Ein Volksfeind - Thomas Ostermeier inszeniert Henrik Ibsens Demokratiebefragung
Gut gegoogelt
von Christian Rakow
Berlin, 8. September 2012. Oh, Mann, ey, wenn's doch nur ewig so sein könnte. Alle noch so jung, im Hobbyprobenkeller, die Wände mit irren Brainstorming-Skizzen voll gekritzelt, Rotweinflaschen auf einem langen Kreativdenkertisch. Dort am Drum-Computer trommelt Katrine (Eva Meckbach), und Billing (Moritz Gottwald) schrubbt die E-Gitarre. Hovstad (Christoph Gawenda) kitzelt Sounds aus seinem Laptop und Thomas (Stefan Stern) schwelgt am Mikro in David-Bowie-Tunes: "Time may change me". Und ja, die Zeit wird zupacken.
Fuck, ey – um im Ton des Stückes zu bleiben –, what became of the likely lads? Schon bald ist da nichts mehr zu sehen von dieser trauten Indie-Rockercombo aus dem ersten Akt dieses Abends. Etwas ist ihnen dazwischen gekommen. Und nicht etwa das Baby von Katrin und Thomas, das nebenan hin und wieder zu schreien anfängt. Nein, Henrik Ibsen hat zugeschlagen, mit "Ein Volksfeind" (in einer legeren Modernisierung, die Dramaturg Florian Borchmeyer dem Drama von 1882 abgewonnen hat).
Windbeutelweicher Pragmatismus
Ibsen setzt in seinem Stück einen klaren Schnitt: Auf die eine Seite bringt er Thomas alias Kurarzt Dr. Stockmann, der die Verunreinigung des Wassers im örtlichen Heilbad aufdeckt und gegen alle Widerstände bereit ist, seine Erkenntnisse in der Öffentlichkeit zu verfechten. Tochter Petra und Frau Katrine (bei Borchmeyer in einer Person verschmolzen) stärken ihm dabei den Rücken. Auf die andere Seite rücken diejenigen, die vor allem ihren, nun ja, Arsch an die Wand kriegen wollen: eben Billing und Hovstad. Sie verantworten gemeinsam mit dem Verleger Aslaksen (David Ruland) das lokale Zeitungsblatt, in dem Thomas seine Wasseranalysen publizieren will. Aber sobald die Politik in Person des Stadtrats Peter Stockmann, Thomas' Bruder, die Konsequenzen der Bäderschließung vorzurechnen beginnt (Krise, Depression, Steuererhöhung) und ergo die jüngst begonnene Publizistenkarriere zu knicken droht (Leserschwund, Anzeigenkürzungen, Kündigung), schlagen sie dem Ritter vom Wissenschaftsgeiste Thomas die Tür zu.
Es ist wahrscheinlich ehrlich, dass in Thomas Ostermeiers Inszenierung des "Volksfeind", die nach ihrer Premiere in Avignon nun daheim an der Berliner Schaubühne angekommen ist, der Schwenk der Möchtegernrebellen Hovstad und Billing in den windbeutelweichen Pragmatismus am elegantesten gelingt. Ein Atemstocken, ein betont lang ausgehaltenes Stirnrunzeln des fabulös selbstironischen Moritz Gottwald und Billings Ticket ins Establishment ist gelöst. Wer wollte wohl auch widerstehen, wenn Ingo Hülsmann als Stadtrat Peter Stockmann mit dem öligen Charme eines Hinterzimmerstrategen einem den Pfad in die Realpolitik pflastert.
Aufstandsemphase ohne Grund
Nun will aber Ostermeier in seinem linksintellektuellen Garagen-Setting (von Bühnenbildner Jan Pappelbaum) nicht nur von der Verbürgerlichung der Gegenkultur hin zum Lebensstil der bourgeoisen Bohémians, der Bobos, erzählen. Vielmehr geht es auch – dazu nötigt ihn gewissermaßen die Stückvorlage – um eine Durchbruchsfantasie. Mit dem Wahrheitskämpfer Thomas kommt zunehmend ein fundamentalistisches Pathos zu Gehör: gegen die liberale Konsenskultur, gegen das lobbyistische Schachern, gegen die Macht der stumpfen demokratischen Mehrheit. Im legendären vierten Akt des Stückes, wenn Thomas bei einer öffentlichen Anhörung seinen Zorn der kenntnislosen, pöbelnden Menge auf die Stirn hämmert, mischt Ostermeier das Manifest "Der kommende Aufstand" (vom "unsichtbaren Komitee") in dessen Philippika. Es ist die aktuell bissigste Polemik gegen das plurale, ökonomisch überhitzte Ich im späten Konsumkapitalismus.
Nur leider steckt in der übrigen Inszenierung so gar nichts, das diese Aufstandsemphase gründet. Stefan Stern, dieser oft so nervenfeurige Spieler, gibt seinen Thomas wie ein E-Gitarrist, dem der Verstärker abgestöpselt wurde, wacker im Durchhaltewillen, aber verloren. Mit Zeitlupentempo schluckt er im Bruderzwist die bitteren Politpillen des Stadtrats Peter. Granitschwer von Begriff. Seinen Doktor in Medizin dürfte dieser Thomas im Losverfahren gewonnen haben. Und seine zeitkritische Rede zum "kommenden Aufstand"? Sie mag ihm beim allmorgendlichen stundenlangen Googlen untergekommen sein.
Wedeln mit der Möchtegernrute
Dass diese Figur so mickerig ausfällt, hat inszenatorische Gründe. Ostermeier kommt sich mit seiner Milieu-Analyse vulgo seinem Berlin-Mitte-Bashing auf der einen Seite und der Reflexion politischer Willensbildung auf der anderen in die Quere. Im Dienste der Satire lässt er alles Bekenntnishafte und Unverrückliche, aus dem Thomas Stockmanns Geschichte ihre Brisanz entwickelt, fahren. Ein uneigentlicher Ton prägt die Auseinandersetzungen. Hülsmann und Ruland belächeln genüsslich ihren ausgestellten Parlamentariersprech. Die Indie-Riege um Billing, Hovstad und Thomas findet in lauter Tiefenentspanntheit ganz zu sich mit Dialogen der Preisklasse "Wie geht's?" – "Danke, geht so." Eine Heiterkeit durchweht diesen Abend, von der man nicht einmal sagen kann, ob sie an jedem Punkt bewusst hervorgerufen wird oder doch unfreiwillig eintritt.
Jedenfalls kommt aus diesem Milieu definitiv kein Aufstand, nicht von Thomas Stockmann, und nicht von irgendwem. Die Verve, die Ostermeier dem vierten Akt beilegt, wenn er das Saallicht aufreißt und Schauspieler aus dem Publikum heraus für kontroverse Stimmung sorgen lässt, ist allenfalls ein Wedeln mit der Möchtegernrute. "Es ist inzwischen sogar eine verbreitete Strategie, diese Gesellschaft zu kritisieren – gerne auch im Theater – in der vergeblichen Hoffnung, diese Zivilisation zu retten", wird die Kampfschrift des "unsichtbaren Komitees" zitiert. Anders gesagt: Solche Theaterkritik ist billig, talk is cheap.
Ein Volksfeind
von Henrik Ibsen
Bearbeitung von Florian Borchmeyer
Regie: Thomas Ostermeier, Bühne: Jan Pappelbaum, Kostüme: Nina Wetzel, Musik: Malte Beckenbach, Daniel Freitag, Dramaturgie: Florian Borchmeyer, Licht: Erich Schneider, Wandzeichnungen: Katharina Ziemke.
