Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene .. - Oliver Klucks Dramatisierung des Buches von Andreas Altmann in Graz
Fromm durchgeprügelt
von Reinhard Kriechbaum
Graz, 30. April 2014. Was für ein Panoptikum, wenn sie zum Schlussapplaus gemeinsam auf der Bühne stehen: Superman, der Pappkamerad, der auch eine (kleine) Rolle als Ausstattungsstück gespielt hat – und Andreas Altmann, Autor des Bestsellers in eigener Sache, schlecht rasiert, in Lederkluft, mit der obligaten Schiebermütze; einer mit dem Anstrich des Outlaws. Die beiden sind dann noch umgeben vom Schauspieler-Quartett, den vier Altmann-Darstellern, die man auf der Probebühne des Grazer Schauspielhauses ins turbulente Uraufführungsrennen geschickt hat für die Dramatisierung von Oliver Kluck.
Raus aus der SS, rein in den Devotionalien-Handel im katholischen Bayern
Der Scheitel sitzt exakt bei diesen vier Altmännern, ebenso die Krawatte um den weißen Hemdkragen. Wie man es eben erwartete in den fünfziger Jahren im kreuzbraven Altötting, in der Familie des Marktführers in Sachen Handelswaren für Frömmigkeit. Der beige Pullover war schon das Maximum an individueller Buntheit, die einem dort (und womöglich nicht nur damals) zugestanden wurde.
Jugend in der Devotionalien-Zelle: Florian Köhler, Franz Solar, Thomas Frank © Lupi Spuma
Schiebermütze und Lederjacke. So also schaut einer mit 64 aus, der das alles durchgemacht hat. Die Jahre gäbe man ihm gar nicht. Der in juvenilen Jahren am Vater gestählte Kampfgeist schlägt durch. "Nicht der Herrgott erlöst dich, sondern deine Lebenswut", hat Andreas Altmann einmal in einem Zeit-Interview gesagt, während seine Autobiographie schon im Ersterscheinungsjahr 2011 Neuauflage um Neuauflage erlebte.
Da ist also etwas in diesem erinnerten Scheißleben, in dem sich ganz offenbar viele aus dieser Generation wiederfinden. Wahrscheinlich auch nicht wenige aus nachfolgenden Jahrgängen, weil so mancher die Kindererziehung ja genau so handhabt, wie er sie an sich erfahren hat.
"Aufschlag auf meiner rechten Gesichtshälfte. Dann eine gepflegte Rückhand auf die linke Seite": Die Spielregeln waren klar im Hause des Franz Xaver Altmann, des SS-Schergen, der jetzt "Rosenkranzkönig" im bayerischen Altötting ist. Marktl am Inn liegt nahe, wo Papst Benedikt geboren ward. In der frommen Gegend waren ganz unterschiedliche Karrieren möglich.
"Arbeitsdienst" in der Familie
Mit Andreas Altmanns Buch ist die auf political correctness bedachte Literaturkritik mehrheitlich sanft und respektvoll umgegangen. Wer verreißt schon freiwillig ein Buch, in dem's der katholischen Kirche heimgezahlt wird? Man will sich ja nicht Beifall aus der falschen Ecke holen. Gott ist mausetot, jedenfalls blind und schwerhörig. Sonst hätte er es zeitig donnern lassen und Blitze auf den alten Altmann geschickt, der den jüngsten Knaben und seine Geschwister zum innerfamiliären "Arbeitsdienst" eingeteilt und mit täglichen Schlägen entlohnt hatte. So hätte das sein müssen, unbedingt.
Oliver Kluck will in seiner Dramatisierung das "Musterhafte einer Kindheit in der deutschen Nachkriegskindheit" herausbringen. Ja eh, der Nazi steckte im Vater und wurde übertüncht. Im Fall des Franz Xaver Altmann eben durch das "Devotionalien-Business: So kann die Hölle aussehen".
Thomas Frank (im Hintergrund) und Sebastian Klein © Lupi Spuma
In der Version von Kluck und der Uraufführungs-Regisseurin Christina Rast ist es eine rasend turbulente Hölle. Man hat den Ehrgeiz, so viel Erzähltext wie nur möglich in den hundert Minuten unterzubringen. Eine Wort- und Phrasenkanonade aus heiß laufenden Mündern. Zu viert sitzen sie an einem langen, schmalen Tisch, verwandeln sie sich gar in eine Combo (die Instrumente stehen am Bühnenrand bereit). Die Letztklasse-Beatles bringen es immerhin bis ins benachbarte Neuötting. Blitzschnell schlüpfen die vier in andere Rollen, in jene des rabiaten Vaters natürlich, den die Nazi-Geschichte "nicht zum Säufer gemacht hat, sondern zum Schwein". Oder in jene der Mutter, wofür ausreichend weiße Kleider zur Verfügung stehen. In angedeuteten Arkaden stehen Kerzen, Kreuze und Marienfiguren. Das bigotte Ambiente ist klar.
