Totes Gebirge - Das Thomas Arzt-Stück als resigniertes Manifest in Stephanie Mohrs Uraufführungsinszenierung in der Wiener Josefstadt
Wohlige Untergangsfolklore
von Johannes Siegmund
Wien, 21. Januar 2016. Im Sanatorium treffen sich die Gescheiterten, die Zermürbten. Alles erodiert hier. Selbst das Dach hat ein Loch, die soziale Kälte rieselt melancholisch in den Bühnenraum und lässt die Herzen erfrieren. Weltraumkälte. Dieser Abend mit Thomas Arzts "Totes Gebirge" im Theater der Josefstadt gerät wie eine österreichische Bühnenvariation von Lars von Triers "Melancholia": In großen Naturmetaphern wird auf der Bühne ein gesellschaftliches Unbehagen mystifiziert und bleibt dabei ungreifbares und damit auch unabänderliches Schicksal. Die messianische Hoffnung auf den Einschlag eines Kometen, von der der sterbender Junkie Nepomuk (Stefan Gorski) faselt, ist der einzige Lichtblick an einem Abend, der sich etwas zu wohlig in seiner folkloristischen Untergangsstimmung einmummelt und damit die Möglichkeit wirksamer Gesellschaftskritik verspielt.
Eine Wiener Spezialität?
In der Welt von "Totes Gebirge" leiden die unheilbar Kranken an einer entsolidarisierten Leistungsgesellschaft, ihr Scheitern müssen sie aber privat tragen. Das macht die taffe Psychiaterin (Susa Meyer) schnell klar: Die Gesellschaft kann nicht behandelt werden, nur die Symptome der Patienten. Anstatt die Probleme aber bei der Wurzel zu packen, werden sie im Stück zu Naturmetaphern umgewandelt – zu Eis, Stein und totem Gebirge. Wir stehen mit den Kranken vor ihren Abgründen und schaudern. Der Autor Thomas Arzt ist Anfang 30 und der Text trotzdem ein resigniertes Manifest. Ist das zynisch, oder muss man diese Lust am Abgründigen als Wiener Spezialität genießen?
Literarisch ist dieser Text hervorragend. Er zelebriert einen unverkennbaren eigenen Ton und ist fein rhythmisiert. Arzt arbeitet viel mit Unvollständigem und Oberösterreichischem. Der Text ist eine Steilvorlage für die Schauspieler*innen. Sie müssen nicht drücken, nichts erzwingen, füllen die Pausen mit den grotesken Gesten von Kranken, wahnsinnigen Blicken und viel Subtext. Peter Scholz besticht als grobmotorischer, aber herzensguter Pfleger Priel. Roman Schmelzer gibt mit Schnauzer und krummem Rücken den arbeitslosen Alkoholiker Loser. Maria Köstlinger scheitert als Josefine Schönberg daran, das Leben ihres Bruders Raimund (Ulrich Reinthaller) zurecht zu biegen. Zwischendurch singen alle gemeinsam als Chor in Dialekt. Nostalgisch wird das Ganze von Hackbrett, Saxophon und Akkorden begleitet.
Die Verrückten der Welt
Auf der Bühne dreht sich eine Mischung aus Panikraum und Tonstudio: gedämpfte Wände, ein Schutzraum, aber auch ein Gefängnis. Die kleine Gesellschaft, die sich hier zwischen Weihnachten und Neujahr einfindet, besteht aus vereinsamten Individuen, ohne Freunde oder Familie. Im Sanatorium sind die Vereinzelten weit weg von der Welt und trotzdem nicht in der Lage utopisch zu werden. Es ist gut, dass der Abend die verlorenen Gestalten nicht wie ein kitschiger Weihnachtsfilm zusammen drängt. Sie bleiben auch in der Silvesternacht erstarrt und vereinsamt. Wer noch arbeiten kann, der hält die Strukturen aufrecht, die anderen zerbrechen an ihnen. Alles in allem aber beugen sich die Figuren zu hoffnungslos ihrem Schicksal. Zwischendurch verwandeln große Holzmasken die Schauspieler*innen in dämonische Wolpertinger. Die Schreckgestalten spiegeln den Wahnsinn der Einzelnen wie der Welt.
Wahn und Wahrheit liegen bekanntlich manchmal eng zusammen, und so könnten die Verrückten viel Wahres oraklen, bleiben aber in ihren Gesellschaftsanalysen an den Gemeinplätzen von Burn-Out, einer Schere zwischen Arm und Reich und einem eisigen Pragmatismus hängen. Ihr Innenleben wird durch Naturmetaphern verdeutlicht: Das tote Gebirge, eine öde, österreichische Karstlandschaft, hält als Metapher für Depressionen her. Der einsetzende Fön taut die Herzen kurz auf und ermöglicht einen unwahrscheinlichen Flirt, der schließlich aber konsequent aufs Glatteis geführt wird. Der Fall ist programmiert.
