Und dann (UA) / Des Meeres und der Liebe Wellen - Eine Uraufführung und eine Grillparzer-Ausgrabung am zweiten Auftakttag in Leipzig
Verlierlinge und Verliebte
von Ute Grundmann
Leipzig, 4. Oktober 2013. Eine schwarze Wand, ein Felsblock ragt in fahlem Licht in den Raum. Darauf geht eine Frau in weißem Kleid umher, zieht Linien, als schlösse sie sich selbst in ein Gefängnis ein oder als vermesse sie den Raum, der ihr künftig bleibt. Es ist Hero, die zur Priesterin geweiht werden soll, aber kurz davor von der Liebe getroffen wird. So düster beginnt im Leipziger Schauspielhaus das selten gespielte Stück "Des Meeres und der Liebe Wellen" von Franz Grillparzer. Dieses setzte am zweiten Auftakttag der Intendanz von Enrico Lübbe den Premierenmarathon fort, zusammen mit der Uraufführung von Und dann, einem Stück des 1986 in Leipzig geborenen Autors Wolfram Höll, das 2012 mit dem Nachwuchspreis des Heidelberger Stückemarkts ausgezeichnet wurde.
Atemloses Stakkato einer zerbrochenen Welt
Zunächst geht es hoch unters Dach des Schauspielhauses. Hier ist, in den Räumen einer ehemaligen Diskothek, eine neue Spielstätte (und Probebühne) entstanden. Ein kleiner, enger Raum, in den Andreas Auerbach quer einen Kasten gestellt hat, ein Hausgerippe, eine Plattenbauwohnung ohne Platten und Fensterscheiben. Darüber zwei Leinwände, von denen schon beim Einlass ein Mann spricht, "ein Vater, zwei Kinder, drei Verlierlinge, eine Mauer, die keine mehr ist". Das wiederholt sich als Klangschleife und gibt damit Ton und Thema des kurzen Abends vor: Eine Familie, die zerbrochen ist, der die Mutter fehlt; eine Familie, der die Welt kaputt gegangen ist, in der nur noch die gewohnte Wohnung im Plattenbau so ist, wie sie immer war – doch auch hier gehen seltsame Dinge vor sich.
"Und dann" nennt Wolfram Höll sein Stück, ein Titel, der das atemlose, stakkatohafte Erzählen eines Kindes aufnimmt. Das Stück gleicht einer mit der Schreibmaschine getippten Text-Partitur: eine schnelle, spannende Abfolge von Assoziationen, Ängsten, Erinnerungen und Erlebnissen in der Nach-Wende-Zeit.
Pinocchiopuppen essen Papierschlangensuppe
Claudia Bauer nimmt in ihrer Uraufführungs-Inszenierung diesen Rhythmus auf, setzt aber keine reale Szenerie dazu, sondern Verfremdung: In der Wohnung hausen Puppen, Schauspieler mit großen Puppenköpfen und Händen, mit Pinocchio-Nasen. Sie spielen so etwas wie Familie, decken den Tisch, essen Papierschlangensuppe zu Mittag, streiten sich, ob erst der Plattenbau oder erst die Verlierlinge da waren. Darüber immer das Filmbild des Mannes (Vaters?), der sich einen Gletscher wünscht, der alles fortreißt.
Stimmen erinnern sich an Klingeln, auf die niemand antwortet, an die "Panzerparadenstraße", die nun eine "Wagenparadenstraße" ist, auf der West-Autos fahren. Die Stimmen mischen, streiten, erinnern sich, die Figuren erscheinen mal als Puppen, mal im Film. Und auch die, die fehlt, erscheint nur als Projektion auf der Hauswand: Die Mutter. Sie bleibt ein Bild, bekommt keine Geschichte, keinen Hintergrund. Sie ist allein die Fehlende, dort, wo die Kinder-Puppen tapfer sagen, dass sie keine Angst haben, auch wenn sie ihre gewohnte Welt verloren haben. Am Ende ist dann auch der Text nur noch eine Projektion und die Aufführung wird ausgeknipst wie ein Filmprojektor.