Mit: Stefan Stern, Ingo Hülsmann, Eva Meckbach, Christoph Gawenda, David Ruland, Moritz Gottwald, Thomas Bading.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause
www.schaubuehne.de
Ein Volksfeind war auch zum Theatertreffen 2012 eingeladen – inszeniert von Lukas Langhoff am Theater Bonn. Hier die Nachtkritik vom Theatertreffengastspiel.
Eine "Schlussstrich-Inszenierung, die vom Gestus des So-nicht-weiter lebt", hat Dirk Pilz für die Berliner Zeitung (10.9.2012) in der Schaubühne gesehen. Das Setting erinnert den Kritiker an frühere erfolgreiche Ibsen-Arbeiten von Ostermeier ("Nora" und "Hedda Gabler"), die im Wesentlichen "feinstens konsumierbare Bestandsaufnahmen" der Berlin-Mitte-Bohème gewesen seien. Auch hier gebe es "Figuren: fluffig aufgehängt zwischen Stereotypenkomödie und Rebellionspathetik. Die Dramaturgie: heruntergedimmt ins Privatdramatische, Konfliktklapprige. Das Gesamtsetting: die knisternde Spannung eines Küchenkammerspiels." Schauspielerisch sei diese Inszenierung "auf der Höhe dessen, was die Schaubühne zu bieten hat. Alles frisch und flott. Toll auch die Bandprobenpopmusik, live und luftig." Aber anders als in früheren Abenden führe hier alles über die Bestandsaufnahme hinaus, mitten hinein in den zeitgenössischen Konflikt: "Recht gegen Macht, Gesundheit gegen Geld, Wahrheit gegen Wirtschaft." Ostermeier "meint es ernst, man sieht es in der Schlussszene an Feinheiten, am plötzlichen Temperaturwechsel der Gesten und Blicke." Gesellschaftspolitisch gelesen, sei dieser Abend mithin "ein Anfang: der Abschied von der bequemen Bescheidwisserei."
Ostermeier präsentiere den "Berlin-Mitte-Zoo" und nutze das Drama "erst einmal dazu, sich über die hilflose Selbstgefälligkeit, den narzisstischen Habitus der digitalen Bohème lustig zu machen. Biedermeier-Milieubashing am Puls der Zeit!", schreibt Andreas Schäfer für den Tagesspiegel (10.9.2012). "Abgesehen von dem übergehängten Modejargon wird die Geschichte in solider Boulevardmanier runtergespielt." Offen aber bleibt für den Kritiker, welche Rolle diese Repräsentationskunst einnimmt: Möglicherweise, fragt Schäfer, mache "sich Ostermeier gar nicht lustig, sondern zelebriert das Lebensgefühl, das er angeblich vorführen will, in Wirklichkeit selbst?" Schließlich tourten Ostermeiers Arbeiten auch international und dort könne der Regisseur "als erster Theaterrepräsentant Berlins" mit "der vermeintlichen Hipness unserer kleinen Stadt natürlich selbst Distinktionspunkte sammeln".
Eine "über lange Zeit spannende Inszenierung" hat Katrin Bettina Müller für die taz (10.9.2012) erlebt. Besonders der musikalische Einstieg sei "atmosphärisch ein gelungener Auftakt, melancholisch und warmherzig – aber warum dann diese Freundschaft so schnell dem Opportunismus weicht, wird nicht mit der gleichen Intensität erzählt." Die größte Regieleistung liege in der "Übermalung", wenn Stockmanns Rede durch das Manifest "Der Kommende Aufstand" verheutigt wird. "So einleuchtend der Text szenisch mit dem Drama verflochten ist, so sehr sich auch die Emotionen des ins Unrecht gesetzten Badearztes und der Manifestautoren verbinden, inhaltlich ist dieser Link auch Augenwischerei. Denn der flammende Text ist in seiner Kritik am Individualismus und gezüchteten Egoismus zugleich auch vage, die Sprecherposition brüchig, nur ihr Pathos ungebrochen." In der Agitation des Publikums durch die Schauspieler "verliert sich die Zielgenauigkeit, Radikalität scheint auf, aber als ungefähres Irgendwie." Anschließend, "als die Inszenierung dann doch zum Drama zurückkehrt und seinen letzten Volten, ist man der vielen Worte müde und nicht mehr so interessiert an den nächsten dreckigen Machenschaften."
Bereits in Avignon sah Johannes Wetzel für die Welt (20.7.2012) die Arbeit und jubelte: "Es ist ein besonderer Glücksfall im Theater, wenn in einer brillanten Inszenierung der richtige Text am richtigen Ort zur richtigen Zeit und vor dem richtigen Publikum aufgeführt wird." Die junge Besetzung des Abends stehe "für die Generation von 'Occupy Wall Street' und 'Empört euch!', die Generation Twitter." Diese Generation stelle sich jetzt der Frage nach "Ökonomie und Wahrheit". Und um ebendiese Frage kreise auch Ostermeiers Abend. Eingehend widmet sich der Kritiker den öffentlichen Auseinandersetzungen um die politische Willensbildung im vierten Akt. "Man spürt Ostermeiers Sympathie für Stockmann, gemischt mit der Sorge, dass die Angriffe auf die Fehlentwicklungen der Demokratie die Demokratie selbst gefährden."
In Avignon war "mit der Erleichterung über das Ende der Sarkozy-Regierung eine große Debattierfreude über das französische Premierenpublikum gekommen, die aus einer ordentlichen, aber etwas konzeptionell langweiligen Inszenierung urplötzlich ein Demokratieexperiment machte", berichtet Eberhard Spreng für die Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (9.9.2012). Eben diese Debattierfreude wollte an gleicher Stelle an der Schaubühne (im interaktiven vierten Akt der Inszenierung) nicht aufkommen. In "Berlin schwieg das urbane Premierenpublikum, das sich nur noch müde und abstrakt an das Theater als politischer Anstalt erinnern kann." Aber, so schließt der Kritiker: "Vielleicht muss Ostermeier aber für seine Demokratiedebatte einfach nur ein normales Berliner Publikum abwarten, eines ohne Kritiker und Kulturbetriebsroutiniers." Eine längere Beschreibung der Inszenierung gab Eberhard Spreng in seinem Bericht aus Avignon, ebenfalls für den Deutschlandfunk (19.7.2012).
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 08. Oktober 2024 euro-scene Leipzig: Kritik an Einladung palästinensischer Produktion
- 05. Oktober 2024 Zürich: Klage gegen Theater Neumarkt wird nicht verfolgt
- 04. Oktober 2024 Interimsintendanz für Volksbühne Berlin gefunden
- 04. Oktober 2024 Internationale Auszeichnung für die Komische Oper Berlin
- 04. Oktober 2024 Kulturschaffende fordern Erhalt von 3sat
- 04. Oktober 2024 Deutscher Filmregisseur in russischer Haft
- 01. Oktober 2024 Bundesverdienstorden für Lutz Seiler
- 01. Oktober 2024 Neuer Schauspieldirektor ab 2025/26 für Neustrelitz
neueste kommentare >
-
euro-scene Leipzig Kontext
-
Blue Skies, Berlin Klamauk
-
euro-scene Leipzig Tendenziös
-
euro-scene Leipzig Ungeschickt
-
Neumarkt Zürich Klage Schlimme Praxis
-
Kassler GF freigestellt Herausforderungen
-
Neumarkt Zürich Klage Besetzungsfragen
-
Kultursender 3sat bedroht Keine andere Wahl
-
Die Verwandlung, Wien Ohne Belang
-
Kultursender 3sat bedroht Gutes Fernsehen unterstützen!