Die Inszenierung setzt auf richtiges Theater-Theater. Ohne postdramatische Zertrümmerungen wird ein Stück gespielt, inklusive Einheit von Ort und Zeit und psychologisch ausgearbeiteten Figuren. Der Abend hätte sich allerdings auch eine Geschichte des bipolaren Raimund zum Vorbild nehmen können: Der erzählt, welche Wohltat das Zerschlagen seiner geerbten Biedermeiermöbel für ihn gewesen war. Die Dekonstruktion von Veraltetem kann demnach befreiend wirken und einen Neuanfang ermöglichen. Denn an Silvester geht nicht nur ein Jahr zu Ende, es fängt auch ein neues an.
Totes Gebirge
von Thomas Arzt
Uraufführung
Regie: Stephanie Mohr, Bühnenbild: Miriam Busch, Kostüme: Nini von Selzam, Musik: Markus Krader, Andreas Schett (Franui), Korrepetition: Belush Korenyi, Dramaturgie: Barbara Nowotny.
Mit: Ulrich Reinthaller, Maria Köstlinger, Susa Meyer, Peter Scholz, Roman Schmelzer, Stefan Gorski.
Dauer 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.josefstadt.org
Arzts Stück sei "realistisches Erzähltheater mit Untiefen und tieferen Bedeutungen", berichtet Hartmut Krug im Deutschlandfunk (22.1.2016). Der Autor und seine Regisseurin Stephanie Mohr zeigten auf kleiner Drehbühne "keine Psychiatriefolklore, sondern normale Menschen, die aus ihrem Leben herausgefallen sind."
Arzts lyrischer, vieldeutiger, melodischer Text gleite nur selten ins Banale ab und lasse viel Raum für Fantasie, so Norbert Mayer in der Presse (23.1.2016). Sparsam setze er Anspielungen auf aktuelle soziale Missstände ein. "Die Inszenierung hat selbst in ruhigen Momenten hohe Energie – bis auf einige redundante, ja platte Passagen nach der Pause, die verzichtbar scheinen. Vielleicht aber hat man da einfach schon zu viel Leid gesehen."
"Nur selten kann man im Theater erleben, dass Langweile und Spannung einander so ähnlich sehen. Kaum langweilt man sich so richtig nach Kräften, wird man von der Inszenierung schon an die Spannung weitergereicht, und umgekehrt", findet Guido Tartarotti im Kurier (23.1.2016). Arzt habe großartige Figuren erfunden, "die hinreißend gespielt werden und einem sofort ans Herz wachsen". Allerdings begännen die "vielen raunenden Gebirgs-Metaphern" irgendwann zu nerven, "außerdem finden sich im Text viele Halb- bis Viertellustigkeiten. Hätte man den zwei Stunden 45 Minuten langen Abend auf knapp zwei Stunden gekürzt, er würde vielleicht durchgehend packen – und nicht nur stellenweise faszinieren."
"Totes Gebirge" bleibe fest im Zaumzeug der Stadttheaterästhetik eingespannt, schreibt Margarethe Affenzeller im Standard (22.1.2016). "Sprachliche (deformierte Sätze) und andere Motive (z. B. Biedermeier, Puppen, Fotografien der Gebirgswanderung) werden nur halbherzig aufgegriffen." Höehepunkte seien die chorischen Passagen mit Kompositionen der Musikbanda Franui: "Die Liedstrophen sind in ihrer fremdartigen dialektalen Rhythmik der ideale Soundtrack für dieses Spiegelstück einer Gesellschaft zum Verrücktwerden."
Totes Gebirge bleibt fest im Zaumzeug der Stadttheaterästhetik eingespannt. Sprachliche (deformierte Sätze) und andere Motive (z. B. Biedermeier, Puppen, Fotografien der Gebirgswanderung) werden nur halbherzig aufgegriffen. Die chorischen Passagen mit Kompositionen der Musikbanda Franui (zugespielt) bilden da eine willkommene Perspektive; sie sind jeweils (auch handwerkliche) Höhepunkte im Zweidreiviertelstunden dauernden Abend. Die Liedstrophen sind in ihrer fremdartigen dialektalen Rhythmik der ideale Soundtrack für dieses Spiegelstück einer Gesellschaft zum Verrücktwerden. - derstandard.at/2000029590835/Josefstadt-Gesellschaftliche-Kaelte-gut-geheizte-Psychiatrie
Totes Gebirge bleibt fest im Zaumzeug der Stadttheaterästhetik eingespannt. Sprachliche (deformierte Sätze) und andere Motive (z. B. Biedermeier, Puppen, Fotografien der Gebirgswanderung) werden nur halbherzig aufgegriffen. Die chorischen Passagen mit Kompositionen der Musikbanda Franui (zugespielt) bilden da eine willkommene Perspektive; sie sind jeweils (auch handwerkliche) Höhepunkte im Zweidreiviertelstunden dauernden Abend. Die Liedstrophen sind in ihrer fremdartigen dialektalen Rhythmik der ideale Soundtrack für dieses Spiegelstück einer Gesellschaft zum Verrücktwerden. - derstandard.at/2000029590835/Josefstadt-Gesellschaftliche-Kaelte-gut-geheizte-Psychiatrie
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