Das weite Land - Tobias Wellemeyer pflanzt Arthur Schnitzlers weite Seelen ins winzige Gartenbeet
Wo die wilden Gartenmöbel wohnen
von Christian Rakow
Potsdam, 23. Januar 2010. Eine breite, teils mit olivgrünen Jalousien verhängte Rückwand einer Fabrikantenvilla halbiert die Bühne des Hans Otto Theaters. Hinten stehen Gartenmöbel; im Vordergrund, wo der Gartensalon ist, stehen sie auch. Über die Durchgänge durchschreitet man also die immergleiche Welt, außen und innen, nah und fern – Leben und Tod. Der Bühnenraum von Iris Kraft lässt die Figuren im Dasein pendeln. Am äußersten Rand, wo man die Brandmauer vermuten darf, gähnt ein schwarzes Nichts.
1911 hat Arthur Schnitzler seine Tragikomödie "Das weite Land" in die Wiener Theaterwelt entlassen. Sie gehört nicht zu seinen populärsten Stücken. Aber für Verheiratete im Sturm des Lebens hat sie allemal viel zu erzählen. Der Fabrikant Hofreiter gewährt sich neben seiner Ehe die eine oder andere Liaison mit Damen aus den höheren Kreisen, während seine anfangdreißigjährige Frau Genia von jungen Männern umworben wird. Einer dieser Galane, ein Pianist, hat sich jüngst umgebracht. Wie sich herausstellt, ist er an der Treue Genias gescheitert. "Dass Deine Tugend einen Menschen in den Tod getrieben hat, das ist mir einfach unheimlich", bekennt ihr Hofreiter.
Auf den morschen Balken der Gesellschaft
Wie regelmäßig bei Schnitzler kämpfen die Figuren mit den Wehen der Moderne. Allerorten greifen Individualismus und Libertinage um sich, aber noch bremsen den Einzelnen die Sitten und Ehrbegriffe der verblassenden Ständegesellschaft. Wo die Entwicklung hinführt, bekommt Hofreiter von seinem Alter Ego, dem Hotelier Aigner, vorgelebt. Der gleichermaßen notorische Schwerenöter hat sich vor Jahren von seiner Gattin, einer Schauspielerin (Andrea Thelemann), getrennt und frönt seither einem ungebundenen, wenngleich, wie Bernd Geiling zeigt, wenig erfüllten Leben. Den gemeinsamen Sohn Otto hat Aigner seit Kindertagen nicht gesehen.
Wie es das höhere Schicksal der Schnitzler'schen Dramaturgie will, verliebt sich besagter Otto bald in Genia. Und dieses Mal gibt sie dem Werben nach. Ihre Affäre kostet Otto im anschließenden Duell mit Hofreiter das Leben. Auf den morschen Balken der k.k.-Gesellschaft balanciert der Fabrikant, angefüllt mit Überdruss am eigenen Dasein. Symbolträchtig erscheint im Schlussbild sein Sohn zu Besuch. Er ist gekleidet mit einer Internats-Uniform gleich jener, in der Otto sich bei Hofreiters vorstellte. Die Väter töten ihre Söhne. Auch dieser Spross, so ahnt man, ist einer untergehenden Ehe und einer untergehenden Epoche geweiht.
Grobkörnige Affekte
Regisseur Tobias Wellemeyer, der mit Ibsens "Wildente" jüngst seine neue Intendanz in Potsdam kraftvoll und ohne Scheu vor Pathos aufnahm, sucht dieses Mal einen filigranen Federstrich. Doch so präzise der Abend mit seinen Komplementäranordnungen entworfen ist, so blutleer bleibt er.
Wolfgang Vogler, zuletzt noch ein vitaler, schnoddriger Don Juan (in Wellemeyers Moliere-Übernahme aus Magdeburg), schnürt seinem Hofreiter zunehmend die Luft ab, wenn er ihn beständig exquisit und stets mit einer Prise Hohn gewürzt reden lässt. Franziska Melzer entlockt ihrer tendenziell verstockten Genia zwar wenig Wärme für den schneidigen Otto (Eddie Irle). Dafür kuschelt sie sich bisweilen recht beliebig an Dr. Mauer heran, den väterlichen Freund des Hauses (wohltuend variabel: Jon-Kaare Koppe). Dann wieder springt Nele Jung als Erna im protofeministischen Erika-Mann-Style herbei und küsst sie einfach.