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
Ich habe einen grandiosen Abend erlebt. Das ist Theater, in das man gezogen wird und das man unverwechselbar erlebt hat. Rakows Geschreibsel ist das eines Möchtegern, unbeholfen, billig, unverständlich, Berlin-Mitte-Bashing. Danke, das brauchen wir nicht. Ich habe mir heute noch einen guten Nachschlag geholt: Meese trifft Grünbein. Ja, man könnte etwas ändern, aber nicht mit diesen Rakows. Haben Sie sich nicht ein wenig selbst erkannt?
Der Volksfeind ist ein so unglaubliches Stück, und ich bin nun nach Langhoff und Ostermeier auf Dröse im Gorki gespannt.
Lassen wir uns Theater und Visionen von den Möchtegernkritikern nicht verderben.
Ab in den Papierkorb mit dem Geschreibsel!
Meine erste, spontane Reaktion war hier: Dem stimmst du nicht zu, denn du bist nicht Stockmann. Andererseits empfand ich es in der Sache genauso: Eine zahlenmäßige Mehrheit ist niemals ein Beweis für Wahrheit oder Gerechtigkeit. Ich wollte mich also erst nicht melden, schloss mich dann aber der Mehrheit der sich in die Höhe hebenden Zuschauerhände an. Der zweite Widerspruch entstand genau über diesen Akt: Die Frage nach Zustimmung oder Ablehnung bildete im Grunde genau die Mehrheit, welche von Stockmann kritisiert wird. Ich hätte mir in diesem Moment sowieso gewünscht, dass ALLE Zuschauer die Bühne besetzen und diesen Selbstdarsteller da vorn ablösen, welcher mir in seiner Selbstbezogenheit (obwohl seine Rede durchaus nachvollziehbar war) zunehmend auf die Nerven ging. Ich hätte das alles zudem vielleicht auch etwas anders formuliert. Das klang mir teilweise alles viel zu abstrakt und aufgesetzt, wenig konkret.
Es ging hier in meiner Wahrnehmung also um die Grundfrage, ob bzw. inwiefern es eine repräsentative Demokratie überhaupt geben kann bzw. muss. Delegiert Stockmann seine Macht nicht nur an andere, an uns, an die Zuschauer (sic!) der demokratischen Repräsentation? Dabei sollte die Demokratie als Formulierung des Gemeinwillens aller Bürger doch genau umgekehrt funktionieren: WIR sind es, die unsere Interessen vertreten bzw. unsere Vertreter wählen. Dabei geht es nicht um den Vertreter selbst, welcher uns zur Zustimmung oder Ablehnung seiner Position nur kurzzeitig (re-)animiert, bevor wir wieder in den demokratischen Tiefschlaf zurücksinken. Nein, es geht hier um uns! Die Verfassung unseres demokratischen Gemeinwesens hängt von uns allen ab! Es geht um das Zwischen-den-Menschen!
Sehr sehr schade also und irgendwie auch erschreckend, dass sich zur Premiere niemand aus dem Zuschauerraum eingemischt hat. Für mich liegen die möglichen Gründe einer solchen Nichteinmischung allerdings auch darin begründet, dass es in diesem Setting zu offensichtlich ist, dass es sich hier um Theater handelt. Vergleicht man diese Aktion dagegen mit dem Setting von zum Beispiel Schlingensiefs "Chance 2000", dann gewinnt in jedem Fall Schingensief. Oder auch nicht. Weil das Theater bei Schlingensief plötzlich zur Politik wurde, weil es sich den bürokratischen Zwängen der Politik anpassen musste, wobei es letztlich darum gehen sollte, sich genau dieses bürokratischen Plunders zu entledigen, auch und vor allem in Bezug auf die hierarchischen Strukturen innerhalb des Theaters selbst. Ich konnte nicht anders, als plötzlich an das kollektive Mitbestimmungsmodell der Schaubühne unter Peter Stein zurückzudenken.
leider schreiben auch Sie nichts Inhaltliches. Sie beschimpfen mich mit einem ebenfalls unfassbaren Beitrag.
Waren Sie sich dessen bewusst? Ich habe zumindest einen positiven Satz zu diesem Abend gesagt. Denn ich glaube, an diesem Abend zeigten sich viele Wahrheiten. Wenn man etwas wirklich Gutes tun will, hat man keine Chance. In Avignon hat man das verstanden und es gab eine Reaktion. In der Schaubühne gab es zumindest einen Hauch davon. Was willst du tun, wenn du wirklich etwas machen willst, plötzlich stehen diese coolen Typen gar nicht mehr auf deiner Seite, auch sie sind schon lange Teil des Systems. Während der Rede von Stockmann stand Billing (Moritz Gottwald) neben mir, und ich habe gespürt, dass der coole, sympathische Typ plötzlich so eine Gefahr für mich und meine Gedanken wird. Das war fast unerträglich. Dem hätte ich das nicht zugetraut. Der geht plötzlich nicht auf die Barrikaden gegen das System, sondern stellt sich gegen den Widersprecher. Und warum tut er das? Weil es hier und heute so ist! Das ist, meine ich, die neue Zeit, das Berlin-Mitte-Bashing. In Frankrich hat man es verstanden, zum Glück gibt es auch in Deutschland sehr differenzierte Sichten auf diese Inszenierung und zu meiner Verwunderung hat "Die Welt" eine sehr gute Kritik veröffentlicht. Ja, die Welt ist halt aus den Fugen.
Übrigens "Möchtegern" stammt nicht aus meinem Feder, das hat Rakow verwendet, und ich habe es nur übertragen. Wie nennt man dieses Stilmittel?
Karl Aslan- Zumpert, lassen wir es einfach mit dupfen Beschuldigungen und Begeisterungen. Für mich war das ein sehr gelungener Abend, der mich in die heutige Welt führte. Solch eine Sichtmöglichkeit bietet ein grandioses Stück wie "Der Volksfeind". Das ist aktuell! Ist das zu glauben? Da schreibt jemand vor 100 Jahren einen Text und der wirkt in dieser rasanten Zeit noch heute genau so, wenn nicht gar noch eindringlicher.
Ich mag Theater, wenn es in die Gegenwart schaut und dabei nicht plumpe Vergleiche zieht, sondern sich intensiv mit unserer Zeit, mit den Krisen und den Möglichkeiten unseres Scheiterns umgeht. Das ist eine wesentliche Aufgabe der Kunst und des Theaters. Und wie Meese sagt, ich will nicht in der besten der schlechtesten Möglichkeiten des Zusammenseins leben, gemeint ist die Demokratie, sondern, ich will die beste der besten Möglichkeiten haben. Vielleicht steckt in der Kunst doch ein wenig Diktatur.
Wie dem auch sei, genießen wir den Abend und mischen uns noch ein wenig mehr ein.
Danke Karl Aslan- Zumpart für den berechtigten Einwand. Nur manchmal verteidigt man recht dumpf das Theater.
Olaf
Der Hinweis auf Peter Steins Schaubühnen-Modell ist faszinierend.
Das Modell scheiterte letztlich (wie auch das von Palitzsch in Frankfurt; Peter Zadek hat dieses Scheitern in seiner Bremer Inszenierung von Maß für Maß bereits im voraus reflektiert - auf Video nachzuprüfen) weil nicht jeder Mitarbeiter des Mitbestimmungstheaters für alles verantwortlich sein wollte. Es war auch nicht jeder kompetent, für alles einen zweckmäßigen Beitrag zu leisten.