Scheißlebens-Rückschau ohne Larmoyanz
Das irrwitzige Spieltempo schadet gewiss nicht, die Sprache des routinierten Situationsschilderers, des geeichten Wortartisten und Formulierungs-Drechslers Andreas Altmann gewinnt so noch an Brillanz und es stellen sich viele Pointen ein. Erstaunlicherweise kann man auch viel Lachen an diesem Abend, auch wenn's gelegentlich im Hals steckenbleibt. Ein Vorzug dieser Scheißlebens-Rückschau ist ja, dass ihr Larmoyanz völlig fehlt. Der (Selbst)Ironie helfen Oliver Kluck und Christina Rast sehr gezielt nach. In ruhigen Momenten wissen sie aber sehr wohl aufs Ungeheuerliche zu fokussieren. "Er war die SS-Maschine, der seine Söhne mit Russenschweinen oder Polackenschweinen oder Judenschweinen verwechselte." Die Hosengürtel sitzen locker und knallen.
Thomas Frank, Sebastian Klein, Florian Köhler und Franz Solar bleiben auch in identischer Kleidung eigene Persönlichkeiten, Leute mit Schrullen und Macken. Der Text ist raffiniert typengerecht aufgeteilt. Was auch herauskommt: Des Autors Lust am Beschreiben – schlimm genug, wie es war! – übersteigt die analytische Tiefenschärfe. Die Psychologie des Andreas Altmann ist im Gegensatz zu den Konfektions-Pullovern der Darsteller deutlich selbstgestrickt.
Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend (UA)
von Oliver Kluck nach dem Buch von Andreas Altmann
Regie: Christina Rast, Bühne und Kostüme: Fatima Sonntag, Dramaturgie: Britta Kampert, Musikalische Einrichtung: Florian Köhler.
Mit: Thomas Frank, Sebastian Klein, Florian Köhler, Franz Solar.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.schauspielhaus-graz.com
Von einer rastlosen, strammen Inszenierung spricht Julia Schaffenhofer in der österreichischen Kleinen Zeitung (2.5.2014). Der Dramatiker Oliver Kluck habe aus einem Einzelschicksal "das Musterhafte einer deutschen Nachkriegskindheit gestrickt". Christina Rast mache aus einer geschundenen Kinderseele viele und schicke zu diesem Zweck vier Schauspieler "in die karge altarförmige Devotionalienzelle der Ausstatterin Fatima Sonntag." Abwechselnd oder synchron sieht sie die Schauspieler in die Rollen des Sohnes, des Vaters, der Mutter, des Bruders oder der Stiefmutter schlüpfen. "Auf dem katholischen Kriegsschauplatz bleibt auch für Slapstick, Lachen oder Klatscher zu Kirchenliedern Platz. Jede ernste, beklemmende Situation hätte man aber nicht brechen müssen."
Colette M. Schmidt schreibt in der Wiener Tageszeitung Der Standard (3.5.2014), dass der Titel des eigenständigen Theatertextes und jener der Biografie identisch sind, sei "verwirrend". Die Schauspieler jedoch machten das "schnell vergessen". Die vier Männer eigneten sich "die Figuren so authentisch, rührend und ... komisch an", dass "dieser Abend ein eigenständiges Kunstwerk" werde. Die "punktgenaue Regie" und die "katholisch frömmelnde Bühne" würden dabei "ungemein helfen". "Tosender Applaus. Schwere Empfehlung."
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(Vielen Dank für den Hinweis, wir haben es korrigiert. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
Wann erscheint die Liste der Premieren, die Nachtkritik im Mai bespricht?
(Lieber Rudi, die Liste ist bereits freigeschaltet. Herzliche Grüsse aus der Redaktion, Esther Slevogt)
Ich wäre Ihnen im Übrigen verbunden, wenn Sie abgesehen von der kleinen Zeitung (die m.E. zu kurz greift) in Ihrer Kritiken Rundschau auch noch andere Rezensionen mit aufnehmen würden (Standard, Presse, Falter, Krone, DPA…?).
Komplette Kritik: stagescreen.wordpress.com/2015/06/16/nichts-gelten-und-doch-frech-sein/#more-4566