Aus dem bürgerlichen Heldenleben - Am Münchner Residenztheater verlegt das Duo Kühnel/Kuttner Sternheims Kapitalismus-Zyklus ins Heute
Biedermann und Bollywood
von Petra Hallmayer
München, 21. Februar 2014. Neben mit Blumengirlanden geschmückten Götterbildern steht ein Fernseher. Das Heim der Maskes, durch das Luise im Sari huscht, ist mit bescheidenem Wohlstand ausstaffiert. Zum Auftakt ihrer Adaption der ersten drei Teile von Carl Sternheims Maske-Tetralogie aus dem Zyklus "Aus dem bürgerlichen Heldenleben" entführen Tom Kühnel und Jürgen Kuttner im Residenztheater nach Indien.
Seitdem der Kapitalismus von Krise zu Krise stolpert, ist das Interesse an Sternheims Bürger-Zyklus neu erwacht, der über drei Generationen den Triumph der Profitgier und die stufenweise Verwandlung des konservativen Kleinbürgers in einen von aller Moral befreiten modernen Kapitalisten illustriert. Kühnel und Kuttner haben die Erfolgsstory der Familie Maske aus dem Wilhelminismus in die Gegenwart verlegt.
Nietzschetrunkens Geschwätz
Da ist der Ausflug nach Indien erst einmal ein kluger Coup. Hier kann sich Theobald in "Die Hose" noch ungehemmt als Herr und Gebieter austoben und polternd über den skandalösen Ausrutscher seiner Gattin empören, die in aller Öffentlichkeit ihre Unterhose verloren hat. Deren Missgeschick lockt zahlungswillige Untermieter an, die Luise (Hanna Scheibe) umschwänzeln, derweil er seine neuen Einkünfte berechnet. Zur Erfüllung ihrer erotischen Sehnsüchte taugt ohnehin weder der intellektuelle und emotionale Schaumschläger Scarron, der sich nur an seinen eigenen Worten berauscht, noch der hypochondrische Wagner-Verehrer Mandelstam. Wenn Oliver Nägele als Theobald auf das nietzschetrunkene Geschwätz der Beiden mit seiner gemütlichen Biedermannsideologie antwortet, wird es richtig komisch.
In vielen Szenen aber erleben wir gehobenes Boulevardtheater. Da flattern Hände gen Himmel und werden theatralisch die Augen verdreht, die Frauem schnattern, flöten und schwenken in putzigen Bollywoodmusical-Anleihen die Hüften. Zunehmend wird klar, dass die Saris und die über die Bühne rollende Rikscha nicht mehr sind als hübsche Deko und Indien Kühnel und Kuttner nur als Staffage dient. Statt das Thema Globalisierung weiter zu verfolgen, auf das auch die auf dem Bühnenvorhang prangende multilinguale Uhrenwerbung verweist, lassen sie Sternheims Komödien überraschend ungebrochen dahinschnurren.
Videogarnierte Exkurse
Wie Papa Theobald erweist sich auch dessen Sohn (Johannes Zirner) in "Der Snob" als passionierter Rechner. Um auf der Karriereleiter ganz nach oben zu klettern, unterwirft Christian seine Beziehungen einer nüchterner Kosten-Nutzen-Kalkulation. Er entledigt sich seiner Geliebten, die ihm den Weg aufwärts ermöglichte, verhandelt bei einem Treffen mit seinem Vater, bei dem beide die Pointen schön ausspielen, über den Preis der Abschiebung seiner Eltern in die Schweiz. Zielstrebig meistert der zum Schnösel mutierte Sohn kleiner Leute mittels chamäleonhafter Anpassung und Heirat mit einer Adeligen seinen Aufstieg in die Wirtschaftselite. Zwischendurch schaltet sich der Verbalfeuerwerker Kuttner mit zwei videogarnierten Exkursen ein. Er sinniert über Bürgertum und Heroismus, schlägt einen Bogen von Descartes zu Juliane Werding und hält einen Monolog über den Krieg heute. Das erhellt zwar die Inszenierung nicht weiter, doch Kuttner zuzuhören, macht einfach Spaß.
Im dritten Teil der Aufführung treffen wir Christian wieder, der in einer Art Zen-Garten im Yogasitz auf einem Stein thront. Den gealterten Großindustriellen haben Zweifel an dem Wirtschaftssystem beschlichen, dessen Vertreter er ist. Er hadert mit seinem nichtsnutzigen Lackaffen-Sohn und seiner Lieblingstochter Ottilie, die sich in seinen Sekretär Wilhelm, einen ehrgeizigen Revolutionär, verliebt. Dafür tritt ihm in ihrer Schwester Sofie, mit der er sich in einen letzten Machtkampf verstrickt, die eigene Skrupellosigkeit potenziert entgegen.
