbst in die Steppe
geschrieben. Joseph Brodskys Vortragstext von 1984 im Programmheft: "Man
findet sich eingesperrt, ausgesetzt, geblendet durch die übergroße Nähe
zu der Bedeutungslosigkeit der Erscheinungen (...) und man begreift, daß
man sich durch die eigene sprachliche Nachlässigkeit, durch zu großes
Vertrauen auf das eigene Gehör und auf die Worte selbst in diese
mißliche Lage gebracht hat."
Auch Castorf weiß das, als Leser: "diese Experimente am offenen Herzen
... in den Sprachbildern", den "anthropomorphen Grundgedanken, dass eben
Menschliches in den toten Gegenständen steckt", "diese Verdichtung der
Sprache, die sich lyrisch geradezu herausquetscht (...) ist eine
Sprache, die man heute leider nirgendwo lesen kann" sagt er im Interview
(StN), als Regisseur aber bringt er Bilder und Bewegungen, nicht den
Wortlaut auf die Bühne.
Als bester Platonov-Leser dort erscheint ja der rasputinbärtige
Souffleur, der sich als wirkungsloser Priester der Schrift wie
unsichtbar durch die Handlung bewegt.
Stuttgart vielversprechende Begleitveranstaltungen, begonnen mit einem -
vom Premierenpublikum natürlich weitgehend ignorierten - Vortrag des
Slawisten Hans Günther ein paar Tage zuvor.
Für Castorfs Tschewengur selbst sprechen andere gute Gründe, nicht
zuletzt der unausweichliche Tod. Schweinerei oder nicht, erfüllt er die
alte Forderung von Sam Peckinpah: er hat Grazie und Stil.
Die Drehbühne war aufwändig bestückt, sodass sich allerlei Perspektiven boten, "Im Auto", "im eingezäunten Hof", "im Haus", ...
Nicht jeder Bereich war für den Zuschauer einsehbar (z.B. "im Haus"), sodass auch wieder Kameras und Mikrofone zum Einsatz kamen, die das innen Gespielte nach außen auf Leinwände übertrugen. Leider hat man da immer das Problem, dass die Bilder dem Ton etwas hinterherhängen. Wenn es auch nur 1/10-tel Sekunden sind, ich finde sowas störend.
Dass das Ensemble in Stuttgart hervorragend ist, muss nicht mehr erwähnt werden. Aber warum muss Matti Krause mit pipsiger hoher lauter Mädchenstimme fast rumschreien? Und warum muss Katharina Knapp einige Sätze lauthals ins Publikum brüllen? Mit dem Inhalt dessen was gesagt wurde (soweit das noch verständlich für mich war), war hier kein notwendiger Zusammenhang erkennbar.
Alles in allem hat mich die Inszenierung zu keiner Zeit irgendwie abgeholt. Mir war bis zur Pause nicht klar, was mir da vermittelt werden soll. (Und dazu wären immerhin 2h30 Zeit gewesen). Einige haben sich schon während der 2h30 auf den Heimweg begeben, wieviele nach der Pause noch dort waren kann ich dieses mal leider nicht sagen, da auch ich die Pause für den Heimweg genutzt habe.
Schade. Inszenierungen wie "der Idiot", "die Möwe", ja sogar "Im Stein" haben mich deutlich mehr beeindruckt, da wäre ich nie auf die Idee gekommen in der Pause zu gehen. Also alles in Allem fand ich nur "Richard III", "Caligula" und "Doppelgänger" schlechter. Das ist natürlich Geschmacksache, aber ... naja ... ungefähr so schlecht wie die
"Onkel Wanja" Inszenierung von Robert Borgmann. Also wem diese Inzenierung gefallen hat, oder wer sogar "Richard III", "Caligula" oder "Doppelgänger" nicht schlecht fand, dem könnte Tschewengur auch gefallen.