Drei Farben - Johan Simons befragt die Ideale der Trikolore
Sackgasse mit Gestrandeten
von Sabine Leucht
München, 28. März 2009. Es sind die Farben der Trikolore: Blau, Weiß und Rot. Drei Farben, in die Krzysztof Kieslowski zu Beginn der neunziger Jahre drei Filme getaucht hat – oder drei Menschen: Blau für Julie, die als einzige einen Autounfall überlebt, um ohne Mann und Tochter mit der ungewollten Freiheit zu kämpfen. Weiß für den Polen Karol, den seine französische Frau zum Teufel schickt, weil er in Paris tagsüber so viele Köpfe frisieren muss, dass sich nachts nichts mehr bei ihm regt. Und die Farbe Rot umhüllt zuletzt die junge Schweizerin Valentine, die einen alten, am Recht verzweifelten, selbst kriminell gewordenen Richter durch ihr Interesse wieder in einen Menschen verwandelt.
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – die abstrakten Ideale der französischen Revolution – wollte Kieslowski in seiner Filmtrilogie von 1993/94 auf das Leben, das Hoffen und die Verletzungen der Menschen herunterbrechen. Schwer zu sagen, ob sie den Realitätstest bestanden haben. Zu verwinkelt sind die Wege des Schicksals, zu komplex die Konstellationen in diesen Filmen, worin all die in einer Sackgasse Gestrandeten aber immerhin wieder auf ihren eigenen Weg zurück finden.
Der unsichtbare Himmel
Nach Kieslowskis "Dekalog" vor vier Jahren hat der Regisseur Johan Simons nun auch "Drei Farben: Blau, Weiß, Rot" auf die Hauptbühne jenes Hauses gebracht, das er von der Spielzeit 2010/11 an leiten wird. Und im Schauspielhaus der Münchner Kammerspiele beginnt auch erst mal alles wie erwartet: Statt der opulenten Bilder und dem ausufernden Schwimmbadblau, worin Juliette Binoche sich ihrer selbst verordneten Einsamkeit hingab, fährt hier nur ein blau angeleuchteter Leinwandstreifen von der Bühnendecke, gefolgt von einem mit der Schnauze zuerst in den Bühnenboden krachenden Auto.
Simons ist als Entschlacker bekannt, als einer, der den nackten Gedanken nur so viel hinzu fügt, dass der Braten genießbar wird. Daran hält er sich zunächst auch hier, wo die Bühne durch das feststeckende Auto und die horizontalen Linien so streng gegliedert ist, wie es einer Versuchsanordnung gebührt. Sylvana Krappatschs Julie leidet spröde, mit leicht offenem Mund, den Blick durch das Blau des unsichtbaren Himmels hindurch direkt ins Nichts gerichtet. Ihr zur Seite steht mit Stephan Bissmeier als unsterblich verliebter Olivier auch nicht eben ein Temperamentsbündel.
Gekaufte Leiche
Alle Akteure tragen ihre Sätze vor sich her wie zum Kampf gezückte Schwerter oder sprechen sie gegen den Strich. Man kapiert, dass es hier darum geht, aus seiner Haut zu wollen und nicht zu können. Schmerzlich aber wird es nur, wenn Hildegard Schmahl als Julies demente Mutter die Narrenrolle übernimmt oder wenn Julie am Ende alle Widerstände fallen lässt und sich bei dem Versuch entspannt, die große Symphonie ihres Mannes doch zu Ende zu komponieren. In dieser Symphonie wie in der Zeit, in der Kieslowskis Filme entstanden sind, ging es darum, die Möglichkeiten eines geeinten Europa zu feiern.
In "Drei Farben: Weiß", schon im Original der leichteste, spöttischste Teil der Trilogie, modelt der flinke Karol die ökonomischen Fallstricke des neuen Europa zu seiner persönlichen Rettungsleine um. Hat die französische Gerichtsbarkeit noch auf ihn herabgeblickt wie auf ein kleines Tier, das man ohne Lupe kaum erkennen kann, kommt Karol in der Heimat als Leiter der dubiosen Firma "Modern Times" zu Geld und einer gekauften Leiche, die an seiner statt beerdigt wird. Bis Karol entdeckt, dass er seine Frau doch lieber wieder in seinem Bett als im Gefängnis sehen würde, wird in München eine überraschend turbulente Klamaukstrecke absolviert.
Das Gurgeln der Seele
Im Kielwasser von Thomas Schmausers charismatischer Schnodderigkeit macht sich auf der Bühne die ausgelassenste Stimmung breit. Die dient nicht unbedingt der Übersichtlichkeit der Handlung, aber gewiss dem Vergnügen der Zuschauer, die in Wirtschaftskrisen-Zeiten fast hysterisch über Sätze wie diesen lachen: "Wo Vertrauen ist, da wächst das Geld wie von selbst." Die hierzu schrill kreischende Sandra Hüller führt nach der Pause zusammen mit Jeroen Willems die Trilogie zu einem schönen Ende.
Als Richter, der seinen Ruhestand mit dem Bespitzeln seiner Nachbarn verbringt, sitzt Willems auf einem Hocker ganz vorne frontal zur Rampe – wie Krappatschs Julie ein Mensch, den die Enttäuschungen seines Lebens innerlich haben gefrieren lassen; der jede menschliche Nähe scheut und "nichts mehr" will.
Doch plötzlich, mitten im schlichten, konzentrierten Sprechen, entringt sich ein Gurgeln seiner Kehle: Der Eisblock taut. Dagegen ist die abschließende, wundersame Schiffbruchgeschichte purer Kitsch.
Drei Farben: Blau, Weiss, Rot (UA)
nach den Filmen von Krzysztof Kieslowski und Krzysztof Piesiewicz.
