Aufstand der Kühe

von Peter Surber

St. Gallen, 15. Dezember 2016. 2004 hat der Fotograf Christian Schwager "falsche Chalets" dokumentiert – täuschend hausähnlich bemalte Bunker, die es in den Alpen und in Grenznähe noch immer zu Hunderten gibt. Die putzige Mimikry wurde rasch als symbolträchtig zumindest für die Betonfraktion im Lande empfunden. Jetzt ist ein solcher Chaletbunker Kulisse für gleich fünf Stücke, die das Theater St.Gallen unter dem Obertitel "Das Schweigen der Schweiz" an einem Abend in der Lokremise zur Uraufführung bringt.

Betoniert wird ja weiter, nach fremdenfeindlichen Abstimmungen wie dem Ja zur Initiative gegen die sogenannte "Masseneinwanderung". Zugleich herrschen, nimmt man die Triumphe der Rechtspopulisten von Washington über Dresden bis Istanbul, hierzulande noch vergleichsweise akzeptable Zustände. Das mag ein Grund sein, dass der St. Galler Abend zur "Lage der Nation" zwar kritisch, aber auch heiter ausfällt.

Fünf Stücke, roter Faden: Abschottung, Ausgrenzung, Identitätssuche

Fünf Schreibaufträge an junge Autorinnen und Autoren, vier Schweizer und eine Deutsche: Mit dem kühnen Unterfangen löst der neue, einheimische Schauspieldirektor Jonas Knecht seinen eigenen Anspruch nach stärkerer Autorenforderung ein. Und nimmt man weitere Premieren hinzu – Knechts eigene Regie "Vrenelis Gärtli" sowie, ab Januar, Dürrenmatts "Durcheinandertal", so leistet sich das St.Galler Schauspiel eine kritische Schweiz-Trilogie, die es in sich haben könnte.

Der rote Faden durch alle fünf Stücke heisst, wenig überraschend: Abschottung, Ausgrenzung, Identitätssuche. Eine sprechende Versuchsanordnung findet zum Auftakt der in Berlin lebende Andreas Sauter im einzigen Mundartstück "Parat oder Nienedmeh isch nüd" : Zwei Männer, Beckett-Spätlinge, suchen ein Wiesenstück, um eine unterirdische "Reduit"-Wohnung zu graben, eine Höhle "für alle Fälle", falls "sie" kommen: "Aber wer genau?" – "D EU" – "Oder die… halt… Die andere… wo…" – "Welli?" – "Alli".

Ein Hund und Kühe, Basisdemokratie und Rebellion

Nahtlos verwandelt sich das Bunkerhüsli mit dem Rasen-Tarndach darauf in eine WG. Teils scharfsichtig, teils bemüht ringen drei Personen hier um die Frage, ob man einen Flüchtling in das leerstehende WG-Zimmer aufnehmen soll. Sabine Harbeke unterfüttert ihr WG-Palaver "kalter hund" mit Hintergrundwissen zur direkten Demokratie und zum System der Gemeindeversammlung. Die Moral gibt zu denken – wie soll das Volk komplexe Grossthemen per Abstimmung bewältigen, wenn es schon zu dritt im trauten Heim mit der Basisdemokratie hapert? Theatralisch aber bleibt das Stück spröd – vom Hund abgesehen.

schweigenschweiz2 560 Tanja Dorendorf t t fotografie uDie Pressekonferenz der Kühe © Tanja Dorendorf/T+T Fotografie

Nach der Pause wird das Hüsli zum Stall. Drin muhen vier Kühe mit seltsamen Namen, wir kennen sie, weil sie Namensschilder und Mikrofon vor sich haben wie an einer Pressekonferenz. Die Kühe, Diana, Academy und Zenzi, sind im Aufruhr, nachdem Bella, die vierte im Bund, sich für eine Homestory hergibt mit einem Fotografen und Verfechter der Zäune. Posieren für eine Kuhschweiz, die Zäune baut? Die Kühe mampfen, grochsen, muhen und schellen, sie käuen in hartleibigem helvetischem Hochdeutsch Sätze wieder, die man aus Politdebatten kennt, sie käuen wieder und wieder, und schnell ist klar: Da ist eine Rebellion der Kühe im Gang, gegen die "elenden Traditionalisten", für die Allmende, gegen Gruppendruck und Herdentrieb von rechts. Gegen Ende zündet Schauspieler Dimitri Stapfer einen minutenlangen Beatbox-Battle, lässt Hubschrauber wirbeln und MGs knattern. Mit dem Alpenfrieden ist es vorbei, der akustische Krieg bringt Bella um und versetzt das Publikum in Ekstase. So viel Kuhwitz war nie auf einer Theaterbühne.

Gala für Federer, Monolog einer Flüchtlingsfrau

Einen "saTierischen Schwank" nennt die bosnisch-zürcherische Autorin Daniela Janjic im Untertitel ihr Stück "Philosophische Kühe – Mountains of Kuhtopia". Janjic ist mit Migrationsthemen biographisch vertraut; in diesem Kurzstück rettet sie sich mit Ingrimm in die Satire. Und das vierköpfige Ensemble (Anna Blumer, Sarah Hostettler, Hans Jürg Müller, Dimitri Stapfer), das alle fünf Stücke unter der Regie von Sophia Bodamer verwandlungsfreudig meistert, lässt die Stallbretter beben, das Publikum bleibt erschöpft vor Lachen zurück.