Tatsächlich geraten diese Affekte auch deshalb so grobkörnig, weil die Inszenierung Nähe eigentlich nicht vorsieht. Riesige Distanzen sind zu überbrücken. Man schreitet hin, man schreitet her. Es geht auch rückwärts. Wie Billardkugeln suchen die Figuren nach ihrem Moment der Abstoßung. Dazwischen wird gern über die Schulter gesprochen, in gleichbleibend prononciertem Hochdeutsch. Das Ganze braucht schon ein paar Hinfaller und den zarten Wiener Dialekt von Simon Brusis (in der Rolle des steten Gastes Paul Kreindl), um zu übertünchen, dass man selten weniger Publikumslacher erlebt hat für so lakonische, wortwitzige Dialoge, wie sie Schnitzler hier vorlegt.
Wachsfigurenrealismus
Lethargie greift um sich. Weinflaschen und Orangen, die die Gartentische zieren, werden nicht bespielt. Man drapiert sich hübsch in einem Wachsfigurenrealismus mit historistischer Anmutung (den Kostümen von Ines Burisch nach zu urteilen, befinden wir uns in der Vorkriegszeit der 1910er Jahre – mit Ausnahme des dritten Aktes, der in einem neueren Berghotel bei Aigner spielt).
Gute drei Stunden dauert die Stand- und Schreitbildfolge. Zur Untermalung lässt Wellemeyer etwas Klaviermonotonie rieseln. Es klingt, als habe man aus Chopins Nocturne in Cis Moll, das im Stück selbst erwähnt wird, sämtliche Läufe gestrichen und ein paar Restakkorde zurückbehalten. Die Musik zeigt sich allemal dem Anlass angemessen. Auch dem Dargestellten fehlt es an Fülle, Reichtum, Variation.
"Die Seele ist ein weites Land", behauptet der Text. Auf der Bühne ist aus ihr ein winziges Gartenbeet geworden.
Das weite Land
Von Arthur Schnitzler
Regie: Tobias Wellemeyer, Bühne: Iris Kraft, Kostüme: Ines Burisch.
Mit: Wolfgang Vogler, Franziska Melzer, Andrea Thelemann, Eddie Irle, Bernd Geiling, Rita Feldmeier, Nele Jung, Peter Pagel, Meike Finck, Jon-Kaare Koppe, Simon Brusis, René Schwittay, Jan Dose, Michael Schrodt, Sabine Scholze.
www.hansottotheater.de
Mehr lesen? Dieter Giesing inszenierte Schnitzlers Das weite Land im März 2009 am Schauspiehaus Bochum, als wär's von Billy Wilder.
Kritikenrundschau
Wenn der Intendant eines Stadttheaters im großen Haus ein bürgerliches Gesellschaftsstück mit mehr als 15 Rollen auf die Bühne stemme, werde "ein fast repräsentativer Vorgang daraus. Zumal, wenn sich alle Beteiligten noch in einer gefühlten Probezeit befinden und niemand etwas falsch machen möchte", so Karim Saab in der Märkischen Allgemeinen (25.1.). Wellemyer habe auf Zuspitzungen, Irritationen, aktuelle Lesart verzichtet und jedes Risiko vermieden, um den Blick auf den Reichtum der Figuren nicht zu verstellen. "Das Bühnenbild von Iris Kraft, das dezente Historisierung signalisiert, lässt viel Raum. Auch Wellemeyers Regie engt die Schauspieler wenig ein". Fazit: "Diese Aufführung will nicht mehr sein (und auch nicht weniger) als die Summe aller schauspielerischen Leistungen."
Welche Art der Verbundenheit Genia bei ihrem Schürzenjäger-Gatten hält, bleibt die große Frage in Schnitzlers Stück, "und Regisseur Tobias Wellemeyer versucht nicht, sie vollkommen zu beantworten", schreibt Lena Schneider in den Potsdamer Neuesten Nachrichten (25.1.). Aus Liebe bleibe sie, gewissermaßen wider Willen. "Als hätte die Regie das Vordergründige daran erkannt, betont sie in anderen Momenten das Geheimnisvolle, Hintergründige der Genia." Wellemeyer zeige das, indem er Genia in einem ständigen Hin- und Her um den kühl distanzierten Friedrich pendeln lasse. Er nehme die Sucht nach Amüsement als das auf, was es ist: ein melancholisches Sich-vor-dem-Nichts-Retten. "Seine Inszenierung fließt ruhig dahin, in guten Momenten konzentriert, manchmal eher unbestimmt." Vielleicht noch nicht der große Wurf, um das neue Potsdamer Ensemble endlich zusammenzuführen, "ein tastender, erfreulich unprätentiöser Schritt in diese Richtung ist 'Das weite Land' dennoch".