Die Schweizer haben für dieses Dilemma der praktischen Demokratie eine sehr schöne Lösung gefunden: Man stimmt über alles ab. Aber es gehen nur sehr wenige zu den Wahlen hin - die nämlich, die das Thema interessiert.
Fraglich nur, ob dieses ewige Abstimmen für Nationen, die 10 mal größer sind, nicht ein bißchen teuer und umständlich wird. Wenn alle Computer hätten, könnte man das elektronisch vereinfachen. Da dies nicht so ist, wäre eine Computer-Demkoratie aber wie die attische Demokratie: eine Demokratie der Stadtbürger, also der Wohlhabenden und Privilegierten. Frauen, Kinder, Sklaven und Ausländer bzw. deren cyberdemokratischen Äquivalente wären ausgeschlossen.
Deswegen sind liberale Theoretiker auf einen anderen Kompromiss verfallen: Demokratie ist die Abwesenheit von Zwang für den Einzelnen.
In diesem Lichte aber scheint mir der Satz "Der gefährlichste Feind der Wahrheit und Freiheit bei uns ist die Mehrheit. Jawohl, die scheißliberale Mehrheit" schief (und dumm=demagogisch=wissentlich falsch) zu sein. Der gefährlichste Feind der Wahrheit und Freiheit ist nicht die Mehrheit, sondern UNWISSEN und UNFREIHEIT.
Redakteur Stockmann und die Gemeindevertretung sind ja nicht "die MEHRHEIT", sondern sie manipulieren die Meinungsbildung der Mehrheit via Vertuschung und Einschüchterung. Ich selbst erlebe es im Moment als besonders verunsichernd, dass ich nicht weiss, welche Konsequenzen es hätte, wenn der Euro aufgegeben würde. Wie aber soll ich dann beurteilen, ob die Rettungsschirme "das kleinere Übel" sind?
P.S.: Ich möchte mit meinen Überlegungen nicht den den Eindruck erwecken, ich hielte Ostermeiers Theater für dumm-demagogisch. Im Gegenteil: ich bin dankbar dafür. Wir brauchen politisch aggressives Theater und manchmal auch Parolen, die immer vereinfachen, um intellektuell in den Hintern getreten und aufgerüttelt zu werden.
P.P.S. @ Rakow: Ich kannte den "kommenden Aufstand" noch nicht und bin Ostermeier dankbar für den Tipp. Warum soll Theater nicht auch das Fußvolk und die Arrière-Garde aufklären und auf den aktuellen Stand der Diskussion bringen dürfen?
"Und wie Meese sagt, ich will nicht in der besten der schlechtesten Möglichkeiten des Zusammenseins leben, gemeint ist die Demokratie, sondern, ich will die beste der besten Möglichkeiten haben."
Lieber Olaf, Sie flirten mit der Diktatur, wenn Sie sich für solche Pippi-Langstrumpf-Sprüche begeistern.
Künstler dürfen solche Utopien entwickeln, denn sie sollen uns an Möglichkeiten erinnern.
Ein Mensch im Dritten Reich, in Putins Russland, in Lukaschenkas Weissrussland, Kims Nordkorea, in Syrien, Iran, Aserbaidschan, Kasachstan usw. würden die Propaganda der beste der besten Möglichkeiten gerne gegen die unvollkommene Demokratie als Freiheit wenigstens von staatlicher Bevormundung und Freiheitsberaubung (Gefängnis) eintauschen.
Ideologie (Propaganda) kann man nämlich nicht essen...
Aber Inga mahnt mich daran, dass ein Demokrat auch dem absurdesten Clown seine Meinung lassen muss. Und das tue ich gerne. Ich meine ja nur...
Lieber Stefan,
auch Ihren Beitrag - sorry liebe Leser, das ich das öffentlich sage - fand ich sehr anregend. Das stimmt schon: Ostermeier zelebriert den Selbsthass des Intellektuellen. Was ich - von den Themen her - anregend finde (ich profitiere davon), was andererseits auch etwas Komisches hat und sicherlich Stoff zu einer "Fröhlichen Wissenschaft" abgeben könnte. Zumal die Schaubühne ja tatsächlich von jenem Charlottenburger Publikum lebt, das sie beschimpft - so, wie das Berliner Ensemble von jenem Besitzbürgertum lebt, das - das BE - es mit Brecht, Horvath, Bernhard und Ravenhill attackiert und das - das Bürgertum - die ihnen vom Prinzipal eingeredete "Werktreue" dieser Inszenierungen genießt wie der Katholik die Ausgießung des Heiligen Geistes durch Papst Benedikt den soundsovielten im Petersdom. Ein Künstlerdrama und eine Gesellschaftskomödie also.
Vielleicht müsste Ostermeier mal so eine Künstler/Gesellschaftskomödie inszenieren, um den Selbsthass des Intellektuellen zu reflektieren? Bei den Schlammsuhlereien seines Hamlet kam er für meine Begriffe über den Ekel nicht hinaus. "Einsame Menschen" versandete in Jux und Sentimentalität. Wie wär's mit Tasso? Schade, dass Florian Borchmeyer den nicht übersetzen kann. Obwohl: Grimmelshausen wird ja mittlerweile auch übersetzt.
Theaterfans aller Länder vereinigt Euch: Deutschland sucht das Super-Künstlerstück für die Schaubühne! Schickt Eure Vorschläge an nachtkritik.de.
Lieber Guttenberg,
die Tugend des Bürgertums besteht darin, dass es zu Selbstkritik fähig ist.
Insofern liegen Ostermeier und sein Publikum schon ganz richtig. Sie müssen das nicht pathologisieren ("Selbsthass").
Als Ostermeier-Stück möchte ich "Fink und Fliederbusch" von Arthur Schnitzler vorschlagen. Es geht um einen Journalisten, der unter zwei Namen in einer liberalen und einer antiliberalen Zeitung schreibt. Am Ende argumentieren sich die beiden Pseudonyme so in Rage, dass sie sich zum Duell fordern müssen. Das ist unglaublich amüsant und geistreich...
P.S.: Übrigens: Die Konjunktion "dass" (alte Rechtschreibung: "daß") schreibt man mit Doppel-S.
@7. Guttenberg, ich bin Thomas Ostermeier für die Einarbeitung des "Kommenden Aufstands" auch dankbar (selbst wenn ich das Manifest – ähnlich wie Katrin Bettina Müller in der taz – eher für gestisch denn inhaltlich relevant halte). Mein Problem ist, wie gesagt, dass dieser Stockmann-Appell nirgends angearbeitet ist, dass er erratisch, ja aufgesetzt wirkt. Ich finde, da hat Stefan in 6 noch Einiges weiter ausgeführt. Und ja @2, Inga, dass eine packendere Auseinandersetzung ausblieb, ist sicherlich auch ein Problem d(ies)er Repräsentationsästhetik – zumindest im Berliner Kontext. Schlingensief und Castorf haben hier eine politische Theatersprache entwickelt, gegen die die Mitmachtheater-Einschübe an diesem Abend für mich eher leichtgewichtig wirkten (wobei die Debatte von den Schauspielern auch recht unbeholfen geführt wurde). Sicher ist auch Peter Stein eine wichtige Referenzgröße (seine einschlägigen Arbeiten kenne ich allerdings nicht aus eigener Anschauung).
