4. Fast Forward Europäisches Festival für junge Regie - In Braunschweig ziehen sich die Jungen in den Theaterraum zurück
Wärmeinseln zwischen Psychatrie und Assesment-Center
von Jan Fischer
Braunschweig, 30. November 2014. Die Ankunft am Braunschweiger Hauptbahnhof ist nicht schön. Die Kälte hat den 50er-Jahre-Betonbau am Rand der Stadt fest im Griff. Es riecht nach Grünkohl, den sie hier Braunkohl nennen, und vor dem Gebäude grüßen verdorrte Wintergräser den Reisenden mit melancholischem Nicken im Novemberwind. Eine Leuchtschrift kündet von Schönheit und Pracht der Löwenstadt. Zwei Botschaften laufen dort dieser Tage durch: In der einen geht es um Reisen in den Harz. Die andere weist den Besucher aufs "Fast Forward Festival" hin, das in diesem Jahr zum vierten Mal stattfindet und sich in diesen vier Jahren zu einem der wichtigsten deutschen Festivals für junge europäische Regisseure gemausert hat.
Versuchsanordnung und Meta-Theater
Sieben Künstler_innen hat Kuratorin Barbara Engelhardt in diesem Jahr eingeladen, aus dem tiefen Westeuropa und vom östlichen Kontinentrand, die an einem langen Wochenende um den Preis des Festivals – eine eigene Arbeit am Braunschweiger Staatstheater – wetteifern.
Die Inszenierungen könnten kaum unterschiedlicher sein: In Bertolt Brechts "Baal", angeleitet von Dániel D. Kovács aus Ungarn, wird zwar schmutzig, köperbetont, gerne nackt und vor allem bildgewaltig-exzessiv in einem überdimensionierten Sandkasten herumgerobbt, aber letztendlich doch formal kaum mit ungewöhnlichen Inszenierungsmechanismen gespielt.
Das Gegenteil versucht "Rule™" von Emke Idema aus den Niederlanden, in dem die Regisseurin als Spielleiterin einer Art Assessment-Center in Erscheinung tritt, die das Publikum innerhalb eines engen Regelwerks agieren lässt und ihm Entscheidungen abnötigt. Ziel der Übung ist es, mit Hilfe einer Mehrheitsmeinung eine Art Verfassung für den Theaterabend zu erstellen, eigentlich aber geht es um Sprachmacht und Deutungshoheit – und den Versuch, das willkürliche Regelwerk der Spielleiterin zu durchbrechen.
Ähnlich gegensätzlich funktioniert das sehr zähe und lange "Les Justes" (nach Camus) von Mehdi Debhi aus Belgien, das dem Camus-Text auf arabisch beikommen will und ihm damit eine aktuelle Dimension zu verleihen sucht. Das Publikum sitzt hier auf Stühlen, wild verteilt im Bühnenraum, die Schauspieler spielen ihre Rollen, sind Terroristen, die rastlos um die Zuschauer herumstreichen, sie immer wieder anspielen und versuchen, sie in die Geschichte des Stückes hineinzuziehen, während moralische und philosophische Implikationen des Tyrannenmords diskutiert werden.
Das fröhliche Meta-Theater "Steppengesänge" von Adele Dittrich Frydetzki, Kristina Dreit, Marten Flegel und Anna Froehlicher dagegen arbeitet anders mit seinem Publikum und seiner Geschichte: Nachdem unterschiedliche Varianten einer Recherchereise zum Braunkohletagebau in der Lausitz gegeben wurden – mal als gesprochene Erzählung, mal als Videofilm –, löst sich das Publikum auf und erobert die Bühne für sich. Doch nicht das Publikum wird Teil der Inszenierung, sondern die Inszenierung Teil des Publikums.
Während "Forecasting" von Guiseppe Chico und Barbara Matijević – eine italienisch-kroatisch-belgisch-französische Koproduktion – eine präzise und knallhart durchchoreopgraphierte Youtube-Tanztheater-Clipshow ist, in der Matijević die Verlängerung ihres Laptops spielt, bietet "Les Champs d'Appel" von François Lanel aus Frankreich jede Menge Platz für kleine Witze und Improvisationen. In der Inszenierung lässt er zwei Heimwerker-Spielkinder den Bühnenraum erkunden und mit kindlicher Fraude an allerlei Gerätschaften und Bauten herumspielen, immer auf der Suche nach Artauds "phosphoreszierendem Punkt".
