Die kosmische Oktave - Wie Nis-Momme Stockmann in den Sophiensaelen zu Berlin von Liebe sprach und Ulrich Rasche Chöre marschieren ließ
Noch einmal: mit Gefühl!
von André Mumot
Berlin, 21. März 2014. Gegen Ende packt die Freundin des Schriftstellers ihre Sachen und geht. Man kann ihr das wirklich nicht übelnehmen, schon weil dieser Stückeschreiber, mit dem sich Nis-Momme Stockmann hier selbst porträtiert, ständig so aufgeblasen wie selbstverliebt von Freiheit redet, von der Liebe als "der unausstehlichsten Daseinsform von allen", als dem großen "strukturellen Gefängnis". Was unter anderem daran liegt, dass er gerade an einem Stück arbeitet, das von diesem Gefängnis handeln und "Die kosmische Oktave" heißen soll. Seine Freundin aber sagt zum Abschied – in schlichter, schöner Großartigkeit: "Du weißt gar nichts über Liebe. Und du solltest auch wirklich nicht darüber schreiben. Du solltest einfach mal die Fresse halten."
Großartig faselnde Ich-Erzählung
Ausgehend von Goethes eiskalten "Wahlverwandtschaften" hat sich das noch immer amtierende Boy-Wonder der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik mit der grausamen Unberechenbarkeit von zwischenmenschlichen Beziehungen auseinandergesetzt und dafür eine aufmerksame Nabelschau betrieben. In einer ausführlichen, eigentlich undramatischen und essayistisch ausgepolsterten Ich-Erzählung lässt Stockmann die eigene Kindheit Revue passieren, in der alles auf jenen traumatischen Moment zusteuert, an dem seine Mutter die Familie und die Insel Föhr verlässt, um sich noch einmal zu verwirklichen, um noch einmal freier zu leben.
Diesen Erinnerungen, die überquellen von großartig beobachteten Details und weitschweifiger Soziologen-Faselei, von Wahrheit und schlecht verheiltem Kummer, stellt sich Regisseur Ulrich Rasche in den Berliner Sophiensaelen mit der ihm eigenen Feierlichkeit: Vor nackter Wand und in traurig verwehten Kunstnebelschwaden schreiten seine Darsteller über gewaltige Laufbänder, treten deklamierend auf der Stelle, wechseln sich in strengem Rhythmus ab und werden dabei fast unablässig musikalisch umschmeichelt und angetrieben.
Zwischen Wahnsinn und Seelenschmelze
Ari Benjamin Meyers hat für diesen Anlass eine kompetent hypnotisierende Philip-Glass-Imitation komponiert, die Robert-Wilson-Schüler Rasche naturgemäß entgegenkommt: Ein pulsierender Teppich repetitiver Muster, aus dem immer wieder sehnsüchtige Cello-Kantilenen aufsteigen und zu dem der fabelhafte Tenor Guillaume Francois mal weich ausschwingende, mal peitschend abgehackte Vokalisen beisteuert.
Das Ergebnis ist ein Drei-Stunden-Musik-und-Text-Theater zum Wahnsinnigwerden und Dahinschmelzen, ein Abend, den man entweder ergriffen und mitgerissen aufsaugt oder Haare raufend verlässt (was einige Premierenbesucher dann auch bereits vor der Pause tun). Ein geradezu unheimlich konsequentes Happening, das so geduldig ist mit seiner Vorlage, dass es fast zwangsläufig ungeduldig macht, das beweist, dass der Grat zwischen spröde und öde sehr schmal ist, und das sich, während es fasziniert und betört, auch immer wieder in seinem hohen Ton verfängt: Vor allem Corinna Kirchhoff gefällt sich während ihrer manieriert ausgestanzten Monologe allzu sehr im eigenen Tränenglitzern und fassungslosen Silbenzerdehnen.
Dabei ist das, was diesen doch sehr privaten Stockmann-Text eigentlich ausmacht, das unbarmherzig unpathetische Luft-Rauslassen aus dem eigenen Show-Zynismus, die lakonische (und bisweilen garstig-komische) Selbstbespiegelung eines Künstlers, der einsehen muss, dass er in seiner Kitschangst und den ewig wiederholten Abgeklärtheitsphrasen alle Lebensperspektiven verloren hat. Vor allem in einer Begegnung mit dem bodenständigen Bruder, die profund demonstriert, was Stockmann für flüssig-kluge und unprätentiös stimmige Dialoge schreiben kann, kommt das zum Ausdruck: "Du bist ein trauriges, selbstgerechtes narzisstisches Arschloch", stellt dieser Bruder sachlich fest, "– wie ich sie zu Tausenden sehe, wenn ich durch Berlin laufe. Ein Arschloch, das von nichts zu wenig und von dem meisten zu viel hat – vor allen Dingen aber von Ego und Zeit."