Übrigens braucht es für eine provokante Einrichtung des vierten Aktes nicht unbedingt die Aktualisierung. Ich habe vor nicht allzu langer Zeit die Ibsen'sche Stockmann-Rede aus dem "Volksfeind" in ähnlicher Weise wie bei Ostermeier aus dem Publikum heraus inszeniert gesehen, von Klaus Gehre in Stendal, und da war die Hölle los im Saal, Kontroverse pur, anscheinend ähnlich wie bei Ostermeier in Avignon. Heißt das jetzt, dass in der Provinz die alten Hüte noch gut passen, oder dass die Berliner Premierengänger ohnehin saturiert sind (wie es Eberhard Spreng auf Deutschlandfunk anklingen lässt)? Ich denke: nein. Die Beobachter bewegen sich, noch einmal gesagt, in einem objektiven Rahmen und der ist in Berlin für diesen Ibsen, in einem Umfeld von Schlingensief, Castorf oder – neuerdings – Vinge/Müller, eben ein anderer als außerhalb.
Im Übrigen, damit hier kein falscher Eindruck entsteht, halte ich – anders als manche meiner Kollegen – die genaue Schilderung heutiger Milieus wie in Ostermeiers "Nora" oder "Hedda Gabler" sehr wohl auch für eine politische Tat des Theaters. Auch in "Dämonen" habe ich mit Lars Eidinger und Brigitte Hobmeier wesentlich mehr über die "Atomisierung" unserer Gesellschaft "in feine paranoide Partikel", über die "Hysterisierung des Kontakts zwischen Menschen" (um noch einmal den "Kommenden Aufstand" zu zitieren) erfahren als in diesem "Volksfeind", den ich eben nicht stimmig finde.
Stockmanns Aussage gegen "die scheissliberale Mehrheit" wird ja bereits in ihr Gegenteil verkehrt, indem sich eine Mehrheit der Zuschauer dafür ausspricht. Wichtig erscheint mir hierbei aber weniger die gleichsam parlamentarische Zustimmung, als vielmehr die Inhalte und Themen, welche hier verhandelt werden.
Man könnte sich Stockmann ja auch als einen der oberen 1 Prozent der Gesellschaft vorstellen, welcher mehr als 35 Prozent des gesellschaftlichen Vermögens besitzt. Ein Schwimmbadbesitzer bzw. ein dort angestellter Badearzt ist ausserdem etwas anderes als ein öffentlich zugänglicher See oder das Thema eines bezahlbaren und freien Zugangs zu sauberem Trinkwasser für alle (siehe "Berliner Wassertisch"). Diesbezüglich könnte und müsste die Frage danach, ob die zahlenmäßige Mehrheit ein Beweis für Wahrheit und Gerechtigkeit sei, schon ganz anders aussehen. Von der Bevölkerungsmehrheit verschiedenster (benachteiligter) sozialer Gruppen her betrachtet, kann der Kampf eines bzw. ein paar einzelner Vermögender gegen "die scheissliberale Mehrheit" also durchaus als demagogisch bezeichnet werden. Kurz: Das Gegenteil der Demokratie ist nicht die Diktatur oder der Totalitarismus, sondern der Kommunismus als "Aristokratismus für alle".
Letztlich erinnert das Setting der Inszenierung auch ein wenig an Volker Löschs "Berlin Alexanderplatz". Nur, dass hier nicht Ex-Knackis, sondern Ensemble-Schauspieler mit im Publikum sitzen. Ist das schon eine ironische Anspielung in Bezug auf das alte Mitbestimmungsmodell? Hat dieses möglicherweise auch deshalb so schwer funktioniert, weil es eben gerade doch nicht mit Marx um "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" ging? Kurz: Alltagspraktische Solidarität in Verbindung mit einer angemessenen Entlohnung ist vielleicht doch besser als abstrakt-revolutionäre Ideologie.
Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2012/09/15/der-ausbleibende-aufstand/
Schaubühne, Regie: Thomas Ostermeier, gesehen am 13.09.2012 Teil 1
In Ostermeiers „Othello“ gab es so etwas wie Katharsis: Stefan Stern hatte als Jago das Publikum auf seine Seite ziehen können und es wandte sich am Ende geläutert ab, als es erkannte, in welche Katastrophe Jago das Geschehen führte. Natürlich hätte der „Volksfeind“ genauso aufgebaut werden können, dass sich das Publikum mit Bürgermeister Peter Stockmann und der „kompakten Majorität“ identifiziert und verbündet, um den notorischen Querulanten und Nestbeschmutzer Thomas Stockmann fertigzumachen. Erst ganz am Ende hätte Stefan Stern als Badearzt dann seine Chance gehabt, von oben bis unten besudelt, als elendes Häuflein mit zitternden Händen eine kathartische Stimmung beim Publikum heraufzubeschwören, dass hier etwas zu weit getrieben wurde. Aber diese Stimmung kam nicht auf. Vielleicht war sie auch nicht beabsichtigt, dann hätte man sich jedoch auch die Beschmutzung von Thomas Stockmann und Publikumsteilen mit Farbbeuteln ersparen können. Und der Dialog zwischen Badearzt Thomas und Bürgermeister Peter Stockmann im 2. Akt, hochaktuell und doch nah an der Ibsen-Vorlage, war darauf angelegt, dass sich ein seiner heutigen realen Rolle bewusstes Publikum in Peter Stockmann, hervorragend gespielt von Ingo Hülsmann, wiederfindet. Ich bin mir sicher, dass es diesen Dialog auch heute häufig und immer wieder gibt, in Behörden, in Unternehmen, in Banken, auf Baustellen, zum Beispiel dem Flughafen Schönefeld. Überall müssen unruhige, streitsüchtige, rebellische Geister, die meinen, es sei ihre Pflicht, einen neuen Gedanken der Allgemeinheit mitzuteilen, die aber – so Peter Stockmann - nur keine Autoritäten über sich ertragen können, dahin ‚gebrochen’ werden, eben diesen Autoritäten öffentlich das Vertrauen auszusprechen. Überall ist Individualisten, die von einer im Sinne Helmut Schmidts „übermäßig idealisierten“ Demokratie-Vorstellung und einem Selbstverwirklichungswahn fehlgeleitet sein mögen, klargemacht werden, dass sie sich überall dort frei und ungezwungen äußern können, wo ihre Stimme kein Gewicht hat, dass sie aber dort, wo sie in Hierarchien eingebunden sind, wo sie als Angestellte hauptberuflich handeln, kein Recht auf eine eigene Überzeugung haben. Dies ist ein so klares Faktum der modernen Welt, das die heute herrschende Meinung jene, die sich dies nicht zu eigen machen, als Außenseiter, ja als Feinde der Gesellschaft ansehen muss. Die Wahrheit Peter Stockmanns, dass man sich durch Unbeherrschtheit sehr schadet, ist die heute dominierende Wahrheit. In der modernen Welt dominieren Beziehungs- und nicht Sachfragen, dominieren Existenz und Macht vor bedingungslosen Wahrheiten.
Im 2. Akt werden Thomas und Peter Stockmann als Antipoden gezeigt, die eigentlich aufeinander angewiesen sind. Der Badearzt, der Gewissheit über medizinisch-naturwissenschaftliche Erkenntnisse, zum Beispiel der mikrobiologischen Verseuchung des Wassers, erlangen möchte, muss darauf einen Großteil seiner Kraft, Zeit und Aufmerksamkeit verwenden, so dass er nur einen ungenügenden Teil zur Verfügung hat, um seinen Erkenntnissen soziale Geltung zu verschaffen. Thomas Stockmann sollte sich als Arzt und Wissenschaftler auf der Sachebene bewegen. Peter Stockmann wiederum versteht es als Manager und Strippenzieher, Positionen durchzusetzen. Der Badearzt braucht den Bürgermeister, um die Konsequenzen seiner Erkenntnisse durchzusetzen und der Bürgermeister braucht den Badearzt, um die richtigen Maßnahmen für eine ‚nachhaltige’ Entwicklung zu ergreifen.