Dann flacht das Programm ab. Es folgt, verfasst von Philippe Heule, eine klamaukige TV-"Gala" für Tennisstar Roger Federer, die mit einem polternden Kurzauftritt von Wilhelm Tell noch mehr ins Out gerät. Den Schluss macht eine Textcollage um die nigerianische Flüchtlingsfrau Samia, die in der Schweiz in den Untergrund gedrängt wird. Maxi Obexer hat ihr Stück aus Recherchen zusammengefügt, Regisseurin Sophia Bodamer lässt den politisch brisanten Text hörspielartig sprechen – eindringlich, aber noch kein Theater.

Dennoch: ein insgesamt sprühender Schweiz-Abend.

 

Das Schweigen der Schweiz
von Sabine Harbeke, Philippe Heule, Daniela Janjic, Maxi Obexer, Andreas Sauter
Uraufführung
Regie: Sophia Bodamer, Ausstattung: Prisca Baumann, Musik: Anna Trauffer, Dramaturgie: Harald Wolff.
Mit: Anna Blumer, Sarah Hostettler, Hans Jürg Müller, Dimitri Stapfer.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.theatersg.ch

 

Kritikenrundschau

"Zwei Beiträge werden, muss man befürchten, von kurzer Lebensdauer sein, Sauters Dialekttext zur Bunkermentalität der Schweiz und Heules Parodie auf eine schweizerische TV-Spendengala zu Ehren von Nationalheld Roger Federer", urteilt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (17.12.2016). "Erstaunlich bekannt, ereignislos und thematisch stereotyp" wirkten sie. "Anders der Text von Sabine Harbeke" – die Autorin scheine "im kleinen Finger mehr Esprit, Erfahrung – und Ambition – zu haben, als in den beiden männlichen Schweiz-Texten in ihrer gesamten, gesuchten Lustigkeit liegt", so Muscionico. Daniela Janjics Text sei "grosse, bildstarke Schweiz-Verulkung, und Janjics Text ist mit Recht der Liebling des Publikums." Als "Stein des Anstosses im übrigen Feuerwerk von Scherz, Satire und untieferer Bedeutung" verhalte sich schließlich Maxi Obexers Stück. "Die Regie setzt den dunklen Beitrag ans Ende des Abends. Sie zeigt damit, was sie will: Heimattheater ohne falsche Romantik, ohne Gefühlsduselei", so Muscionico. Sophia Bodamer verleihe mit sicherer Hand fünf Texten oder Textflächen fünf Temperaturen und greife zu mit fünf unterschiedlichen Spielansätzen – "das muss eine erst können. Doch nicht nur die Regisseurin kann es, auch die vier Darsteller können es."

Kommentare  
Der Schweigen der Schweiz, St. Gallen: tolles Obexer-Stück
In seiner Beurteilung des letzten Stücks des Abends irrt Rezensent Peter Surber. Maxi Obexer hat jenes Kurzstück verfasst, der die Zuschauer am allernächsten kommt und berührt. Die unglaublich lang anhaltende Stille im Saal nach ihrem Stück über die Flüchtlingsfrau aus Afrika und über die illegalen Helfer als Gegensatz zum Klamauk in den Beiträgen zu Tennisstar "Rodscher" und zur Kuhglocken-Kuhstallnummer hat deutlich gemacht, wie sehr die Recherchen zu dieser Arbeit aufzuwühlen vermochten."Insgesamt ein sprühender Schweiz-Abend"? Das ist lokale Lobhudelei. Man lese in der Besprechung von Daniele Muscionico in der NZZ nach: "Die Regie setzt den dunklen Beitrag ans Ende des Abends. Sie zeigt damit, was sie will: Heimattheater ohne falsche Romantik, ohne Gefühlsduselei. Sie verzichtet darauf, die Sätze zu spielen, und lässt sie statisch sprechen - und ihre Wirkung und ihre Wucht in den Raum wachsen". Jawohl!!
Das Schweigen der Schweiz, St. Gallen: eine Wohltat
"Der Abend steigert sich von Stück zu Stück" schreibt auch Rolf App in seiner Besprechung im St.Galler Tagblatt. Ich stimme ihm und dem von Hannes zitierten Urteil von Frau Muscionico zu. Rolf App schreibt zutreffend:"Und plötzlich ist es zu Ende. Anna Blumer, Dimitri Stapfer, Hans Jürg Müller und Sarah Hostettler schauen noch ein wenig ins Publikum, dann gehen sie." Rezensent Rolf App stellt - im Gegensatz zur Besprechung in der Nachtkritik - zu Recht das zuletzt am Abend gespielte Stück von Maxi Obexer an den Beginn seiner Rezension: "Im Schweizer Untergrund von Maxi Obexer, in dem im fahlen Licht die Schicksale zweier Frauen lebendig werden, die sich aus ihren Ländern in die Schweiz geflüchtet haben und jetzt illegal hier leben. Geschützt von Menschen, denen die Menschenrechte wichtiger geworden sind als die Regeln des Rechts". Dieses Stück war nach dem Klamauk des Abends, nach den Kühen und dem Tenniscrack, nach den beiden Figuren, die in Beckett-Nachahmung auf der Bühne herumtapsten, eine Wohltat. Das soll "kein Theater" gewesen sein? Ganz im Gegenteil: Starkes Theater war das, gewiss das aufrüttelndste Stück des Abends, sprachlich eindringlich, präzis recherchiert.
Kommentar schreiben