Gefühlsfanal zerbricht Panzer
Es scheint, als würde Ulrich Rasches melodramatisches Aufbauschungsverfahren, sein erhabener Gänsehaut- und Rührungs-Eifer, diesem rüden Desillusionierungston zuwider laufen. Tatsächlich aber geht es ihm und Stockmann am Ende um etwas anderes, um die Rehabilitation des ganz großen, des unverstellten Gefühls – ein Ziel, das sie mit staunenswerter Verve erreichen. Es ist die Musik, die es in ihrem streng ritualisierten Minimalismus schafft, zugleich abstrakt und emotionalisierend zu wirken, die schonungslos und unentrinnbar den intellektuellen Panzer durchbricht, die die Schönheit durchsetzt, ohne die Gedanken zu verkleben. "Die kosmische Oktave", die so viel Zeit darauf verwendet, im Zweckpessimismus gegen die bürgerlichen Beziehungsformen zu wettern, kulminiert so in einem von Schmerzen angefeuerten Gefühls-und-Treue-und-Wahrhaftigkeits-Fanal, das sich gewaschen hat – vor allem, weil es sich seiner ideellen Naivität nicht schämt.
Toni Jessen, der an diesem Abend besonders stark, besonders funkelnd und spitz und klar die Stockmann-Worte über die Rampe bringt, denkt jedenfalls gar nicht ans Fresse halten. Erregt und mit flammenden Augen schreitet er am Ende übers Laufband und schimpft darüber, wie wir immer "tiefer und tiefer sinken ins Ego und das als Fortschritt abfeiern", während die Musik anschwillt und anschwillt, lauter und lauter wird und noch die letzte Scham abwirft. "Lasst uns von Liebe sprechen", ruft er ins hypnotisierte Publikum hinein. "Lasst uns sie eine Sekunde ernst nehmen. Wenn es uns lächerlich macht: Bitte!"
Die kosmische Oktave
von Ulrich Rasche und Nis-Momme Stockmann
Regie und Bühne: Ulrich Rasche, Musik: Ari Benjamin Meyers, Kostüme: Sara Schwartz.
Mit: Corinna Kirchhoff, Toni Jessen, Bettina Hoppe, Kornelia Lüdorff, Dorothea Arnold, Timo Weisschnur, Dominik Paul Weber, sowie: Guillaume Francois (Tenor) und Mitgliedern des Zafraan Ensemble: Miguel Pérez Iñesta, Zoé Cartier, Thomsen "Slowey" Merkel.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.sophiensaele.com
Schwere Geschütze fährt Kai Luehrs-Kaiser vom rbb Kulturradio (22.3.2014) gegen Stockmanns Text auf, in dem er "flaches, trotz Rollenwechseln halbgares Pubertätsgestammel" findet sowie "Selbstverwirklichungspathos und Betroffenheits-Schlabber". Ein enormer, "sehr respektabler Schauspieleraufwand" wird dem Abend attestiert (selbst wenn Corinna Kirchhoff ins "Edith-Clever-Epigonentum" verfalle) sowie "eine gute, wenn auch pauschal abstrahierende Regie (irgendwo zwischen Robert Wilson, René Pollesch und Andreas Kriegenburg)". Rasche biete Auftritte von "durchaus furchterregender Virtuosität. Keine Mimik, keine Gestik, keine Interaktion. Sondern nur Sprache, als wäre man bis zum Hals eingegraben."
Das Stück könne man pubertär finden, so Patrick Wildermann im Tagesspiegel (25.3.2014). "Zumal, wenn am Ende das große Bekenntnis zum Gefühl gefordert wird. Aber der heilige Ernst dieser Inszenierung verfehlt seine Wirkung nicht." Die Musik treibe Stockmanns Text furios an und hebe ihn "in Sphären jenseits der Probleme mit Neoliberalismus und Libido". Corinna Kirchhoff Tragödiengrollen schramme zwar "die Lächerlichkeit, öffnet aber reizvolle Kontraste". Außerdem: Sprache könne Stockmann: Hinter viel Text wüte "seine Sehnsucht nach Haltung. Und die verdient ein genaues Hinhören."