Fassung von Koen Tachelet
Deutsch von Eva M. Pieper und Alexandra Schmiedenbach
Inszenierung: Johan Simons, Bühne: Jens Kilian, Kostüme: Dorothee Curio, Musik: Paul Koek.
Mit: Stephan Bissmeier, Sandra Hüller, Sylvana Krappatsch, Lena Lauzemis, Wiebke Puls, Hildegard Schmahl, Steven Scharf, Thomas Schmauser, Edmund Telgenkämper und Jeroen Willems.
www.muenchner-kammerspiele.de
Mehr zu Johan Simons? Im Rahmen der Ruhrtriennale zeige der designierte Intendant der Münchner Kammerspiele im August 2008 seine Theateradaption von Louis Paul Boons Roman Vergessene Strasse. An den Münchner Kammerspielen brachte er zuletzt im April 2008 eine Bühnenfassung von Joseph Roths Roman Hiob heraus.
Kritikenrundschau
"Puristisch und leicht" habe Johan Simons die "vielsinnlich fesselnde dramatische Uraufführung" von Krzysztof Kieslowskis Film-Trilogie "Drei Farben: Blau, Weiß, Rot" auf der Bühne der Münchner Kammerspiele grundiert, schreibt Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.3.2009). Während Kieslowskis Kino "von seinen nachdenklichen, intensiven Nahaufnahmen und seinen stummen Bildern" lebe, "die sich als Leitmotive durch die Filme ziehen", finde Simons "andere, theatergemäße Wege der Stilisierung, um dem Abend einen eigenwilligen Rhythmus zu verleihen. Weniger getragen, melancholisch, ergreifend, doch auf eine andere Weise ebenso schmerzvoll und beeindruckend, weniger höflich, doch auf eine andere Weise ebenso nüchtern und aufrichtig. Und im Teil 'Weiß' sogar von einem blitzenden Zynismus."
Bei dem Puristen Johan Simons könne man sich schon mal "nach mehr Fleisch und Theaterblut sehnen", meint Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (30.3.2009). Es herrsche bei ihm "die Kargheit eines Erzähltheaters, das sich ganz und gar aus den Menschen, den Schauspielern, speist", er verweigere "die (ein)gängigen Wirkungs- und Einfühlungsmechanismen des Theaters. Du sollst Dir selber ein Bild machen, heißt sein Gebot für den mündigen Zuschauer, dem es damit nicht immer ganz leicht gemacht wird". Der erste Teil von den "Drei Farben" zeichne sich denn auch "durch große Sprödigkeit aus", während der zweite "noch spöttischer, aber auch viel chaotischer und ungereimter" daherkomme als im filmischen Original. Im dritten Teil aber offenbare "sich endgültig das Manko dieser Theateradaption: dass das Stück, das hinter den Filmen hervorgekehrt und so bedeutungsvoll ausgestellt wird, ein reichlich schwaches ist". Und auch "der pathetische Schluss, der von der wundersamen Errettung sämtlicher Hauptfiguren bei einem Fährunglück kündet", bringe "in diesem Theater keine Erlösung."
Simons' Regiestil erschüttere und durchbohre die Bühnenillusion, "ohne sie gänzlich zu zerstören", bemerkt Christine Diller in der Frankfurter Rundschau (30.3.2009). Als Zuschauer wisse man "zunächst nicht genau, was das mit einem macht. Nur dass es nachbebt, beunruhigt und gerade deshalb wohl tut." Wie bei den "Zehn Geboten" habe Koen Tachelet auch aus den "Drei Farben" "eine intelligente Fassung für einen Theaterabend erstellt", und Simons sei "wieder eine herausragende Inszenierung gelungen". Noch mehr als Kieslowski habe Simons "hier Parabeln inszeniert, die auf der Bühne dadurch so gut funktionieren, dass er sie so skizzenhaft und allgemeingültig umreißt." "Drei Farben" stelle "dreimal die Frage: 'Was wäre, wenn…'. Und weil Kieslowskis und Simons' Antwortmöglichkeiten vieldeutig sind, ist an den Kammerspielen wieder ein zeitloses Kunstwerk über die großen Menschheitsfragen im kleinen Alltag entstanden."
Johanna Schmeller beobachtet für die Welt (30.3.2009), dass Johan Simons in allen Teilen "die Beziehungsaspekte seiner Vorlage in den Vordergrund" rücke. "Botschaften wie 'alle Menschen haben hier Schmerzen' werden in ein reduziertes Bühnenbild gesprochen, die im Film angelegten Politbetrachtungen zur 'ökonomischen Situation in den ehemaligen kommunistischen Staaten' darüber eher an den Rand gespielt." Aber auch "farbensatte, manchmal schmerzhaft klamauknahe Bilder" mischten sich in die Aufführung. "Doch gerade im Wechsel von Ruhe und überbetonten Klischees" werde der Zuschauer "sicher zum Kern des Stückes geführt". In Simons' Inszenierung trete "das Schicksal an die Stelle des revolutionären Mobs; zurück bleibt eine schwarze Tafel, die von den Hauptfiguren neu beschrieben werden muss. Johan Simons hat dafür eine eigene Sprache gefunden."
In der Abendzeitung (30.3.2009) freut sich Gabriella Lorenz über ein brillantes Ensemble. Auf der weitgehend leeren Bühne nutze Simons "raffiniert die Farbsymbolik, die Musik schaffe Atmosphäre, und "die fabelhaften Darsteller erspielen mit minimalen Mitteln quasi aus dem Nichts eine unglaublich starke emotionale Dichte und Spannung. Eine große, großartige Aufführung."
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