Goethe Lenau Faust - ein Kooperationsprojekt zwischen Bruchsal und Temesvar
Endzeitstimmung in der Industrieruine
von Sibylle Orgeldinger
Bruchsal, 4. Februar 2010. Ursprünglich sollte allein Goethes "Faust" Teil I und II Gegenstand der ersten Koproduktion zwischen der Badischen Landesbühne Bruchsal und dem Deutschen Staatstheater Temeswar sein. Während ihrer Recherchen zu dem in der europäischen Literatur so viel bearbeiteten Stoff stießen die Dramaturgen dann auf das wenig gespielte dramatische Gedicht "Faust" des aus der Gegend von Temeswar stammenden Nikolaus Lenau. So kam es zu dem Versuch, das vielschichtige Drama des modernen Menschen schlechthin mit der radikalen Darstellung eines innerlich zerrissenen, von Unsicherheit und Zweifeln geplagten Individuums zu verbinden: "Goethe Lenau Faust".
Es beginnt mit einer Strichfassung des vertrauten "Faust I". Die extrem komprimierte Gelehrtentragödie wird zum düsteren Endzeitszenario, eingeleitet vom Doors-Song "The End". In einer bläulich beleuchteten ausgedienten Fabrikhalle, inmitten von umgestürzten Tischen und Stühlen, verstreuten Büchern und bewegungslos herumliegenden Menschen erhebt sich ein aller Illusionen beraubter grau gekleideter Faust (René Laier), dessen "Habe nun, ach…" zur nüchternen Bilanz gerät.
Verführung zum Neuanfang nach altem Muster
Dieser Faust bekommt es zunächst nicht mit einem Mephisto, sondern mit einer ganzen Gruppe von Mephisti zu tun – Männer und Frauen im schwarz-grau-weißen Business-Look, die chorisch sprechen und mit dem Text der Schülerszene den ersten Kontakt zu Faust herstellen. Leicht lässt sich erkennen, dass sie nach dem Zusammenbruch – Ende der Ost-West-Teilung? Umweltkatastrophe? Finanzkrise? – Faust zu einem Neuanfang nach alten Mustern verführen sollen. Es folgt eine recht konventionell inszenierte gestraffte Gretchentragödie. Faust wird nun von einem Mephisto im engen schwarzen Lacktop begleitet. Die Kästchen, die dieser als Geschenke für Gretchen beschafft, sind mit billig glitzerndem Modeschmuck gefüllt.
Marthe könnte Verkäuferin bei einem Modefilialisten sein. Margarete ist ein in jeder Hinsicht gehorsames Mädchen. Sie scheint ihr Schicksal vorauszuahnen und fügt sich ergeben. Übergangslos schließt sich die Szene "Der Besuch" aus Lenaus "Faust" an: Faust und sein Famulus Wagner sezieren im Anatomischen Institut eine Leiche. Die Industrieruine bleibt das ganze Stück hindurch stehen. Sie dient als Rahmen, der die formal und inhaltlich doch sehr verschiedenen Textpassagen zusammenhält.
Vervielfachung der Fehler
In den Lenau-Passagen, die weitgehend auf Faust als Frauenheld konzentriert sind, wiederholt und vervielfacht dieser seine Fehler, indem er gemeinsam mit Mephisto Wagner zu seiner Marionette macht und ihn ins Verderben reißt – ein geschickter Kunstgriff der Dramaturgie. Nun ist es Wagner, ein untersetzter Biedermann im karierten Anzug, der die Faust-Texte spricht. Als er genug von den Frauen hat, wendet er sich der Natur zu. Faust erfreut sich an Wagners Ohnmacht, bevor er sich weiteren größenwahnsinnigen Plänen widmet, wobei er Mephistos Fähigkeiten nun ganz gezielt einsetzt.