Es sei "kein sonderlich sympathisches Selbstbild", das Stockmann in der "offensichtlich höchst biografisch" grundierten "Kosmischen Oktave" schonungslos offen lege, meint Till Briegleb anlässlich der Aufführungsserie auf Kampnagel Hamburg in der Süddeutschen Zeitung (13.10.2014). Stockmanns Alter Ego strotze "vor Zynismus, Kalkül und Überheblichkeit, ist blockiert in allen Formen, einfach Zuneigung auszudrücken, und nur gut darin, Verwandte und Geliebte mit gestelzt intellektuellen Wortwaffen niederzuhalten." Die "hohe Intelligenz und Ehrlichkeit dieses Stückes" lägen aber "in der Fähigkeit, dies mit Abstand klar zu beschreiben und dabei eine verschämte Geschichte der Verletzlichkeit bloßzulegen." Regisseur Ulrich Rasche habe daraus "einen langen strengen Psychoworkshop gemacht, der seine Erinnerungsbefreiung aus der Technik gewinnt, dass Menschen beim Gehen am Fließendsten denken."
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"Zwischen Weltkrieg Zwei und Drei drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte. Der Gebrauch des Wortes 'Humanitätsduselei' kostete achtundvierzig Stunden Arrest oder eine entsprechend hohe Geldsumme. Die meisten der Deutschen nahmen auch, was sie unter Humanität und Güte verstanden, äußerst ernst. Sie hatten doch seit Jahrhunderten danach gelechzt, beliebt zu sein. Humanität und Güte erschien ihnen jetzt der beste Weg zu diesem Ziel. Sie fanden ihn sogar weit bequemer als Heroismus und Rassenlehre."
Und dazu passt auch wieder ganz wunderbar das gesungene "Ha ha ha" von Guillaume Francois. Toll auch die Besetzung, über welche der Text quer zu den Geschlechtern gesprochen wird bzw. als Textfläche durchläuft. Damit werden im Grunde zwei Ebene aufgemacht: Die akustische Ebene des Gehörten und die visuelle Ebene des Gesehenen. Und eine dritte Ebene, WIE etwas gesprochen wird. Eine Sandkastenliebe funktioniert so auch genauso gut zwischen zwei jungen Frauen. Und die Liebe zwischen Vater und Sohn (dem Älteren, also Stockmann) scheint hier sowieso unabdingbar, damit diese ihren Selbsthass nicht auf die Frauen/Mütter/Partnerinnen projizieren.
Zwischendrin wurde es allerdings etwas lang bzw. langweilig, aber sowas kommt von sowas, oder? So muss sich wohl die Zeitblase aus permanenter Gegenwart anfühlen. Die Frage ist also: Wie kommen wir miteinander zurecht, auch in der Langeweile, ohne einander an die Gurgel zu gehen? Ohne einander zu verletzen? Irgendwie fehlt hier das spielerische Element. Das dialogische Spiel. Hier zeigen sich nur Monaden, welche sich aber weder zueinander noch zu etwas Höherem in Beziehung setzen. Zu etwas, das man nicht beherrschen und über das man nicht herrschen, sondern dem man im besten (und nicht demütigen) Sinne dienen sollte: der allumfassenden Liebe. Nicht fordern, sondern vielleicht auch mal lachen? Sonst verbreitet sich eine Stimmung, die nicht auszuhalten ist. Mit voller Absicht. Ja. Genau. Und den Überschuss darf man sich auch gern mal gönnen, solange es ein Überschuss bleibt. Am Ende zählt ex negativo und unzweifelhaft sowieso das eigene Seelenheil bzw. die Seelenlust: Es muss doch etwas geben, wofür es sich zu leben lohnt! Stockmanns Selbstanklage ist in meiner Wahrnehmung die des Autor als alleiniger Schöpfer von Text- und Bühnenwelten. Über die reale Welt und seine Familie sagt das für mich noch gar nichts aus. Weltwahrnehmung ist immer nur perspektivisch. Das ist die Chance und die Qual.
