Genug ins Leere geschaut

28. März 2022. In seinem neuen Buch "Zwiegespräch" geht Peter Handke mit sich ins Gericht: Nicht auf dem Theater, sondern zu sehr "im Umlauf" haben seine späten Dramen stattgefunden. Auch sonst sind die Geständnisse dieses schmalen Bands eine kleine Sensation.

Von Gabi Hift

28. März 2022. "Für Otto Sander und Bruno Ganz" steht auf dem Vorblatt des neuen Buchs von Peter Handke. Das könnte als Hommage Handkes an seine alten Weggefährten gemeint sein, die beide in den letzten Jahren verstorben sind. Beide waren sie um ein Jahr älter als Handke, der in diesem Jahr 80 wird. Eine Erinnerung an damals, als diese Drei junge, wilde Provokateure waren; als Bruno Ganz und Otto Sander in "Ritt über den Bodensee" spielten, das Handke zum Popstar der Literatur machte.

Es könnte aber auch als Besetzungsvorschlag gemeint sein. Und das funktioniert hervorragend. Man sieht die beiden sofort vor dem inneren Auge spielen. Dass sie nicht mehr unter den Lebenden sind, spielt keine Rolle, schließlich sind sie schon 1987 als Engel aus dem "Himmel über Berlin" gestürzt, und genauso machen sie hier in diesem Zwiegespräch weiter.

"Genug jetzt ins Leere geschaut", ermahnt der eine den anderen zum Auftakt – und so gehen sie an die Arbeit. Und die ist das Spielen. Oder: die Dinge durch Sprache zur Erscheinung zu bringen – auch das nennt Handke Spielen.  Die Steine beginnen zu reden, und unter dem Blick des Dichters "fällt der Regen aufwärts". Solche Beschreibungen in leuchtender Sprache schenkt Handke seinen Leserinnen, es ist eine Art weltlicher Erkenntnisweg, und dieselbe Aufgabe haben auch die Engel im Film "Der Himmel über Berlin" – sie können nicht ins Leben der Menschen eingreifen, aber sie schenken ihnen neuen Lebensmut.

Dass sämtliche Türen und Fenster aufspringen!

Die beiden Narren tauschen Techniken aus, sind stolz darauf zu erzählen, wenn ihnen etwas besonders gut gelungen ist, wie zwei alte Zen-Mönche, die sich gegenseitig Tipps für das Lösen von Koans geben. Der eine ist der Beobachter, der seine Gegenstände im Hier und Jetzt findet, der Andere sucht seine Bilder in Erinnerungen an die Kindheit.

Mit der ersten Geschichte liefert der Beobachter gleich eine Anleitung zur permanenten Wiederverzauberung der Welt. Er erzählt, dass er als Kind mit der Schule einmal im Theater war. An das Stück kann er sich nicht erinnern, nur daran, dass im Hintergrund der Bühne ein Haus stand, mit Licht hinter den Fenstern. Und dass er bis zum Schluss darauf gewartet hat, dass die Haustür aufgehen und ein Mensch herauskommen würde. Das ist aber nie passiert. Seit diesem Tag begegnen ihm immer wieder solche Traumhäuser – nur nie mehr im Theater. Und immer wieder steht er davor und wartet und hofft, dass die Tür aufgehen möge. Aber gleichzeitig darf sie natürlich nicht aufgehen, denn dann wäre es vorbei mit der Hoffnung, und auf die kommt es an.

"Hoffnung worauf?" - "Daß sämtliche Türen und Fenster aufspringen und – und – und" – "daß es ernst wird?" – "Ja, endlich ernst. Neuerdings ernst. Und trotzdem – ah, wieder trotzdem, du liebes 'trotzdem' – ein Spiel, ein ernstes Spiel."

Handkes Kunst ist es, das so zu beschreiben, dass man sich völlig sicher ist, diese Aufführung mit genau diesem Haus habe man selbst als Kind gesehen und sich nur jetzt erst wieder daran erinnert. Und es kommen einem sofort solche einzeln stehenden kleinen Häuser in den Sinn, und das wiederkehrende überwältigende Gefühl, dass sich hinter ihren Türen ein Geheimnis verberge.

Anerkannte Mitschuld?

Der andere Alte, der Innenschauer, der seine Bilder aus Erinnerungen bezieht, erzählt von seinem slowenischen Großvater, einer Spielernatur. Man kennt ihn schon aus früheren Büchern, aus "Hornissen" und aus "Wunschloses Unglück", als Gegenpol zu Handkes verhasstem deutschen Nazivater. Aber überraschender Weise lässt Handke seinen Innenschauer nicht einfach einen neuen Aspekt der Erinnerung an den Großvater erforschen, sondern er lässt ihn in arge Schwierigkeiten geraten. Und er anerkennt damit zum ersten Mal, dass er selbst an der schrecklichen Jugoslawienkrieg-Kontroverse, die die letzten zehn Jahre die Rezeption seiner Bücher überschattet hat, zumindest mit Schuld sein könnte.