Das hochaktuelle Problem besteht darin, dass der Badearzt ein Sachproblem aufzeigt, für das der Bürgermeister nur verlustreiche Konsequenzen erkennt. Und die hochaktuelle Scheinlösung besteht darin, die Sachebene zu okkupieren, das Problem für nicht-existent zu erklären und die Auseinandersetzung mit Thomas komplett auf die Beziehungsebene zu verlagern.
Dadurch, dass Thomas nicht die Sachargumentation vertieft, sondern die Auseinandersetzung auf der Beziehungsebene voll annimmt und seinen Gegnern den „Krieg“ erklärt, wird deutlich, dass mit Thomas Stockmann - als Stimme des Autors - Ibsen seinen Landsleuten die Leviten lesen wollte. Und als Phantasie-Geschöpf des Autors ist der Badearzt unanfechtbar und unverwundbar. Er wird zum Gespenst, das mit seiner Parole, dass die ganze Gesellschaft gereinigt, „desinfiziert“ werden muss, Grauen, ja Abscheu erregen kann. Es ist in dieser Schaubühneninszenierung essenziell, dass die Figur Thomas Stockmann nicht im fragwürdig Übermenschlichen, sondern in der Verletzlichkeit des Außenseiters angesiedelt wird. Für den kathartischen Effekt ist es weitaus effizienter, dass die „kompakte Majorität“ einen eigenbrötlerischen Wahrheitssucher zerbricht, als dass ihr von einem Wahrheitsfanatiker auf hohem Ross mit Ausrottung gedroht wird. Dieses Verdienst der Inszenierung ist aber eben auch ihr großes Problem, denn der Text von Ibsen nach dem 2. Akt passt nicht zu einer Opferrolle des Badearztes und das gilt insbesondere für die Rede von Thomas Stockmann im 4. Akt. Ostermeier und sein Team haben sich mit einem Neuzeit-Text beholfen, der thematisch zwar gut zum 2. Akt passt, da er die Mahnung an den Einzelnen zur Beherrschung, zur Anpassung als Unterwerfung brandmarkt und auch bis zum Untergang dieser Zivilisation geht, aber er ist keine Rede, er ist nicht eingebettet in eine rhetorische Auseinandersetzung und er bleibt damit ein Fremdkörper im Stück.
Und wenn Ostermeiers „Volksfeind“ somit nicht als perfektes Meisterwerk gelten kann und die von mir herbeigewünschte kathartische Stimmung ausblieb, bot sich doch genügend Futter für Gedanken, wie man sieht. An anderen Kritiken ist abzulesen, dass die Gedanken dazu in ganz verschiedene Richtungen gehen.
Welche reaktionären Mechanismen sich hier möglicherweise vollziehen - und die nächste Frage wäre: Will Ostermeiers Inszenierung im Sinne der Eröffnung eines differenzierten Diskurses darauf verweisen oder diese Mechanismen als einzig mögliche Lösung darstellen? - das beschreibt Sara Hakemi ("Burn, baby, burn!" Die andere Vorgeschichte der RAF", in: Klaus Biesenbach, "Zur Vorstellung des Terrors") folgendermaßen. Zitat zur Kaufhausbrandstiftung der RAF von 1968:
"Die Interpretation der Brandstiftung als sinnhaltig, in einer Weise, die zumindest für Teile der Mehrheitsgesellschaft akzeptabel war, kann betrachtet werden als Versuch, den Bruch, der sich in der westdeutschen Gesellschaft ab den sechziger Jahren auftat und spätestens ab 1967 unübersehbar geworden war, zu überbrücken. Es war das Bemühen, den sozialen Frieden und die gesellschaftliche Einheit wieder herzustellen, indem die 'Außenseiter', die revoltierenden Studenten, dem herrschenden Diskurs unterworfen und in diesen eingebunden wurden. Die Überwachung des anti-bourgeoisen Diskurses präsentierte sich als Alternative zu seiner Bestrafung. Letztlich unterschieden sich Überwachen und Strafen jedoch nur in der Methode, da das Ziel die Eliminierung des andersartigen, gegnerischen Diskurses war, sei es durch konsequente Anwendung der Macht des herrschenden Diskurses, sei es, dass dem anti-bourgeoisen Diskurs durch Interpretation seine Fremdheit genommen und er in den herrschenden Diskurs eingepasst wurde."
Das nervt wie dann das Saallicht angeht, aber von vornherein sowieso nicht erwartet wird, das jemand partizipiert.
Aber trotzdem. Ich finde das einen guten Abend, der einen Schritt in die richtge Richtung geht. Warum nicht mal ein Publikumsgepräch nach einem solchen Abend, liebe Schaubühne? Und zwar nicht über Ästhetisches sondern über Inhalte.
WIR BRAUCHEN WIEDER MEHR POLITISCHES THEATER!!!
Wo sind die Inszenierungen die Diskurse provozieren, die aufrührerisch sind, die sich was trauen?
das spiel ist kein theater
der verrat ist keine literatur
kultur ist keine kunst
kunst ist keine politik
die politik ist ihr eigenes theater
was ist mit piscator, brecht oder leuten wie fassbinder, schlingensief usw. usf. ?!
Interpunktion!!!!!!!!! Kommata bei Relativsätzen, auch das ist wichtig!
Ich persönlich frage mich weiterhin, mit welcher Absicht der Text "Der kommende Aufstand" in den Ibsenschen "Volksfeind" integriert wird. Was soll damit ausgesagt werden? Mir scheint es wichtig, hier einmal festzuhalten, dass sich der Hitler-Vergleich nur auf den Text von Ibsen bezieht (siehe auch im Programmheft).
Gestern wurde im Publikum mit Begriffen wie "Arsch", "Wichser" und "Porno" um sich geworfen. Wessen Diskurs soll das sein? Kann es sein, dass hier nur - dem Pawlowschen Reflex folgend - aggressive Publikumsreaktionen provoziert werden (sollen?), anstatt sich mit dem Thema "gesellschaftliche Minderheiten und Mehrheiten" wirklich differenziert auseinanderzusetzen? Man muss es ja nicht gleich wie Volker Lösch betreiben, welcher mit seinen Laienchören möglicherweise auch nur "autoritäre Charaktere" und unreflektiert polarisierenden Hass provoziert. Wobei das wiederum auch stark davon abhängt, welche Laien man vor sich hat, "Tiere" - wie es einmal von den "Ex-Knackis" aus "Berlin Alexanderplatz" hieß - oder Menschen.
Ich empfinde es so, dass es für eine tatsächlich offene Auseinandersetzung zunächst mal viel mehr inhaltliche Information bräuchte, und zwar in Bezug auf die Sache. Worum wird hier eigentlich gestritten? Fakt ist, dass sich der Staat mittlerweile meilenweit von seinen Bürgern entfernt hat. Ähnliches gilt möglicherweise für die Theatertanker:
"jetzt sehe ich
wohin sie führt
diese Revolution [...]
zu einem Versiechen des einzelnen
zu einem langsamen Aufgehen in Gleichfömrigkeit
zu einem Absterben des Urteilsvermögens
zu einer Selbstverleugnung
zu einer tödlichen Schwäche
unter einem Staat
dessen Gebilde unendlich weit
von jedem einzelnen entfernt ist
und nicht mehr anzugreifen ist"
(Peter Weiss, "Marat/Sade")
Stimmt denn das? Könnten wir nicht vielmehr einen Chorführer wählen, der singt und uns zum Mitsingen animiert? Musik bringt die Menschen vielleicht eher zusammen als die verdinglichende Sprache und heillose Vernunft sprachlicher Ideologie. Anstatt uns zu bekriegen, sollten wir wie ein geordneter und doch die Freiheit des Individuum zulassender Schwarm kooptieren. Man lese dazu einmal folgendes Bild von Dietmar Dath ("Abschaffung der Arten"):
"Aber es kam zu keiner Berührung - als Licht, Duft und Schatten verströmte seine [Padmasambhavas] Haut Musik, älter als drei Welten zusammen.