was ist denn das für ein satz?! was ist denn das für eine beobachtung eines um-sich-kreisenden textes, der weder lakonisch, noch "garstig-komisch" ist, der einfach nur banal, präpubertär, alles in allem eine frechheit ist. kurz kam mir der gedanke: das ist absicht, das ist absolute provokation. genial. wie lange hält man es aus, banalitäten aus stockmanns leben zu lauschen, ohne vom stuhl aufzuspringen und "aufhören!" zu rufen. aber dann wurde mir klar, das ist ernst gemeint. das ist ein junge von der insel föhr, der hält das alles tatsächlich für den nabel der welt, sich selbst für ein genie (schon in kinderjahren, erzählt uns der text), der weiß um seinen narzissmus und ist sogar so narzisstisch, dass er nicht müde wird, uns von seinem wissen davon zu erzählen! wow!
kann man machen, aber wieso man das macht, ist mir trotzdem ein rätsel. mich jedenfalls interessiert es null, einem selbstgefälligen, selbstverliebten, prätentiösen, in die absolute mitte des tellerrand fokusierten befindlichkeits-quatsch zuzuhören. drei stunden.
ein guter moment: bettina hoppe im dialog über winterreifen. ihr "blöde sau" klang so schön ehrlich und von herzen.
p.s. "erregt und mit flammenden augen", "funkelnd, spitz und klar", das klingt nach julia, baccara, tiffany und co schundromanen, lieber andré mumot. meine empfehlung: weniger adjektive.
Die anderen Stücke von ihm sind im Prinzip genauso, und ich finde einfach, daß ein gnädiger Dramaturg oder sonstwer dem armen Mann einfach mal ein ordentliches Thema geben und dann anketten sollte. Denn schreiben kann er schon.
Beim gräßlichen Schlußmonolog war bei mir allerdings auch Sense.
Klasse Laufbänder.
Bettina Hoppe ist super.
Ansonsten war eine Entdeckung für mich: Dominik Paul Weber.
Lieber Stephan Thiel. Was für eine generalisiernede Verunglimpfung eines Kollegen. Bei welchem von Stockmanns Stücken geht es denn nur um "Ich Ich Ich". Das müssen sie mir mal erklären. Da fällt mir eigentlich nur eins ein "Kein Schiff wird kommen" und über den biographischen Gehalt lässt sich streiten. Ich finde das ist eine traurige und selbstherrliche Art über Theater zu denken und zu schreiben, die leider programmatisch ist. Sogar unter Theatermenschen.
Bin noch nicht ganz fertig, aber so könnte ein Betrachtung von außen beginnen:
Einmal Gott als Baumeister der Ordnung der Welt und des Universums. Daneben die Naturphilosophie der Pantheisten. In beiden Prinzipien schwingt die kosmische Oktave als Urgesetz der Harmonie. In der spirituellen Meditation wie auch in der Musik stimmt man sich z.B. mittels Klangschalen oder Stimmgabeln auf einen bestimmten Grundton ein. Mit diesen Prinzipien kennen sich Dramatiker Nis-Momme Stockmann, der auch tibetische Sprache und Kultur studiert hat, sowie Regisseur und Musiktheaterspezialist Ulrich Rasche anscheinend bestens aus.
Nun muss man keine Angst haben, dass das hier in einem astrologisch-esoterischen oder musiktheoretischen Vortrag endet. Das Prinzip der kosmischen Harmonie übersetzt Stockmann in seinem Text Die kosmische Oktave als einen zeitlich periodisch immer wiederkehrenden, eintönigen Gleichklang, den er schlicht mit dem menschlichen Leben selbst gleichsetzt, und da insbesondere mit der Zeiteinheit von Dekaden bzw. Generationen als sich unabänderlich wiederholende Konstante arbeitet. Wieder Goethe griff in seinem Roman Die Wahlverwandtschaften auf das Prinzip der chemischen Elemente als Vergleich von zwischenmenschlichen Beziehungen mit den Naturgesetzen zurück. Der Versuch, im Zuge der Aufklärung, dem Zeitalter der Entdeckung des Ichs, zu untersuchen, inwieweit Leben und Liebe wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten oder dem eigenen Willen unterliegen. Und das ist dann die zweite, eigentliche Beziehung, auf die sich Nis-Momme Stockmann bei seinen Überlegungen beruft.