Overacting im Bühnennebel
In "1913" lässt das Regieduo die komödiantische Leichtigkeit hinter sich. Allein es findet unentschlossen zwischen Ernsthaftigkeit und Ironie, Aktualisierungsansätzen und Texttreue mäandernd keinen überzeugenden Zugriff auf das Stück. Christian schlurft tattergreisenhaft umher, schnarrt, kräht und bellt heiser, Ottilie singt Eichendorff, Wilhelm beschwört den Umsturz und schreit im Turbotempo Auschnitte aus "Der kommende Aufstand" ins Mikro. Das persiflierende Overacting entwickelt keinen Witz, und wenn der Herrscher über ein Industrieimperium zu aus einem Portal quellenden Bühnennebelschwaden tot darniedersinkt, reibt man sich ratlos die Augen.
Die Vergegenwärtigung Sternheims in einem globalisierten Kapitalismus, die die Eingangsbilder versprachen, löst die Inszenierung nicht ein, die mit einer unpointiert zerfledderten Szenenfolge ausklingt. Von Kühnel und Kuttner hatte man sich mehr erwartet als dieser Abend bietet.
Aus dem bürgerlichen Heldenleben: Die Hose. Der Snob. 1913.
von Carl Sternheim
Regie: Tom Kühnel und Jürgen Kuttner, Bühne, Video: Jo Schramm, Kostüme: Ulrike Gutbrod, Licht: Tobias Löffler, Dramaturgie: Angela Obst.
Mit: Oliver Nägele, Hanna Scheibe, Katharina Pichler, Franz Pätzold, Jens Atzorn, Jürgen Kuttner, Johannes Zirner, Gerhard Peilstein, Friederike Ott.
Dauer: 3 Stunden 45 Minuten, eine Pause
www.residenztheater.de
Christine Dössel winkt in der Süddeutschen Zeitung (24.2.2014) ab: In den vier Stunden des "kritisch-witzigen Textaufmischer-Duos Tom Kühnel & Jürgen Kuttner" komme "am Ende reichlich wenig herum, nichts zum Mitnehmen, keine Erschütterung, keine Erregung, kein Ach oder Aha. Leider auch kein großes Schauspiel." Eine Ausnahme von "Theater-Schmock und krudem Eklektizismus", der hier geboten werde, bildeten "Kuttners philosophisch mäandernde Zwischeneinlagen im gewohnt plappernd-assoziativen Extempore-Stil", "die gelegentlichen Sinnesreizungen durch Ausstattungs-Opulenz" sowie "einige schauspielerische Einzelleistungen (vor allem: Oliver Nägele, Johannes Zirner)". Ansonsten habe die "übertriebene Künstlichkeit, mit der hier vom Melos in den Musical-Schmalz, in hehres Opernpathos oder den allerkonventionellsten Gestus des Boulevardtheaters gewechselt wird", etwas "Unausgegorenes, manchmal schier Laienhaftes".
Für Alexander Altmann vom Münchner Merkur (online 23.2.2014) ist das "gelungene 'Outsourcing' des Spießertums nach Indien" die "einzige zündende Regie-Idee des fast vierstündigen Abends". Auch für ihn ragen die ebenso "intelligenten wie durchgeknallten" kulturphilosophischen Einlassungen Kuttners heraus. Ansonsten läuft aber "unter der exotischen Kostümierung eine ganz konventionelle Boulevard-Satire ab, die an Biederkeit Herrn Maske nicht nachsteht. Das Ergebnis ist eine unterhaltsame, oft witzige, aber harmlose Aufführung."
Für Matthias Hejny von der Münchner Abendzeitung (online 23.2.2014) "bleiben am Ende einerseits zwischen Bollywood und Bayreuth zu viele lose Enden liegen. Andererseits ist, was sich an diesen losen Enden findet, mitreißend erfrischend erzählt. Dazu gehören, unter anderem, Kuttners Auftritte als druckvoller Edel-Kabarettist im Staatstheater-Glamour und die Qualität, mit der Sternheims schnörkellose Sprache klirrend klar über die Rampe kommt."
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Bin wirklich verärgert über eine so unscharfe und konturlose Regie.