Wo auch die Frau ein Recht hat
Für die zweite Premiere ging es dann auf die Hinterbühne des Großen Hauses. So zeigt der neue Intendant an drei Tagen alle Spielstätten und etliche Farben seines ersten Leipziger Spielplans. Dazu gehört eben auch Franz Grillparzers 1829 entstandenes Stück "Des Meeres und der Liebe Wellen". Die junge, zur Priesterin bestimmte Hero soll von der Welt Abschied nehmen. Doch sie begegnet Leander, der übers Meer kommen muss, um sie zu sehen. Bewacht von Oheim und Eltern, treffen sie sich nur einmal. Für eine zweite Begegnung müsste Leander wieder übers Meer schwimmen, Hero ihm mit einem Licht den Weg weisen. Doch sie schläft darüber ein und Leander ertrinkt.
Diesen in Jamben geschriebenen Fünfakter erledigt Mateja Koleznik in gerade mal 90 Minuten. Die slowenische Regisseurin gab ihr Deutschlanddebüt 2012 in Chemnitz, wo Enrico Lübbe Schauspieldirektor war, nun inszeniert sie an seinem neuen Haus in Leipzig. Sie konzentriert sich fast ganz auf die Sprache, es gibt wenig Handlung, wenig Bewegung, die Figuren erscheinen auf jenem Felsblock, der auf der leeren Bühne steht, wie aus dem Nichts und verschwinden so auch wieder. So, hoch über den Zuschauern, wandelt Hero (Lisa Mies) durch die kleine, enge Welt ihres Tempels, der wie ein Fels mitten im Meer zu stehen scheint und ebenso sehr Gefängnis ist. Doch sie scheint bereit, sich in den Tempel zurückzuziehen, wo "auch die Frau ein Recht hat". Und sie widerspricht der Mutter, für die "das Weib nur glücklich ist an Gatten Hand". So wird in Stück und Inszenierung zwar immer mal wieder auf die Situation, die Rechte, die Position der Frau(en) verwiesen, aber zum richtigen Thema wird das nicht.
Fern auf dem hohen Felsen
Auch sonst wird nicht so richtig klar, was uns dieser Grillparzer heute soll. Zu spröde kommt das daher, diese Figuren auf dem Felsen, die sich belauern und belehren. Die Liebe, die Hero und Leander trifft, scheint beide zugleich zu verblüffen und zu verschrecken, knapp und wortkarg deuten sie ihre Gefühle an, von einzelnen Klaviertönen begleitet, immer in Acht vor Lauschern, vor Entdeckung. Und sie werden verraten, von einem unterwürfig-hinterhältigen Diener an den strengen Oheim, der mahnt und mit Strafe droht. Trotz allem will Hero ihrem Leander in der Nacht mit einem Licht den Weg übers Meer weisen, doch sie schläft darüber ein – und nicht die Natur, sondern der finstere Oheim löscht das Licht der Schlafenden.
All das jedoch bekommt keine wirkliche Tiefe, bleibt so wie entfernt wie die Figuren hoch oben auf ihrem düsteren Felsen. Warum vom selten gespielten Autor Grillparzer dieses noch seltener gespielte Stück auf die Bühne muss, kann die Inszenierung leider nicht deutlich machen.
Und dann (UA)
von Wolfram Höll
Regie: Claudia Bauer, Musik: Peer Baierlein, Bühne und Kostüme: Andreas Auerbach, Dramaturgie: Matthias Huber / Esther Holland-Merten.
Mit: Wenzel Banneyer, Daniela Keckeis, Heiner Kock, Markus Lerch.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
Des Meeres und der Liebe Wellen
von Franz Grillparzer
Regie: Mateja Kolznik, Bühne: Henrik Ahr, Kostüme: Alan Hranitelj, Dramaturgie: Alexander Elsner, Torsten Buß.
Mit: Lisa Mies, Andreas Herrmann, Sebastian Tessenow, Jonas Hien, Dirk Lange, Runa Pernoda Schaefer, Ellen Hellwig, Bernd-Michael Baier.