Es geht also kurzgesagt um Zeit, Generationenkonflikte, die Chemie zwischen den Menschen und das große Ganze der Welt an sich. Wo es bei Goethe noch an den herrschenden Konventionen scheitert, die die Protagonisten an der Entfaltung ihrer selbst hindern, kommt Stockmann Generationen später in seinem Text zu der Erkenntnis, dass nun dem Menschen plötzlich sein eigens Ego im Weg steht. Dabei tritt der Mensch seit Jahrzehnten eigentlich schon entwicklungstechnisch auf der Stelle, was hier nicht den wissenschaftlichen Fortschritt meint, sondern den ganz persönlichen, menschlichen Entwicklungsprozess. Als Objekt seiner Untersuchung wählt Stockmann dann ganz naheliegend auch die deutsche Kleinfamilie und sich selbst als Haupt-Protagonisten. Zumindest ist dieser ein Alter-Ego des Autors. Sein Goethe’sches Landgut ist die heimatliche Insel Föhr, auf der er mit seinen Eltern und dem Bruder aufgewachsen ist.
usw. usf.
Spinoza vertritt den Pantheismus - Gott ist in der Welt allgegenwärtig - Gott wird letztlich mit der Welt identifiziert. Spinoza vertritt ein
mechanistisches und d e t e r m i n i s t i s c h e s Weltbild.
Der Determinismus ist im weitesten Sinne die Auffassung, dass die gesamte Wirklichkeit beziehungsweise Teile der Wirklichkeit - z.B. Natur, Geschichte, menschliches Handeln, durch bestimmte Faktoren, z.B. Gott, Naturgesetze, Gesetze der Geschichte eindeutig festgelegt, bestimmt ist - im engeren Sinne die Auffassung, dass menschliches Handeln ebenso kausal-gesetzmäßig bestimmt, also determiniert ist wie das Naturgeschehen - da der menschliche Wille stets durch äußere oder innere Ursachen bestimmt, also determiniert ist beziehungsweise dem Kausalprinzip unterliegt, kann es keine WILLENSFREIHEIT bzw. keine menschliche FREIHEIT überhaupt geben.
Das menschliche Handeln und Denken kann durch unterschiedliche Faktoren
determiniert sein. Es können bestimmte physische bzw. biologische Prozesse sein, denen das menschliche Denken und Handeln unterliegt, ferner psychische Prozesse(bedingt z,B, durch neurotische Störungen) - schließlich sind gesellschaftliche bzw. soziale Faktoren von großer Bedeutung(familiäre Beziehungen, gesellschaftlicher Status, Rollenverhältnisse usw.).
Ja, Determinismus ist ein guter Hinweis. Und zwar in dem Sinne, der im Stück festgestellten Alternativlosigkeit. Ein Prinzip, das auch durch die regierende Politik vertreten wird, z.B. wenn Bankenrettungsschirme aufgespannt werden, um das Geldsystem am Leben zu erhalten. Ein Teil von Stockmanns Feststellung: Wir schrauben mit an unserer Zukunft, werden damit zu „Fürsprechern der kapitalistischen Grundordnung“. Ob nun bewusst oder unbewusst, sei mal dahingestellt. Von daher ist Stockmanns Stück eher eine Kritik an Spinoza und am herrschenden Determinismus. Seine nächste Kritik bezieht sich auf das Ego. Spinoza sagt: „Dass jeder sich liebe, seinen Nutzen, soweit er wahrhafter Natur ist, suche und alles, was ihn zu einer größeren Vollkommenheit führt, erstrebt; überhaupt sein Sein, soviel er vermag, zu erhalten sucht: dies ist sicherlich so wahr wie der Satz, dass das Ganze größer ist als der Teil.“ (Ein durchaus positiver Egoismus, der auf Selbsterhalt und letztendlich dadurch auf das Ganze zielt. Dabei setzt er die Vernunft voraus.) Bei Stockmann dreht es sich bekanntlich immer irgendwie ums Ego, was ihm auch ständig als Ich-Bezogenheit ausgelegt wird. Im Stück verlässt die Mutter das System der Kleinfamilie, um sich zu verwirklichen. Der Ich-Erzähler (Stockmann?) hasst sie dafür und bleibt aus falsch verstandener Solidarität beim Vater. Später wird er sich selbst egozentrisch verhalten, seine Beziehung scheitert. Wille (das was er schreiben will) und Tat (wie er sich verhält) sind nicht eins. Man kann das auch mit dem Grundproblem von Geist/Seele und Materie/Körper gleichsetzten. Spinoza trennt sie nicht. Sie sind zwei Seiten einer Medaille. Anders Descartes, der Körper und Materie trennt und eine Krücke (Zirbeldrüse) schafft, um sie zu verbinden. Ein Widerspruch, den die Philosophen unterschiedlich zu lösen versuchen. Das drückt sich auch im Verhältnis von Bewusstsein und Materie aus. Und da scheiden sich ja bekanntlich die Geister.