Die Maschine bestimmt den Menschen
So unterschiedlich die Ansätze der Inszenierungen auch sind, was sie gemeinsam haben, wird mit dem grimmigen Wintereinbruch am Wochenende in Braunschweig nur immer deutlicher: Auf den langen Wegen zwischen den Aufführungsorten bilden die Bühnen, Aulen, die kleinen und großen Spielstätten zaghaft über die Stadt verteilte Wärmeinseln, Zufluchtsorte vor dem eisigen Ostwind. Im Gegensatz zum letzten Jahr, in dem die jungen Regisseure und Regisseurinnen vor allem nach einer Sprache suchten, in der sie artikulieren könnten, was sie außerhalb des Theaters gefunden hatten, geht die Bewegung in dieser vierten Ausgabe des "Fast Forward" hauptsächlich in den Bühnenraum hinein, inhaltlich und ästhetisch will kaum noch jemand die kuscheligen Gefilde der Theaterhöhle verlassen. "Baal" lässt seine Hauptfigur in gestelzten Bildern und andauernder Stimmungsmusik versumpfen, die moralischen Konsequenzen sind nur Mittel zum Bildzweck. In "Rule™" arbeiten sich die Zuschauer nur zum Schein an hypothetischen Einwanderungsszenarien ab – eigentlich reiben sie sich an den Regeln der Inszenierung selbst auf. "Les Justes" versucht sich an Aktualität, die aber eher als philosophische Versuchsanordnung mit Publikum im Schutzraum der Bühne funktioniert als tatsächlich aktuell zu sein, "Steppengesänge" und "Les Champs d'Appel" liefern – auf ihre jeweils eigene Art – sich selbst bewusstes, spielerisches Theater, das sich in Meta-Feedback-Schleifen selbst reflektiert. Und "Forecasting" schließlich bringt es auf den Punkt: Die Maschine bestimmt, wie der Mensch zu tanzen hat und nicht umgekehrt.
Das Scheitern des Schönen Scheins
Es war deshalb konsequent, dass die Jury "Der Fall M. – eine Psychatriegeschichte" mit dem Hauptpreis auszeichnete. Der Münchner Florian Fischer erzählt die realen Fälle zweier in die Psychatrie eingewiesener Menschen: Elly Maldaque und Gustl Mollath, die beide beteuern, nicht krank zu sein und versuchen, aus den Anstalten freizukommen – beide zunächst erfolglos. Als Bühnenbild halten zwei Wände aus eilig zusammengeklebten Pappkartons her, die im Laufe des Stückes zerrissen werden. In die recherchierte Geschichte über Zwangseinweisung zieht Fischer noch eine Meta-Ebene ein. Schon am Anfang wird das Publikum angeleuchtet und Titel des Stücks sowie die Namen des Regisseurs und der Schauspieler werden rezitiert. Immer wieder schlüpfen die Darsteller aus ihren Rollen, um über die Situation der Figuren zu reflektieren, übers Bühnenbild, vielleicht mal ein Lied zu singen oder das Publikum nach der Uhrzeit zu fragen ("Dann ist's jetzt noch eine halbe Stunde"). Am Ende steht der Darsteller des Gustl Mollath allein und verloren im Dunkel vor der Bühne – ohne die Theatermaschine ist er nichts mehr.
Es ist ein Stück über das Scheitern des Theaters an gesellschaftspolitischen Themen, über die Wirkungslosigkeit des schönen Scheins. Nicht nur verbindet es, wenigstens zum guten Teil, was die anderen Stücke leisten – Spiel mit dem Publikum, Meta-Diskurs, eine trotz allem durcherzählte Geschichte –, es spricht auch aus, was allen anderen Inszenierungen im Wettbewerb implizit eingeschrieben ist: die Frustration darüber, dass man die Welt drinnen im Schutzraum Theater zwar jeden Tag verändern kann, dass die Welt draußen davon aber wenig mitbekommt.