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-leipzig.de
Hier die Nachtkritik zu Enrico Lübbes Leipziger Eröffnungs-Marathon mit Monster Trucks "Who's there", Dieter Boyers UA von Kathrin Rögglas "Lärmkrieg" und Christoph Mehlers "Othello".
Auf der Website von Deutschlandradio (4.10.2013, 23:05 Uhr) schreibt Michael Laages, eigentlich habe nur Claudia Bauers Inszenierung von Hölls "und dann" die "Erwartungen bei der Leipziger Eröffnung erfüllen können". Der Text sei weniger theatralisch, denn "rätselhaft in Poesie und Erzählung", bei Regisseurin Bauers und Ausstatter Andreas Auerbachs "Kinder- und Puppenspiel" werde das "schmerzhafte Erinnern" zum "furiosen, intelligenten Spiel mit fast vergessener Wirklichkeit". Diese Intensität habe keine der anderen Aufführungen erreicht. Auch nicht Grillparzers "Des Meeres und der Liebe Wellen", das Mateja Koleznik "zwar konzentriert und verdichtet" gezeigt, aber nie auf den Punkt "warum notwendig für heute und hier" gebracht habe.
Hartmut Krug schreibt auf der Website des Deutschlandfunks (5.10.2013): Wolfram Hölls "Und dann" sei der Höhepunkt der ersten beiden Eröffnungstage. Claudia Bauer erschließe diesem "arg bedeutungslastigen, stakkatohaft redundanten Text" eine "wunderbar spielerische Sinnlichkeit". Dabei erde sie Hölls Bedeutungstext mit "viel Komik". Ein "körpersprachlich kräftiges", verfremdetes und hochkomödiantisches Spiel. "Des Meeres und der Liebe Wellen" zeige Mateja Koleznik als von "Bedeutungsmusik" untermalte, zugleich "zeichenhafte wie zeigefingrige" Inszenierung. Das Spiel präsentiere Schauspieler mit "kräftiger Körpersprache und vorzüglicher Textgestaltung". Eine "immerhin überzeugende, ordentliche Stadttheater-Inszenierung".
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (7.10.2013) zeigt Irene Bazinger sich angetan von der Wolfgang Höll-Inszenierung "Und dann". Zunächst vom Text: "Die Verlorenheit der Geschwister in einer sich nach dem Mauerfall abrupt wandelnden Welt wird ohne Larmoyanz in surreal gebrochenen Wahrnehmungsfetzen und Lautmalereien aus der Kinderperspektive geschildert." Und dann von der Regie: "Claudia Bauer machte ihre siebzigminütige Inszenierung auf einer kleinen Nebenbühne, der Diskothek, zur beherzten Multimediaperformance, setzte Masken, Filme, Gesang, Projektionen, Wagner-Musik und Geräuscheffekte ein, um die Szenenfolge zwischen einer mit Holzleisten angedeuteten Wohnung einzufangen." Das habe einige schöne kluge Bilder und berührende Momente ergeben. "Doch größeres Vertrauen in den Text statt in die Bühnentechnik hätte nicht geschadet." Weiter mit Grillparzer, dessen "Des Meeres und der Liebe Wellen" Bazinger von Mateja Koležnik "eindrücklich" inszeniert findet: "Ohne Aktualisierungstricks, klassisch streng und psychologisch glaubwürdig wurde psychische Zerstörung und politische Repression kunstvoll-sinnlich transparent."
"Man spielte angenehm pathosfrei, und der Hauptdarsteller war die Stille", schreibt Helmut Schödel in der Süddeutschen Zeitung (7.10.2013) über Mateja Koležniks Grillparzer-Abend. "Das war kein großes klassisches Trauerspiel, eher ein Stück Wehmut, kein verlorener Abend, wenn man sich auf ihn einlässt." Weniger bis gar nichts kann Schödel "Und dann" abgewinnen: "ein pseudoavantgardistisches Gemurmel, dem man immerhin entnehmen kann, dass die Mutter des Autors zu oft nicht zu Hause war und ihn das Wiedervereinigungsdrama unbehütet antraf." Claudia Bauer inszeniere dazu in einer unwirtlichen Wohnung einen grenzdebilen Eiertanz mit menschlichen Puppen. "Alles im Grunde ein abgrundtiefes Missverständnis."