Stockmann schlägt sich jetzt nicht zwingend auf eine Seite. Er zweifelt, und aus seiner Erkenntnis folgt Zorn. Er bleibt aber meiner Meinung nach ein romantischer Moralist und Idealist. Den Schlussmonolog über die Liebe deute ich jedenfalls so.
Nochmal zurück zum Determinismus. In Sartres Drehbuch zu „Das Spiel ist aus“, in dem er sich ja auch mit dem Determinismus und der Liebe auseinandersetzt, verhalten sich die Protagonisten ja wissentlich, das es ihren Untergang bedeutet, so wie vor ihrem Tod. Tun sie das aus freiem Willen, vorbestimmten Verhaltensmustern oder aus ihrer Klassenzugehörigkeit heraus? Bestimmen hier nicht auch äußere Verhältnisse ihr Handeln? Sie handeln aus Verantwortungsgefühl für eine Sache (andere Menschen), aus Idealismus und Moral gegen die Liebe. Sind Liebe, Moral und Idealismus also überhaupt vereinbar? Rettet uns die Liebe vor den Übeln der Welt? Diese Frage würde mich an Nis-Momme Stockmanns Text und Jette Steckels Inszenierung am DT interessieren.
@ Inga
Im Prinzip ja. Verantwortung ist immer gut. Menschen sind aber auch geprägt durch die Angst vor Konsequenzen? Und woraus erkenne ich überhaupt meine Verantwortung? Was sind die Kriterien? Für die meisten bedarf es immer eines allgemeinen moralischen Kodex‘, aus dem heraus der Mensch seine Verantwortung erkennt. Sie können natürlich auch als guter Christ handeln, was Sie vermutlich ja nicht sind. Determinismus folgt ja immer auch aus der Anerkennung einer bestimmten Gegebenheit. Moral und verantwortliches Handeln leiten sich zumeist daraus ab. Das könnte man auch gesellschaftlichen Determinismus nennen. Es kann in einem anderen System auch eine ganz andere Moralvorstellung herrschen. Da müssen Sie jetzt schon genauer werden, zu was Sie sich bekennen. Kommentator 15 sagt: „schließlich sind gesellschaftliche bzw. soziale Faktoren von großer Bedeutung (familiäre Beziehungen, gesellschaftlicher Status, Rollenverhältnisse usw.)“. Die Übertragung der Natur auf die Gesellschaft ist ein schöner bildlicher Vergleich, um bestimmte Handlungsweisen zu beschreiben. Daraus lässt sich natürlich noch nicht zwingend ein gesellschaftlich bedingter Determinismus ableiten. Das ist ja nicht alles per se alternativlos, oder unabänderlich. Da fehlt es am Willen. Erstens das zu erkennen und zweitens entsprechend zu handeln. Mit freiem Willen hat das aber nur bedingt zu tun. Stockmann zeigt in seinem Stück Abhängigkeiten auf und macht Angebote. Was wäre denn Ihre Vorstellung von Freiheit außer Verantwortung? Stockmann dekliniert ja einige Beispiel für individuelle Freiheit durch, also das, was uns noch ein Freiheit geblieben ist.
filosofischen wörterbuch nachschauen, damit sie mitreden (schreiben) kann
was zur hölle(ihr kommentatoren und kommentartorinnen) macht ihr da?! -
mit der kosmischen oktave . . .
"So gesehen sind alle Begriffe (Vorstellungen), sagt Oehler, wie Selbstbeobachtung, Selbstmitleid. Selbstbezichtigung und so fort, falsch. Wir selbst sehen uns nicht, wir haben niemals die Möglichkeit, uns selbst zu sehen. Wir können aber auch einem anderen (einen anderen Gegenstand) nicht erklären, wie er IST, weil wir ihm nur erklären können, WIE WIR IHN SEHEN, was wahrscheinlich dem entspricht, das er ist, das wir aber nicht so erklären können, daß wir sagen können, so IST er. So ist alles immer etwas ganz anderes, als es für uns ist sagt Oehler. Und immer etwas ganz anderes, als es für alles andere ist." (Th. Bernhard)
http://www.abendblatt.de/kultur-live/article133199363/Qualverwandtschaften-und-erstarrte-Beziehungsmuster.html