Was auf dem "4. Fast Forward" in Braunschweig zu sehen ist, während es draußen dunkel wird und vom Weihnachtsmarkt der Glühweingeruch herüberzieht, ist die Reaktion auf genau diese Frustration: Räumlich begrenzte Versuchsanordnungen, Selbstreferenz, der Tanz mit den Objekten auf der Bühne, das unkaputtbare Regelwerk, das Inszenierungen aus sich selbst heraus generieren. Die jungen Regisseure ziehen sich aus der Welt ins Theater zurück.
Fast Forward – Internationales Festival für junge Regie
Les Champs d'Appel
Regie: François Lanel, Künstlerische Mitarbeit: Valentine Solé, Bühne: David Séchaud, Licht: Maëlle Payonne, Léa Maris Ton, Lucas Hercberg, Produktion: Accord Sensible.
Mit: Léo Gobin, David Séchaud.
Dauer: 75 Min, keine Pause
Baal
von Bertolt Brecht
Regie: Dániel D. Kovács, Bühne: Tamás Kovács, Kostüme: Bobor Ági, Dramaturgie: Adám Fekete, Musik: Márk Bartha, Bewegunsgtraining: Máté Hegymegi, Ton: Gábor Keresztes, Visuelle Kommunikation: Máté Bartha, Regieassistenz: Ádám Hodászi Produktionsleitung: Péter Tóth, Internationale Organisation: Ildikó Ságodi.
Mit: Kata Bach, Miklós Béres, Károly Hajduk, Péter Jankovics, Pál Kárpáti, Dániel Király, Niké Kurta, Kata Pető, Nóra Rainer-Micsinyei, Zoltán Szabó und den Musikern: Márk Bartha, Gábor Keresztes, Dániel Kotócz, István Rimóczi.
Dauer: 90 Minuten, keine Pause
Rule™
Regie, Konzept & Gastgeberin: Emke Idema, Dramaturgie: Nienke Scholts Bühne: Joris van Oosterwijk, Künstlerische Betreuung: Dirk Verstockt, Geschäftsführung: Kathleen Treier, Produktionsmanager: José Schuringa, Produktion: Stichting Stranger, Koproduktion: Frascati Productions, Grand Theatre Groningen.
Dauer: 90 Minuten, keine Pause
Steppengesänge
Regie, Konzept, Text, Bühne, Kostüme, Video, Licht & Ton: Adele Dittrich Frydetzki, Kristina Dreit, Marten Flegel, Anna Froelicher & Charlotte Grief, Felix Worpenberg, Dramaturgische Beratung & Technik: Charlotte Grief, Felix Worpenberg.
Mit: Adele Dittrich Frydetzki, Kristina Dreit, Marten Flegel, Anna Froelicher & Charlotte Grief, Felix Worpenberg.
Dauer: 60 Minuten, keine Pause
Forecasting
Regie, Konzept & Text: Giuseppe Chico, Barbara Matijević, Video: Giuseppe Chico, Dramaturgieassistenz: Saša Božić, Patch Max Software: Niccolo Gallio, Produktion: Kaaitheater (Brüssel), Koproduktion: UOVO (Mailand), Ausführender Produzent: 1er stratagème & De facto, Management: Colin Pitrat, Les Indépendances.
Mit: Barbara Matijević.
Dauer: 50 Minuten, keine Pause
Les Justes
von Albert Camus
Regie & Bühne: Mehdi Dehbi, Dramaturgie: Mériam Korichi, Einstudierung des Textes auf Arabisch: Hala Omran, Licht: Claudio Zeriali, Produktionsassistenz: Razan Alazzeh, Koproduktion: Théâtre de Liège, Théâtre du Jeu de Paume, Aix-en-Provence.
Mit: Sumaya Al-Attia, Husam Alazza, Firas Farrah, Hala Omran, N. N.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
Der Fall M. – eine Psychatriegeschichte
Regie: Florian Fischer, Bühne & Kostüme: Susanne Scheerer, Musik: Ludwig Berger, Licht: Christian Schweig, Dramaturgie: Christine Milz, Tobias Staab, Textfassung: Florian Fischer, Tobias Staab.
Mit: Bastian Beyer, Barbara Dussler, Jonas Grundner-Culemann, Christopher Heisler, Caroline Tyka.Dauer: 90 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-braunschweig.de
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