Ist es Schicksal?

von Şeyda Kurt

14. Januar 2020. Ein Samstagabend im Januar. Ich bin in der Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin: Köln. Ich bin verkatert. Eigentlich ist es schön, verkatert ins Theater zu gehen. Meine Sinne sind geschärft. Denn sie trauen meinem Urteilsvermögen nicht mehr. Sie sind auf der Lauer, ein wenig verängstigt, ein wenig verwundert über die anhaltende Schnelllebigkeit der Welt. Und neugierig.

"Das bringt uns in Opposition."

Im Schauspiel Köln wird in einer Inszenierung von Stefan Bachmann das Stück Vögel aufgeführt. Es geht um Liebe, Identität, den Holocaust, den Nahost-Konflikt und Chromosome. Die volle Montur – und das in vier Sprachen auf der Bühne: hebräisch, arabisch, englisch und deutsch. Geschrieben hat das Stück der im Libanon geborene, in Kanada aufgewachsene und in Frankreich arbeitende Schriftsteller und Regisseur Wajdi Mouawad.

Das Spiel beginnt mit einem Flüstern. Das wird leider die schönste Szene dieses Abends bleiben.

Im Lesesaal einer US-amerikanischen Universitätsbibliothek lernen sich – flüsternd – Wahida (Lola Klamroth), eine New Yorker Doktorandin arabischer Herkunft, und Eitan (Nikolay Sidorenko), ein jüdisch-deutscher Biogenetiker kennen. Sie verlieben sich.
Doch ihre junge Liebe stößt auf Widerstände: Denn Eitans ultra-orthodoxe Eltern wollen keine nicht-jüdische Schwiegertochter. Im konservativen Judentum wird das Jüdischsein über die Mutter vererbt. Eitan sagt: "Ich liebe sie ganz einfach." Seine Mutter sagt: "Das bringt uns in Opposition." Sein Vater sagt: Eitan müsse den Geschmack der verlorenen Asche seiner Vorfahren beibehalten. Er dürfe nicht zum Verschwinden des Judentums beitragen.

NAC Kolumne Seyda Kurt V1Wahida und Eitan lieben sich. Ist es Schicksal? Den Widerständen zum Trotz? Für Eitan, den Naturwissenschaftler, ist es die makellose Harmonie des Zufalls, die durch den Urknall ihren Lauf nahm, wie er in der ersten Szene verkündet.
Es ist die Szene, in der man dem Stück und den Charakteren am nächsten ist: Am vordersten Rand der Bühne sind die Tische und Stühle des Lesesaals aufgestellt. In der unaufgeregten Stille, in der sich Wahida und Eitan kennenlernen, liegen die Nähe und die Erfahrbarkeit der Geschichte. Meine Sinne freuen sich.

Dann passiert leider folgendes: Das Stück verliert sich in lauter Phrasen und gefährlichen Klischees, in Gebrüll. Die Darstellung von Eitans Vater als blutrünstigen, sabbernden Zionisten etwa – inszeniert von einem deutschen Regisseur für ein deutsches Publikum – ist, naja, zumindest fahrlässig.

Wenn wir Utopien wollen, müssen wir weiter denken

Ebenso fahrlässig ist es, die Figur der arabischstämmigen Wahida mit einer Weißen Darstellerin zu besetzen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe kein Bild von Arabischsein vor Augen, das ich erfüllt sehen will. Doch in einer Theaterlandschaft, in der nicht-weiße Darsteller*innen ohnehin strukturell unterrepräsentiert sind, eine nicht-weiß geschriebene Figur mit einer weißen Darstellerin zu besetzen, ist Symptom und Motor des Problems.

Wenn es darum ginge, mit Konventionen und Erwartungen zu brechen, hätte Stefan Bachmann die Figur der Wahida etwa mit einem*einer Schwarzen Darsteller*in besetzen können (davon abgesehen, dass an der kulturellen Praxis des Whitewashing nichts unkonventionell ist).