"Ganz großartiges Theater", schwärmt Stefan Petraschewsky im MDR von "Und dann": So eine Textstruktur sei schon vom Material her auf Rhythmus und Sound angelegt,
und die Regisseurin Claudia Bauer habe das großartig, phantasievoll und sehr sinnlich umgesetzt. "Diese Inszenierung ist für mich das große Highlight der Schauspieleröffnung."
"Des Meeres und der Liebe Wellen" findet Petraschewsky misslungen: "Dazu braucht es dann auch Schauspieler, die den Text deklamieren können - konnte aber vor allem die Hauptperson nicht - (…) überflüssig und ärgerlich."
"Einen wohltuenden Theaterabend" hat Dimo Riess mit Mateja Koležniks Grillparzer-Inszenierung erlebt. Er schreibt in der Leipziger Volkszeitung (7.10.2013): "Das Spiel, obgleich der Stoff gerafft über die Bühne geht, erfordert Konzen- tration, gelingt nicht ganz ohne Längen. Es lohnt sich aber, denn darstellerisch überzeugt die Inszenierung."
Über "Und dann" schreibt Peter Korfmacher im selben Blatt: "Claudia Bauer gelingt es, unter diesem grandiosen Text eine dramatische Ebene einzuziehen, die ihn nicht nur bebildert oder in Aktionismus auflöst, sondern ihn albtraumhaft räsonieren lässt." Bauer zeige eine dämonische Kinderwelt, in der sich Wahrnehmung und Vorstellung durchdringen und wechselseitig verformen. Kaum länger als eine Stunde dauere dieser Vergegenwärtigungs-Spuk, aber er lege sich bleiern aufs Gemüt. "Großes Theater im kleinen Format."
Reinhard Wengierek schreibt auf Welt Online (7.10.2013) über "Und dann": Regisseurin Claudia Bauer gelänge mit Wolfram Hölls "melancholischem und zugleich naiv spukhaftem Trauertext über Kindheitsverluste" ein "kleines großes Wunderwerk an zart verspielter Fantasie". Zu "Othello", "Des Meeres und der Liebe Welllen" sowie zu "Emilia Galotti" resümierend und zusammenraffend: Dreimal die "Himmelsmacht Liebe, zerbrochen von den Verhältnissen, den Mitmenschen". Dreimal "Psycho- und Politthriller in einem", dreimal "Schauspielerfutter satt". Dreimal "rabenschwarze Bühne", meist "statisch agierenden Spieler" unter "gleißenden Lichtkegeln in der Black-Box" mit "stark gestrafftem Text". Dreimal überwiegend "Rumsteh-Rede-Antwort-Theater", das "Defizite an schauspielerischer und sprachlicher Intensität" auch noch ausstelle. Dreimal Theater "comichaft reduziert" aufs Nachbuchstabieren des Plots. Alles "allgemeinverständlich, aber wirkungsschwach".
Torben Ibbs schreibt in der tageszeitung (8.10.2013): Claudia Bauer übersetze Hölls "poetisch-verkapselten und mehrfach preisgekrönten Text" "Und dann" in eine ebenso "künstliche wie anmutige Bühnensprache". Spiel und Text kommentierten sich gegenseitig bei diesem menschlichen Puppentheater. Video und geloopte Sounds (Musik: Peer Baierlein) sorgten für "weitere Erlebnisebenen". Ein Abend "voller Theaterlust".
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nur der Fairness halber: In Ute Grundmanns Text lese ich wahrlich keinen Verriss zur UA von Wolfram Höll, vielmehr eine deutlich positive Einschätzung des Textes.
MfG, Anne Peter
Grandioser Einfall, dass die Zuschauer die Hälse recken mussten - die Bühne als oben liegendes, schroffes Kliff.
Gefallen hat mir auch die "Zumutung" der grillparzerschen Jamben-Sprache, die von dem feinen Ensemble in beeindruckender Weise rübergebracht wurde. Für mich war der Oheim Andreas Herrmann insoweit der spannendste Akteur.