Und wo drei mordlüsterne Kreaturen [drei Stadt-Affen] gewesen waren, platzten schimmernde Staubschwärme von Insekten auf, in allen Farben [...]. Er brauchte den Sechsbeinern nicht aufzutragen, was er von ihnen wollte, sie wußten es auch so: Als Partiale eines mißratenen Erwachten mußten sie diesen jetzt auflösen, und sie würden ihn, das heißt jeden Orang-Utan, jeden Irrwisch aus Schreikrampf und Haß, ganz sicher finden, in den hintersten Gassen, auf den höchsten Dächern, in den tiefsten Tunneln des Weißen Tigers, dort überwimmeln, zerreißen, stechen, mit Gift bespritzen, daß er zerging zu Myriaden Formen, wie sie selbst entstanden waren."
Oder meinen Sie die Korruption durch sogenannte "Medienpartner"? Was ist da zum Beispiel los, wenn radio eins an der Schaubühne eine Benefiz-Veranstaltung für den Verein "KINDerLEBEN" ausrichtet? Inwiefern hat das inhaltlich etwas mit dem Programm der Schaubühne zu tun?
Transparenz ist offensichtlich weder im kleinen noch im großen kulturellen bzw. politischen Geschäft gegeben. Man schaue sich nur mal die "Piraten" an, welche mittlerweile wohl eher Teil des Problems (geworden) sind: So vergleicht ein unreflektierte Jungspund wie Martin Delius (27) den schnellen Erfolg seiner Partei mit dem der Nazis: "Der Aufstieg der Piratenpartei verläuft so rasant wie der der NSDAP zwischen 1928 und 1933". Und Piratenschef Bernd Schlömer arbeitet neben seinem "Piraten"-Job lieber gleich im Verteidigungsministerium mit. Geht's eigentlich noch schizophrener?!
Was entsteht da eigentlich?
- Auf der einen Seite argumentieren ausgebildete Schauspieler, auf der anderen Seite Menschen, die noch bis vor wenigen Minuten dachten, sie würden dabei bleiben, den Schauspielern zuzusehen.
- Die einen können den Grundlagentext zu dieser Diskussion auswendig, die anderen nicht.
- Die einen sind es beruflich gewohnt, vor vielen zu sprechen, die anderen nicht.
- Die einen haben sich bereits über eine Stunde warmgesprochen, die anderen saßen derweil möglichst still und regungsarm.
- Die einen können sich hinter einer ausgearbeiteten Figur verstecken, die anderen nicht.
- Die einen beenden nach ihrem Ermessen diesen Austausch - Licht aus im Zuschauerraum -die anderen sitzen wieder im Dunkeln.
Die nächste Szene sieht aus, wie sie bei jeder Aufführung aussieht, nimmt nicht weiter Bezug auf die vorhergehende Interaktion. Entstanden sind also ein paar Minuten improvisierter Dialog auf Basis asymmetrischer Machtverteilung, der in der Inszenierung stecken bleibt.
da applaudieren leute bei "die wirtschaft ist das problem" und sind nicht in der lage das hinterher zu begründen. niemand versucht die fiktion zu verlassen. alle spielen mit. und die offenbar unvermeidbare, gewalttätige "reaktion" (schlimm auch) erlebt das publikum sicher geschützt im pseudobrutalen angriff, voller theatraler konventionen ("die werfen absichtlich vorbei") unter einem weißen leintuch. lediglich das textbuch der souffleurin zeitigt mit den zahlreichen spritzern auf der seite das potential, das man hätte nutzen können. wäre zumindest interessant wenn das publikum farbe abkriegt was dann passiert, was dann freigesetzt wird. so an revolutionären potential. bäm.
Für mich ist hier also die eigentliche Frage, warum Ostermeier den Ibsen-Text überhaupt noch als Basis verwendet, wenngleich es ihm offenbar hauptsächlich um den "Kommenden Aufstand" ging, welcher mit dem ursprünglichen Ibsentext kontextuell betrachtet aber überhaupt nichts zu tun hat.
Und was wäre genau der Unterschied, wenn den Text jetzt eine Frau sprechen würde? Am Gorki Theater hat man das ja gemacht. Mit dem Unterschied, dass Fremdtexte u.a. von Gudrun Ensslin eingefügt wurden. Fühlten Sie sich da auch belehrt, oder nicht eher verstört? Ich denke schon, dass es durchaus einen Hang zur männlichen Besserwisserei gibt. Nur ist ja gar nicht klar, ob im Falle des Unsichtbaren Komitees der Text ausschließlich von Männern geschrieben wurde. Und was Stockmann betrifft, der ist bei Ibsen nun mal ein Mann, und auch ein Mann seiner Zeit. Und genau so stellt Ostermeier ihn auch als einen Mann seiner, also unserer Zeit dar. Im Gorki wird das deutlich umgekehrt. Was bleibt, ist aber die Frage, worin unterscheidet sich denn nun der weibliche vom männlichen Radikalismus oder auch dem kommenden Aufstand (Falls es den überhaupt geben sollte.)?
Und sorry, ich finds ja auch ärgerlich, aber die Frage nach der Klasse wird man leider so schnell individuell nicht los.
Die eigentliche Frage ist hier in meiner Wahrnehmung aber, ob bzw. wie eine offene Zivilgesellschaft bzw. ein Gemeinwesen funktionieren soll, wenn Menschen sich nicht zusammentun und zu diesem Zweck ihre eigenen Interessen (vorübergehend) hintanstellen. Jedenfalls wäre ein solches Handeln das Gegenteil der These von der "unsichtbaren Hand" des Marktes. Ich glaube nicht (mehr) daran, dass wenn jeder nur seinen eigenen Interessen folgt, dies zugleich der Gesellschaft im Ganzen zugute kommen würde (Adam Smith). Dafür sind schon zuviele Bereiche des öffentliche Lebens ökonomisiert worden. Dafür existiert schon zuviel Entsolidarisierung zwischen Arm und Reich (siehe die ganz bewussten Streichungen im jüngsten Armutsberichts). Nein, es braucht jemanden, der das laut sagt, was ist.
@ Die unsichtbare Zuschauerin: Was finden Sie jetzt "ja auch ärgerlich"? Und was waren/sind die individuellen UND sozialen Gründe für "das Leben, in dem man (wer ist "man"?) sich momentan ganz konkret aufhält"?
Während die Potsdamer Inszenierung nach knapp 6 Monaten bereits wieder abgesetzt ist, wird die Schaubühnen-Version von Ibsens Volksfeind Ende April vom ZDF aufgezeichnet. Gibt es dafür jenseits der Schicksalungerechtigkeit zwischen Provinztheater und hauptstädtischer Kulturstätte eine Erklärung? Ich denke ja.