Der Innenschauer kann nämlich nicht einfach vom Großvater erzählen, ohne das zum "Großvatersyndrom" der Cover Handkeanderen Enkel im Land in Beziehung zu setzen. Er beschreibt, wie es ihn jahrelang gedrängt habe, diese scheinbar naturgegebene Idealisierung der eigenen Großväter als Unschuldige zu beschreiben, auch und gerade dann, wenn diese Nazitäter oder Mitläufer gewesen seien. Wie dieses "Großvatersyndrom" an die nächste und übernächste Generation weitergegeben werde. Und wie dadurch unterirdisch alles immer weiterschwele. Handke ist inmitten der komplizierten Verwicklungen im Nachkriegskärnten aufgewachsen, er hat als Kind die Konflikte zwischen verschiedenen Partisanengruppen, Serben, Kroaten und Slowenen erlebt, die nach dem Zweiten Weltkrieg in Titos Jugoslawien nur scheinbar verschwunden waren. Für Handke wurde der Vielvölkerstaat Jugoslawien zum einzigen Ort der Hoffnung. Als der zerbrach, idealisierte er das "serbische Volk", sah die Serben als "Indianer" der Gegenwart und verkannte die Realität an vielen Stellen auf schreckliche Weise – bis zur Verleugnung des Ausmaßes des Massakers in Srebrenica.

Das Drama abseits der Bühne

Aber bis jetzt hatte er sich hinter der Position verschanzt, alle seine Äußerungen seien die eines Dichters gewesen und deshalb unantastbar wahr. Das hat viele Leser:innen, die seine Texte bis dahin geliebt hatten, dazu gebracht, sich von ihm abzuwenden. Deshalb halte ich es für eine kleine Sensation, dass er sich hier, in der Mitte dieses kleinen Textes, erstmals selbst in dieser Sache in Zweifel zieht.

Der Innenschauer sagt zuerst, die politischen Verflechtungen hätten sich nur "durch ein Drama Schiller'schen Ausmaßes" darstellen lassen – für ihn ein Ding der Unmöglichkeit. "Und doch: Wie hat es dabei über die Jahre davon in mir gebrannt. Scheinbrand. Und ich in der Rolle des Aschenmanns. A Åschn! A Åschn!" (das ist das Aschenlied aus Ferdinand Raimunds "Der Bauer als Millionär").

Eine Tragödie wollte er schreiben, klassisch, in fünf Akten, ohne Katharsis, ohne Reinigung, ohne Ausweg. Aber daraus ist nichts geworden – und hier folgt nun das Eingeständnis:

"Ja, vielleicht habe ich mir solch ein dramatisches Eingreifen nicht zugetraut, oder war bloß zu faul, das Gespinst durchzuleben. Und es ist dazugekommen, daß die Dramen – in jener Zwischenzeit – eher nur außerhalb deiner Bühnenszenen sich abspielten und in Umlauf waren."

Hier spricht Handke in der Gestalt des einen Narren, wohl erstmals von einer "Zwischenzeit" und hält es sogar für möglich, dass er daran Schuld sein könnte, dass die Dramen (die Kämpfe, die er mit der Weltöffentlichkeit ausgefochten hat) sich außerhalb der Bühnenszenen abspielten, weil er sich das Schreiben eines solchen Dramas nicht zugetraut hat.

Hirngespinste! Weg damit!

Zwar reißt ihn sein Kompagnon aus solchen Selbstzweifeln mit einem beherzten "Blödsinn. Noch so eins deiner Hirngespinste. Und weg mit dem!" – aber der alte Narr scheint erleichtert, dass er all das erzählt hat. Und ebenso erleichtert können Leser:innen sein, dass sich Handke hier nicht mehr zu hundert Prozent als Träger einer heiligen Wahrheit darstellt. Ich bin es jedenfalls, bin bereit, die "Zwischenzeit", in der mir das Handke-Lesen vergällt war, zu beenden mit einem: "Blödsinn! Hirngespinste! Weg damit!"

Es geht den beiden alten Narren dann auch viel ums Altwerden. Der eine erzählt, wie der Großvater immer Karten spielen wollte, aber dann starben ihm nach und nach die Spielpartner weg. Sobald der Enkel ihn besuchen kam, holte er dann immer gleich die Karten unter dem Kopfpolster hervor und begann sofort zu mischen. Als er bemerkte, dass der Enkel nicht mit dem Herzen dabei war, packte er sie wieder weg und fragte: "Wer spielt jetzt mit mir?"

Auch der andere alte Narr berichtet von einer "Blutdurststrecke", in der er vor lauter Wut auf die Gegenwart lang nichts erzählen konnte. Überall sah er nur Junge, die sporadischen Alten boten alle das Bild von Vergreisten. Aber dann, am Ende des Tages, kommt er unversehens wieder ins Spiel, und weiß nicht, warum. Es macht sich frischer Wind breit, die beiden Narren sehen das Wunder hinter den Dingen, und die Alten sind wieder aufgetaucht: Nichts geht über die Frechheit manch Uralter! Übermut, ansteckender, der Hundertährigen. Keine Geisternden mehr – Begeisterte! Und wie sie so ins Spiel kommen möchten. "Laßt uns mitspielen, bitte!"