Zugegeben: vielleicht empfand ich diesen starken Abend auch nur deshalb so intensiv, weil ich den Othello am Vorabend so banal fand.
(Liebe/r Yves, doch, darf man. Aber bitte sachlich und in angemessenem Tonfall. Mit freundlichem Gruß, die Redaktion)
und durchaus assoziationsanregender, auch historisch betrachtet interessanter Abend mit passendem Bühnenbild und guter, sinnlicher Tongrundierung. Und, richtig:"Kräftige Körpersprache und vorzügliche Textgestaltung" (der Oheim Andreas Herrmanns verdient die gesonderte Würdigung in § 11 allemal, gerade in diesem Zusammenhang: selten einen klareren , besseren Sprecher gesehen als Herrn Herrmann gestern). Pathosfrei und nachdenklich, ein Abend bewußt vom Hier und Heute abgesetzt, so ähnlich würde ich in aller Kürze Herrn Schödel beipflichten, und jederzeit gemahnend an die Möglichkeit im Hier und Jetzt solcherlei Strukturen aufzufinden, wozu das beherzte und frische, wenn auch auf engem Raum konzentrierte Spiel und die besagte Stille (Schödel) gehörig beitragen. Ich kann den Abend auf der Hinterbühne empfehlen..
Die Aufgabe, diesen Text umzusetzen, ist keine übermäßig dankbare, doch in Claudia Bauer hat Wolfram Höll eine kongeniale Partnerin für die Uraufführung gefunden. Bauer konkretisiert nicht, sondern abstrahiert. Andreas Auerbach hat ihr ein Plattenbauskelett gebaut, in dem sich überdimensionale Kinderpuppen bewegen. Sie spielen Alltag – mit Papierschlangenspaghetti und Papptrinkflaschen. Die viel zu großen Köpfe grinsen unentwegt in diesem Alptraum aus flackerndem, fahlen Licht und monströs verzerrter Banalität. Das Normale ist eben nicht mehr normal, wenn seine Basis verschwindet, das Alltägliche wird zum Monströsen, Grotesken, Apokalyptischen. Bauer gibt dieser Verschiebung Bilder, sie schafft eine Atmosphäre des Phantastischen, irgendwo zwischen Geistergeschichte und Alptraum, zwischen Märchengrusel und kindlicher Einbildungskraft. Ihr gelingt es eine Atmosphäre zu schaffen, die einen ganz eigenen, aber ungemein zwingenden Sog entwickelt, der das Ringen mit der Unbegreiflichkeit der Abwesenheit Sicht- und fühlbar macht. Eindrücklich jenes Abschiedsbild, in dem die Figuren mit ihren Händen eine lebende Leinwand formen, auf welcher das Bild der Mutter zum letzten Mal erscheint.
Dazu kommt Hölls Sprache, die Bauer melodisch und rhythmisch umsetzt. Die Worte werden zu Trommelschlägen, sie marschieren, tippeln, stolpern, gehen voran und bleiben stehen. Die Sprache wird zum Klang, Passagen werden gesungen oder zumindest melodisch getönt, gegen Ende steht ein fast kirchlich anmutender Kanon, der Text fächert sich immer wieder in parallele Sprachwelten auf, eine Polyphonie des Verlorenen. Die klanglichen Qualitäten der Sprache sind mindestens so wichtig wie ihre Wortbedeutungen, sie bilden eine ganz eigene Ebene der Vermittlung, die gleichberechtigt neben dem Visuellen und dem Gesagten stehen: Bauer und Höll erzählen drei Geschichten in drei Sprachen, die am Ende zusammenkommen in einer Erkenntnis, die sich nicht auf einer der drei allein spiegeln lässt. Vielleicht sind diese Ebenen auch die „Verlierlinge“ und das Verbindende der Gletscher, der vielleicht nie kommt, aber dessen Denkbarkeit ausreicht, um weiterzugehen, wenn das Licht erloschen ist.
Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2014/06/11/wenn-das-nichts-singt/