Die Überleitung zu Goethes "Faust II" geschieht durch die satirische Lenau-Szene "Die Lektion": Mephisto und Faust beraten einen Minister in Regierungsangelegenheiten, raten ihm zu Zensur und lückenloser Überwachung des Volkes. In den aus "Faust II" ausgewählten Passagen zieht die Inszenierung die deutlichsten Parallelen zur Gegenwart. Faust beseitigt eine Finanzkrise am Kaiserhof, indem er Papiergeld einführt, das im goldgelben Lichtschein durch die Lüfte flattert und gierig zusammengerafft wird.
Überwindung von 1300 Kilometern
Zur Territorialisierung der Meere greift Faust auf die von Wagner geschaffenen künstlichen Menschen zurück. Diese Homunculi kriechen, mit Plastikmasken versehen, auf dem Boden der Fabrikhalle herum, richten sich allmählich auf und lernen sprechen: Aus einer Reihe von schwerfällig artikulierten Lauten wird nach und nach der Monolog, den Faust einst im Studierzimmer hielt. "Habe nun, ach" heißt es auch gegen Ende. "Fausts Tod" ist dann wiederum Lenaus Werk entnommen. Faust ersticht sich. Mephisto hat das letzte Wort: "Da bist du in die Arme mir gesprungen, Nun hab ich dich und halt dich fest umschlungen!".
Das Licht des letzten Scheinwerfers ruht auf Mephisto, und noch einmal ertönt "The End". Eine trotz der Beschränkung auf acht Darsteller komplexe Inszenierung und ein wegen der Verschiedenheit der Vorlagen mutiges Unterfangen, welches das Drama des Menschen um die Dimension des Individuellen erweitert – und ein gelungenes Beispiel europäischer Zusammenarbeit über fast 1300 Kilometer hinweg.
Goethe Lenau Faust – Erkundung eines Mythos
nach Johann Wolfgang Goethe und Nikolaus Lenau
Regie: Carsten Ramm, Textfassung: Franz Csiky, Nadine Schüller und Carsten Ramm, Bühne: Carsten Ramm, Ines Unser, Kostüme: Ines Unser.
Mit: Iosif Csorba, Miriam Gronau, Alex Halka, Cornelia Heilmann, Hannes Höchsmann, René Laier, Andrea Nistor, Ramona Olasz.
www.dieblb.de
www.teatrulgerman.ro
Mehr lesen: Mit Goethes Faust – der Tragödie erster und zweiter Teil eröffnete Matthias Hartmann seine Burgtheaterintendanz 2009. Dito begann in Saarbrücken die Spielzeit im September 2009 mit Faust I und II. Beim Internationalen Theaterfestival in Edinburg war 2009 eine Inszenierung des Goethe-Klassikers durch den rumänischen Theatermacher Silviu Purcarete zu Gast.
Kritikenrundschau
Das Projekt "Goethe Lenau Faust" in Bruchsal warte mit "etlichen schlüssigen Ideen" auf, die allerdings "nicht selten eher als Ideen denn als Theatermomente wirken", befindet Andreas Jüttner von den Badischen Neuesten Nachrichten (6.02.2010). Die Koproduktion mit dem Staatstheater Temeswar überzeuge vor allem durch die konzeptionelle Arbeit der Dramaturgen Nadine Schüller und Franz Csiky sowie Regisseur Carsten Ramm. "Konzentriert meißeln sie aus den riesigen Blöcken die Geschichte eines Gebildeten, der in Zeiten eines Epochenumbruchs schmerzlich spürt, dass ihn das bisher Erreichte weder befriedigt noch weiterbringt." Demgegenüber bleibe die "szenische Trittsicherheit der Aufführung", "schon angesichts der in diesem Rahmen verfügbaren Mittel, oft hinter dem Konzept zurück. Wenn etwas auf der Bühne passieren soll, wird gern das Licht auf Rot gestellt und auf verruchte 80er-Jahre-Disco gemacht." Entsprechend sei der Abend immer dann am überzeugendsten, "wenn er sich auf den Text konzentriert, den vor allem René Laier in der Titelrolle unaufdringlich und doch effektsicher meistert."
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