Nun bin ich hier, und es ist nicht wahr

von Charles Linsmayer

Bern, 14. März 2009. Auf einmal ist Frischs letzter Roman, der an Popularität lange hinter "Stiller" und "Homo faber" zurückstand, in den Vordergrund des Interesses gerückt. Der Schweizer Bundesrat Leuenberger benützt "Mein Name sei Gantenbein", um nachdenklich seine Karriere zu hinterfragen, Kathrin Martelli, Kandidatin für das Zürcher Stadtpräsidium, zählt den Roman zu ihren Lieblingsbüchern, die Zürcher Condor Corporate hat sich die Rechte für einen Spielfilm gesichert, und bereits zweimal ist er für die Bühne aufbereitet worden: 2007 in der Zürcher Gessnerallee, wo John Hardwick ihn von zwei Personen in einer zimmergroßen Kartonschachtel nachspielen ließ, und nun auch in Bern, wo Philipp Becker ein Sechspersonenstück daraus gemacht und in den Vidmar-Hallen, der Außenspielstätte des Berner Stadttheaters, zur Uraufführung gebracht hat.

Dekonstruktivistisches IKEA-Regal
Berner Spielplatz ist ein vom Ensemble auf alle mögliche Weisen beklettertes und begangenes, ebenso breites wie hoch aufragendes Holzgerüst von Beni Küng, das aus leergeräumten weißen IKEA-Büchergestellen und einer angedeuteten Bar-Theke besteht und dem Publikum nicht nur Gantenbeins verlassene Wohnung, sondern wohl ebenso das Komplexe, Konstruierte, Spielerische des Romanstoffs vor Augen führen soll. Denn diese Vorlage, die den nouveau roman an dekonstruktivistischer Radikalität in den Schatten stellte und Brechts Verfremdungstheater für die Prosa nutzbar machte, bedeutet für eine Dramatisierung eine fast nicht zu bewältigende Herausforderung. Frischs Roman besitzt nicht nur keine durchgehende Handlung, sondern findet überhaupt einzig und allein in der Imagination eines anonym bleibenden Erzähler-Ichs statt.

Der 1979 in Tübingen geborene Becker, der schon in der letzten Spielzeit dreimal in Bern inszeniert hat, stellt eine gewisse Linearität her, indem er sich in der Abfolge der Szenen eng an den Roman hält und die eigentliche Gantenbein-Geschichte ganz durchspielt. Die Struktur des Ganzen aber wird wesentlich durch Aufteilung der Titelfigur auf fünf Schauspieler bestimmt, die Lila, der einzigen weiblichen Rolle, werbend und rivalisierend und gelegentlich auch als Verkörperungen der beiden anderen Romangestalten, Enderlin und Svoboda, gegenüberstehen. So schön das gelegentlich aufgeht, auf die Länge hängt die Konstruktion durch und sieht man sich mit einer endlosen Debattier- und Argumentationskette konfrontiert, die aus Frischs leichtgewichtigem Parlando etwas Schweres, Thesenhaftes, ja gelegentlich Altbackenes und Verstaubtes macht.

Dauerndes existenzialistisches Infragestellen
"Nun bin ich hier, und es ist nicht wahr, dass ich hier bin", lautet einer der zentralen Sätze der Aufführung, und man wäre als Zuschauer dankbar gewesen, wenn dieses ununterbrochene existenzielle Infragestellen gelegentlich auch in Stille, Zurückhaltung und Zurücknahme umgesetzt worden wäre, statt mittels eines schwer durchschaubaren choreographischen Aktivismus und einer lautstarken Dramatisierung genau das zu evozieren, was Frisch in seinem Roman um jeden Preis vermeiden wollte: eine handfeste, unbezweifelbare Realität, wo es nur Vermutungen und Hypothesen zu vermelden gibt.

Was Becker den Schauspielern zumutet, ist allerdings kein Pappenstiel, gibt er ihnen doch den Romantext selbst und nicht etwa eigens zurechtgemachte Dialoge zu rezitieren. So dass sie sich gezwungen sehen, die Rolle, die sie spielen, laufend selbst wieder in Frage zu stellen und damit blitzschnell zwischen zwei Perspektiven und Stilebenen hin- und herzuwechseln. Jürgen Hartmann, Joshua Monten, Andri Schenardi und Heiner Take zeigen sich dieser Anforderung durchaus gewachsen und tun auch sonst ihr Möglichstes, um der Betriebsamkeit von Beckers Konzept gerecht zu werden.

Scheitern ist hier keine Schande
Der Musiker Michael Frei bringt sich tapfer als weiterer Mitspieler ein, vermag mit seinen eher lustlos gesungenen englischen Songs aber nicht jenen Rhythmus hervorzubringen, der der Aufführung hätte Drive vermitteln können. Mit der ebenfalls sehr aktiven und temperamentvollen Lila von Henriette Cejpek steht pikanterweise jene Figur schrill und vital im Mittelpunkt der Bühnenadaption, die im Roman selbst nie zu Wort kommt und bloß aus der Perspektive ihrer Liebhaber zu erschließen ist.

Was in Bern gegenwärtig zu sehen ist, kann wohl kaum als geglückte Umsetzung von Frischs Roman gewertet werden, aber man muss der Inszenierung, der es weder an originellen Einfällen noch an schauspielerischem Können mangelt, zu Gute halten, dass sie sich etwas vorgenommen hat, an dem zu scheitern keine Schande ist.


Mein Name sei Gantenbein
von Max Frisch
Für die Bühne bearbeitet von Philipp Becker.
Regie: Philipp Becker. Bühne: Beni Kün, Kostüme: Dorothee Brodfück. Musik: Michael Frei.
Mit: Henriette Cejpek, Michael Frei, Jürgen Hartmann, Joshua Monten, Andri Schenardi und Heiner Take.

www.stadttheaterbern.ch

 

Zuletzt wurde in Bern im Juni 2008 Erich Sidlers und Raphael Urweiders Charta von Bern besprochen. Im März 2008 hatte dort Der Fremde ist nur in der Fremde fremd Premiere, ein Reigen von Kurzstücken, zu dem Philipp Becker "Babel fish" von Sabine Weng-Ching Wang beisteuerte.

 

Kritikenrundschau

In der Berner Zeitung beschreibt Oliver Meier Max Frischs Roman "Mein Name sei Gantenbein" als "verspielt, doch formal vertrackt, ohne eigentliche Fabel, ohne klar umrissene Charaktere". Dies bedeute ein "Wagnis, aber auch eine Chance für die Bühne". In Bern nutze sie der Regisseur Philipp Becker allerdings kaum, wenig Überraschendes halte seine Adaption bereit: "Becker hält sich eng an Form und Inhalt der Vorlage, ohne eine eigene Deutung zu bieten. Resultat ist eine zwar vielstimmige, aber bilderarme Inszenierung, eine Art 'Bühnenhörspiel'." Frischs Episoden "mit ihrem entlarvenden Blick auf zwischenmenschliche Beziehungen" verlören an Lebendigkeit, was "an den (notwendigen) Kürzungen" liege, "aber auch an der szenischen Umsetzung". Becker beschränke sich weitgehend "aufs (triviale) Illustrieren. Was die einen erzählen, wird von den andern parallel dazu gezeigt. (…) Kein Wunder, dass sich die Darsteller da kaum entfalten können."

 

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