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 04. September 2024 Görlitz, Zittau: Theater will seinen Namen verkaufen
- 02. September 2024 Trier: Prozess gegen Ex-Intendant Sibelius eingestellt
- 01. September 2024 Bremerhaven: Herzlieb-Kohut-Preis für Lindhorst-Apfelthaler
- 30. August 2024 Theater an der Ruhr: Neue Leitungsstruktur
- 29. August 2024 Boy-Gobert-Preis 2024 für Dennis Svensson
- 28. August 2024 Umstrukturierung beim Bayreuther Festspielchor
- 27. August 2024 Göttingen: Sanierung des Deutschen Theaters gebremst
- 23. August 2024 IT Amsterdam beendet Arbeit mit Ivo Van Hove
neueste kommentare >
-
Hamlet, Wien Welche Warnung?
-
Don Carlos, Meiningen Kraftvoller Opernabend
-
Doktormutter Faust, Essen Eher entmächtigt
-
Vorwürfe Ivo Van Hove Zweierlei Maß
-
Doktormutter Faust, Essen Sprachrettung
-
Hamlet, Wien Verwirrend
-
Hamlet, Wien Das Nicht-Sein des deutschen Theaters
-
Doktormutter Faust, Essen Unbehagen
-
Prozess Trier Danke
-
Prozess Trier Dank
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
ich bin erfreut,nun nicht mehr nur die leichte muse sehen zu müssen.und ich schließe mich herrn wist an,der im interview der hiesigen tageszeitung gesagt hat, daß man beim neuen team am HOT das gehirn nicht an der garderobe abgeben muß. es sind stücke mit anspruch,ob man dem bei der umsetzung gerecht wird,ist zu diskutieren, doch zumindest wird vom publikum mehr verlangt, als sich zu amüsieren.und das finde ich gut. nur lustspiele, leichte kost mit den stars aus berlin, war auf dauer doch sehr einförmig.
nach DON JUAN oder MACBETH ,nach CLAVIGO oder DAS WEITE LAND sehe ich eine vielfalt,die ich gut finde.
In den Beteiligungsberichten der Stadt Potsdam finden Sie Auslastungszahlen, Einnahmen, sowie absolute Zuschauerzahlen - natürlich etwas verzögert.
Die neuesten vorliegenden Zahlen sind von 2007. Dort liegt man bei 104.444 Zuschauern, was 86% Auslastung entsprechen. Ein sehr guter Wert im bundesweiten Vergleich.
Wenn Sie nun oft ins Theater gehen und sich dann im Zuschauerraum umschauen, können Sie ja mal versuchen abzuschätzen, wie voll es ist - oder erkundigen Sie sich an der Kasse.
Und entschuldigen Sie, aber natürlich erzählt Zuspruch etwas über Qualität. Ich glaube kaum, dass sich die Menschen auf Dauer gegen Bezahlung Müll angucken.
Z.B. vom Kulturradio
http://www.kulturradio.de
aus meiner ganz persönlichen Sicht, hat Masse in den letzten Jahren am HOT unter Laufenberg eben nichts mit Klasse zu tun.Das sind Sie aber gewaltig auf dem Holzweg. Millionen Zuschauer bei diversen Castingshows oder Containersendungen sagen ja nun wirklich auch nichts über die Qualität des Präsentierten aus.
Und ein Wechsel an einem Theater wie in allen künstlerischen Betrieben,die ein neues Programm aufstellen, ob im Theater oder ein neues Museumskonzept oder ein anderer Kunsttempel, werden beim Neuanfang Zuschauer verlieren, weil einige damit wenig oder gar nichts anfangen können, und es werden neue Zuschauer gewonnen. Das bringt eben der Wandel mit sich. Und das neue Team kann nun leider auch nicht mehr mit einem neuen Bau punkten, den alle erst einmal sehen müssen, ganz gleich, was nun auf der Bühne geboten wird. Und das nun präsentierte in die Assoziationsecke "Müll" zu stecken, zeugt von wenig Ahnung darüber, was sich seit dem neuanfang am HOT abspielt.