Mein Problem ist also: Es wird zu kurz gedacht. Doch wenn wir Utopien wollen – zumindest will ich sie – müssen wir weiter denken.
Denn Utopien bedeuten, Gegenwart mit ihren verborgenen Formationen zu ergründen, gewohnte Narrative und Bilder zu dekonstruieren, sie radikal und gründlich abzustreifen, um Leerstellen aufzumachen, die mit neuen Erzählungen gefüllt werden können.

Wenn es um die Geschichte der Liebe von Wahida und Eitan geht, offenbart "Vögel" zunächst Ansätze einer interessanten Dekonstruktion:

Bei einer Reise in Jerusalem werden die beiden Opfer eines Anschlags, Eitan liegt schwer verletzt im Krankenhaus, Wahida ist auf sich alleine gestellt. "Do you think loving a jew is a cupcake?", fragt Eitans Großmutter sie. "I don’t love a jew, I love Eitan", antwortet Wahida.

Identitätszuschreibungen sollen plötzlich alles sein

In den folgenden Tagen und Nächten schlagen ihr jedoch der Hass der Eltern und Einsamkeit entgegen. Allmählich merkt sie, dass ihre Liebe nicht in einem luftleeren Raum existiert, dass sie politische Rahmenbedingungen und historische Geformtheiten nicht auflösen kann. Liebe kann nur Kraft dafür spenden, sie in eine gemeinsame Erzählung der Zukunft zu überführen. Doch Wahida kann Eitan in seiner Ganzheitlichkeit nicht lieben, weil sie zu viele Mauern und Grenzen sieht, um an eine gemeinsame Zukunft glauben zu können.

Sie trennt sich von ihm. Das ist aus dramaturgischer Sicht absolut berechtigt. Denn es wäre einfältig gewesen, eine Liebesgeschichte in einem so komplexen Setting wie dem Nahostkonflikt in einem seichten Happy-End aufgehen zu lassen.
Doch auf diese Demontage der historisch erwachsenen Bedingungen einer Liebe – die auf dem Weg zu einer Utopie der Zärtlichkeit unausweichlich ist – folgt in dem Stück eine dystopische Konsequenz: Als Gegenentwurf ziehen sich die Figuren in essentialisierende Identitätszuschreibungen zurück. Wahida merkt, dass ihr Platz auf der "anderen Seite" der Mauer ist. Sie findet zu ihrem Arabischsein. Und das soll nun alles sein für sie.

Ein wohl gehütetes Familiengeheimnis wird außerdem gelüftet: Eitans Vater, der in Palästinenser*innen eine "mordende Meute" sieht, ist eigentlich selbst einer. Er wurde in Kinderjahren adoptiert. Der Schock der Wahrheit tötet ihn. Auf dem Weg ins Jenseits freundet er sich mit seinem "palästinensischen Herz" an, was auch immer das heißen soll. Zugehörigkeit und Zusammengehörigkeit scheinen nun über Blut und DNA verhandelt zu werden und nicht über eine gemeinsame Geschichte und Erfahrungen.

Lieber Leser*innen, ich könnte nun schreiben: Mein kölsches Herz im Publikum war enttäuscht. Oder so. Aber ich habe kein kölsches Herz. Mein Herz ist nur verkatert. Und ich bleibe auf der Suche nach Utopien der Liebe auf den Theaterbühnen. Bis zum nächsten Mal.

 

Şeyda Kurt ist Autorin und Moderatorin. Sie studierte Philosophie, Romanistik und Kulturjournalismus in Köln, Bordeaux und Berlin. In ihrer Kolumne ❤️topia begibt sie sich auf die Suche nach Utopien der Liebe auf der Bühne: Was erzählt uns das Theater über Zärtlichkeit? Und wo bleiben neue Visionen von Romantik, Freund*innenschaft und Solidarität?

 

Zuletzt suchte Şeyda Kurt die Theaterliebe in Wuppertal und stieß dabei nur auf verdammte Binaritäten.

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