Am Schluss heißt es:
- Komme eine Zeit da das Wünschen wieder helfen wird?
- Ja, komme sie!
Die beiden alten Narren und Handke und Bruno Ganz und Otto Sander wundern sich über sich selbst: "Daß wir zwei doch keine Ruhe geben! Wir haben kein Recht auf Ruhe. Unsereiner hat auf Ruhe kein Recht." So mündet das Zwiegespräch in einen Neuanfang und ein veritables, trotziges Happy End.

Zwiegespräch
von Peter Handke
Suhrkamp Verlag, 2022, 72 Seiten, 18 Euro

Kommentare  
Buchkritik Handke: Mammutfurzklamm
letzten endes ist Peter Handke für mich (für andere nicht) vielfach doch leider
ein dampf-plauderer - wenn ich ihn übelwollend betrachte.
es dampft nicht immer hochliterarisch, wenn er z.B. schreibt: "Ausgestöpselte freie Ebene", oder: "Mammutfurzklamm." aber, es könnte sein, dass dies seine s ironie ist, und er sich dabei lustig macht über die literatur und auch über sich selbst als ein schreiber (dichter). er sagt zoom-beispiel (ungeduldig-ernsthaft):
Ich bin kein Schriftsteller, ich bin ein Schreiber - ich schreibe, ich habe
geschrieben und ich werde geschrieben haben. passend dazu:
"Genug jetzt ins Leere geschaut", ermahnt der eine den anderen zum Auftakt - und so gehen sie an die Arbeit . . . Die Steine beginnen zu reden, und unter dem Blick des Dichters "fällt der Regen aufwärts." - wer mag, wer liest und schätzt solche DICHTUNG also - besonders gerne? was für ein sonderbarer, nicht alltäglicher Blick des Dichters. es kann nur ein aus dem ramen fallender, schräger Handke-Blick sein. (Solche Beschreibungen in leuchtender(!) Sprache schenkt Handke seinen Leserinnen, es ist eine Art weltlicher Erkenntnisweg ... (Gabi Hift) aber auch "Gabi hilft".)) Peter Handke hilft uns also mit seiner Art von weltlichen Erkenntniswegen. - und um seine eigene formulierung zu gebrauchen; er soll uns damit in frieden lassen. ein erkennbar ernsthafter "Klassiker" - wie er oft genannt wird - der in die jahre gekommen ist, schreibt sicherlich in dieser weise nicht. es sind unreif-studentenhaft überflüssige (vielleicht bewusst eingesetzte) Manierismen, und man könnte sage: weg damit! Handke hat oft genug ins Leere geschaut, mutmaße ich - und wenn er jetzo mit sich ins Gericht geht, so ist dafür kein Platz in der Weltliteratur - denn es ist abermals und immer wieder und wieder ein sich selbst bespiegelnder Manierismus und keineswegs eine kleine oder großen Sensation! Im "Ritt über den Bodensee" - der ihn zum P o p s t a r der damaligen Literatur machte, steht:
Spielerisch verteilt Jannings die folgenden Rollen;
Er schlägt mit einem kleinen Löffel gegen den Hals der Flasche:
George steht auf.
Jannings, ohne ihn anzuschauen: "Radschlagen!"
George steht still.
Stroheim souffliert ihm: "Warum?"
Jannings: "Du hast doch auch vorhin ein Rad geschlagen!"
Pause.
George schlägt ein Rad.

das erinnert an einen Film von Handke. der protagonist (ist es nicht bruno
ganz?) kommt aus dem wohngebäude, tritt auf einen rasen oder wiese - und
schlägt ein rad (gerade fällt mir ein: es war kein rad, sondern ein purzel-baum!) - potztausend, schau mal einer an - dergleichen hat man im film noch nie gesehen! - ein Manierismus ist`s, nichts weiter. Peter Handke leidet immer wieder an manieristischen Tendenzen. immer wieder ist sein schreiben sozusagen m a n i e r l i c h, und es nervt wenn man darauf stößt: es wirkt g e k ü n z t e l t. - Peter Handke wirkt und ist - warum soll ich es hier nicht sagen - er ist u n e i g e n t l i c h, wenn auch nicht immer . . .mit Jean-Paul Sartre kann die unaufrichtige Seinsweise "sogar für eine sehr große Zahl von Personen der normale Aspekt des Lebens sein." Sie entspringt der so genannten komplizenhaften Reflexion. (und dies könnte auf Handke und seine Leserschaft zutreffend sein.) er ist, so verdächtige ich ihn - auch ein Vielschreiber, ein Polyskribent. diese schreiben bekanntlich vor allem um des Erfolges willen. ist Handke in seiner Art nicht auch ein literarischer Erfolgsschriftsteller? er war nicht von ungefähr d a m a l s ein Popstar der Literatur, er war und ist von Vielen
beneidet seines glänzenden Erfolges wegen (auch von mir).
Kommentar schreiben