Assoziation HOT mit "Müll"? Wo lesen Sie das? Ich spreche von einem Qualitätsanspruch des Publikums.
Dass ein neues Konzept schlecht(er) anlaufen müsse, ist jedenfalls eine Behauptung. Hohe Besucherzahlen sind eine Frage von guter Öffentlichkeitsarbeit und eben künstlerischer Qualität - zufriedene Zuschauer geben Empfehlungen weiter und kommen vor allem wieder.
Ergänzend zum Zuspruch können wir aber zur Beurteilung der künstlerischen Qualität gerne auch den Querschnitt der Rezensionen in der Presse (meist Kulturradio, PNN, MAZ) mit einbeziehen. Wie sehen Sie denn dort die Bewertung des neuen Teams?
"...werden beim Neuanfang Zuschauer verlieren,(...) es werden neue Zuschauer gewonnen. Das bringt eben der Wandel mit sich."
Und noch ein Zitat zur Präzisierung: "...den Querschnitt der Rezensionen in der Presse mit einbeziehen".
Es geht nicht um eine Meinung, es geht um die Summe der Meinungen von Fachjournalisten.
Dort sehe ich neben sehr positiv besprochenen Stücken (z.B. Fräulein Julie, the killer in me), auch außerordentlich schlechte Kritiken, die sowohl Regie und Schauspiel (z.B. Macbeth, Frank und frei), aber auch die Gesamtkonzeption des Spielplans betreffen - es ist des Öfteren die Rede von einer schwachen Stückvorlage (z.B. Weiß wie das Licht, Der Architekt).
Mein erstes Bewertungskriterium habe ich ja bereits gennant.
Nun würde mich natürlich interessieren, nachdem Sie Zuschauerzahlen und Pressestimmen nicht zur Beurteilung zulassen, nach welchen Maßstäben Sie das bewerten, "was sich seit dem neuanfang am HOT abspielt".
In Beitrag 15 erkennen Sie, dass die Meinung e i n e r Person kein Maßstab sein kann. Nun aber gestehen Sie, Ihre persönlichen Eindrücke aus den Vorstellungsbesuchen zur Grundlage Ihrer Beiträge gemacht zu haben.
Gilt für Sie nicht dasselbe wie für andere?
das wär ja auch mal spannend.
im übrigen lege ich ihnen an herz, das zur premiere vom weiten land erschienene interview von frau feldmaier. dies rückt doch manche zusammenhänge in ein anderes licht und läßt erkennen, daß man dinge von der einen seite sehen kann, daß es aber auch eine andere seite gibt.
ich bin noch "neu" was das potsdamer hot betrifft, meine aber sagen zu können, dass es sich hier definitiv n i c h t um unterhalten wollendes sondern um geistig anregendes und intelektuelles theater handelt! und ich muss sagen ich finde das für ein stadttheater in potsdam sehr bemerkenswert und sehr lobenswert so etwas zu riskieren (im sinne des intendanten zwecks zurückgehender zuschauerzahlen etc.)! ich freue mich sehr über diese eingeschlagene richtung, denn leichte unterhaltung gibt es doch heutzutage zuhauf in internet und fernsehn! und mal ehrlich, wer braucht das schon? (ich nicht, oder zumindest nicht ständig!) man kann nunmal nicht den "an" und "aus" knopf drücken, wenn man in einem 2stündigen theaterabend sitzt und das ist auch gut so! anbei bemerkt finde ich das hot ensemble bemerkenswert und in bisher gesehenen stücken sehr presentabel und äußerst talentiert! dass es übrigens "fehlgriffe" oder die ein oder andere weniger gelungene inszenierung gibt, bringt der theateralltag so mit sich... wobei da immer darüber zu streiten ist, wie man ja bei macbeth sehen kann - was wie ich finde eine sehr interessante und zum nachdenken anregende arbeit ist! nun gut, soviel zum thema...
auf einen weiterhin guten start und ein starkes ensemble am hot!
Mir ist es unbegreiflich, wie man ein so klassisches, spannendes Stück so gnadenlos auf RTL II-Comedy-Niveau bringen kann.
und es scheint ja eine menge menschen zu geben,die damit etwas anfangen können.ich habe jedenfalls wunderbare schauspieler gesehen, die mit spielfreude und verve diesen abend präsentieren. meine empfehlung ist keine blanke ironie. ironie gibt es an diesem theaterabend,doch,herr ch, mit ironie stehen sie wohl nicht auf freundschaftlichem fuß.