Es liegt daran, dass Markus Dietz die Geschichte in Potsdam wie das Fragment einer Wagner-Oper erzählt. Das ist nicht so fernliegend, wenn man Thomas Manns Aufsatz „Ibsen und Wagner“ heranzieht und bedenkt, dass der Parsifal 1882 ein Jahr vor dem Volksfeind uraufgeführt wurde. Wagner bekannte: „An Gott glaube ich nicht, aber an das Göttliche,…“. Dieses Göttliche ist ein Charakterideal der Reinheit des Gewissens und des Strebens. Durch Entsagung haben Auserwählte sich der Unreinheit und Lüge entzogen und damit den Anspruch erworben, Führer der Menschheit zu sein. Wagners Werke, die ohne seine Musik wahrscheinlich heute vergessen wären, sind davon erfüllt, dass die Strahlkraft der seelischen Reinheit sich den Volksmassen mitteilt, welche den Führungsanspruch erkennen und mit Inbrunst annehmen. Thomas Stockmann ist bei Dietz ein solcher Führer, der tragischerweise von seinen in Dummheit, Verblendung und Lüge gefangenen Mitmenschen verkannt wird. Diese Sicht auf das Stück hat eine Chance auf Erfolg, wenn ein nach Befreiung aus Lüge und Verblendungszusammenhängen dürstendes Publikum den Badearzt annimmt. Dann könnte sich das Stück als Wagner-Oper vollenden, der kipplige Berg aus leeren Getränkekisten würde zum felsenfesten Montsalvat, auf dem Thomas Stockmann den Gral empfängt, um zum stärksten Mann der Welt zu werden. Darsteller und Publikum sängen in Verzückung: „Höchsten Heiles Wunder! Erlösung dem Erlöser! - Lichtstrahl: hellstes Erglühen des Grales. Aus der Kuppel schwebt eine weisse Taube herab und verweilt über Parsifals [Thomas Stockmanns] Haupte.“
Man braucht aber über die Komplikationen einer solchermaßen erfolgreichen Rezeption gar nicht weiter nachzudenken, da das potenzielle bundesrepublikanische Publikum so wenig wie die Bewohner der norwegischen Küstenstadt am Bewusstsein einer Amfortas-Wunde leidet und der Erlösung harrt. Umgekehrt hätte jeder, ob Ritter oder Badearzt, der behauptet, da sei eine Wunde aus Lüge und manipulativer Verstrickung, zu gewärtigen, dass der Speer umgekehrt wird. Wer als selbsternannter Verkünder der Wahrheit den Vorwurf erhebt, dass ein heutiges Publikum das Gewissen abgestreift und sich selbstgerecht in der Lüge eingerichtet habe, darf nicht auf Reue rechnen, sondern muss sich – wie Stockmann – darauf gefasst machen, dass die Vorwürfe einfach zurückgeschickt werden und er selbst als ein verlogener, moralisch verkommener Volksfeind dasteht. Diese Schleife könnte sich als ewige Wiederkehr des Gleichen drehen. Der Wiederholung entzieht sich das Publikum - genauso wie die Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft in der Inszenierung - durch (ignorante, desinteressierte, ratlose?) Abwesenheit, die Inszenierung ist gestorben.
Thomas Ostermeier an der Schaubühne und Jorinde Dröse am Gorki-Theater waren sich in ihren Versionen vom Volksfeind von Anfang an bewusst, wie heikel es mit Wahrheitsverkündern ist, zumal im Falle des Badearztes, der nicht bloß die Verlogenheit und die Verfehlungen einzelner Menschen geißelt, sondern die „der kompakten Majorität“ mit ihren Institutionen, politischen Parteien und Medien. Nicht durch Zufall lassen beide die Schlussentdeckung Stockmanns vom stärksten Mann der Welt weg. In beiden Inszcnierungen wird die Mehrheitsgesellschaft in Gestalt des Bürgermeisters, des Vorsitzenden der Hausbesitzer Aslaksen und des Redakteurs Hovstadt (und im Grunde ist es bei Dietz nicht anders) spielend mit dem Badearzt fertig, was schon einmal als beruhigend empfunden zu werden scheint.
Wie ich es sehe, lässt sich Jorinde Dröse gar nicht auf einen Diskurs über Wahrheit und Lüge ein, sie plädiert in der Auseinandersetzung zwischen ihrer Badeärztin und dem Rest des Ensembles ausgleichend in beide Richtungen. Die Mehrheit sollte anerkennen, dass von Ideen ergriffene, bewegte Menschen per se keine Feinde Gesellschaft sind. Auch wenn ihr entschiedenes, als fanatisch empfundenes Engagement unbequem und anstrengend ist, sollte man nicht verlernen hinzuhören und der Versuchung widerstehen, die Bewegten mundtot zu machen. Diese wiederum sollten ihr lautstark anklagendes Gutmenschentum abstreifen und eher bescheiden, aber nachhaltig durch ihr Wirken schon heute zu einer künftig besseren Gesellschaft beitragen, selbst wenn dieses Engagement zunächst vergeblich erscheint. Aber auf gewaltsame Revolution zu setzen ist zu einfach und falsch. So lautet mein Fazit von Dröses Volksfeind.
Eine Schwäche von Thomas Ostermeiers Inszenierung entpuppt sich jetzt offenbar als fernsehaufzeichnungswürdige Stärke. Diese Schwäche sehe ich darin, dass seine Inszenierung in zwei Teile zerfällt. Bei ihm liegt der Höhepunkt – vor allem durch die hervorragende Leistung von Ingo Hülsmann als Bürgermeister Peter Stockmann – im zweiten Akt, der überzeugend als Skandalon gegeben wird, in dem die demokratisch autorisierte Macht die Wahrheit unterdrückt. Ostermeier wagt sich an die Frage an, wie die heutige gobalisierte Gesellschaft mit neuen, „gewissenhaft“ erarbeiteten, aber unbequemen Wahrheiten umgeht. Er macht implizit deutlich, dass gewissenlosem Handeln nicht mit immer detaillierteren „Qualitätssicherungsmaßnahmen“ begegnet werden kann, sondern nur dadurch, das man der Bedeutung von Gewissen und Verantwortungsgefühl zu neuer Anerkennung verhilft. Dieser Ansatz, darin stimme ich voll zu, ist es wert, verbreitet zu werden.
schaubühne war einmal wieder ostermeier par excellence. reduziert, überraschend, leise, zeitgenössisch und herausfordernd. gut, daß er jungen leuten eine chance gibt - gut auch, daß er mit Nina Hoss ein neues Kapitel aufschlägt und fähig ist, kritische phasen mit ausdauer und kreativität zu meistern.
freue mich schon auf die neue spielzeit und hoffe sehr, daß erfahrene kräfte meine ansicht teilen und an die schubühne (zurück) kommen, um gemeisam mit jungen leuten ein neues kapitel aufzuschlagen.
es wäre ungerecht, den Abend als nur gut gemachtes Boulevardtheater abzutun. David Bowies von den Schauspielern mehrfach angestimmtes Changes transportiert die Stimmung der Figuren, die zwischen Rebellion und Anpassung schwanken, als gelungener Soundtrack. Aus dem Ensemble überzeugen vor allem Ingo Hülsmann als selbstgefälliger, alle Kniffe des politischen Geschäfts kennender Stadtrat und Moritz Gottwald, der den opportunistisch-umfallenden Lokaljournalisten Billing sehr unterhaltsam verkörpert.
Vor allem bleibt der Funke in Erinnerung, der trotz zweieinhalb Stunden ohne Pause in den politischen Diskussionen im 4. Akt auf das Publikum übersprang.
Mehr dazu hier: http://e-politik.de/kulturblog/archives/1912-ibsens-volksfeind-an-der-schaubuehne.html