Vögel - Schauspiel Köln
Die andere Vererbungslehre
von Andreas Wilink
Köln, 20. September 2019. Die Juden sind das Volk des Buches. Entsprechend wirkt das Buch in "Vögel" als Verführer. Sieben Schauspieler sitzen auf der Kölner Depot-Bühne gebeugt über Bücher: lesend, schlafend, vielleicht träumend, bis die Regie sie erweckt und zum Tanzen bringt. Eitan Zimmermann, Sohn des Israeli David und der ostdeutschen Psychiaterin Norah aus kommunistischem Berliner Elternhaus, forscht in den USA als Biogenetiker. In der New Yorker Universitätsbibliothek begegnet er der arabischstämmigen Wahida, deren Doktorarbeit sich mit einem vor 500 Jahren vermutlich nur äußerlich zum Christentum bekehrten Weisen, al-Hasan Ibn Mohamed al Wazzan, befasst, der Papst Leo X. als Geschenk überreicht worden war.
Messer am Hals
Dass sich beide für das rare Buch interessieren, muss bedeutsam sein, jenseits neurologischer Messung und chromosomaler Zählung. Liebe ist mehr als Biologie und Chemie. Und Liebe, die nicht sein kann, mehr als eine historische, politische, psychologische oder religiöse Herausforderung. In "Vögel" verläuft die Demarkationslinie zwischen Judentum und Islam.
Zwei zentrale Sätze in Wajdi Mouawads Stück Verbrennungen, das von Stefan Bachmann 2007 in Wien inszeniert, weit und breit gespielt und unter dem Titel "Die Frau, die singt" von Denis Villeneuve verfilmt wurde, lauten: "Der Tod ist nie das Ende einer Geschichte." und "Die Kindheit ist wie ein Messer am Hals." Zwei Sätze aus "Vögel" des libanesisch-kanadischen Autors, das Bachmann zur Saisoneröffnung am Schauspiel Köln – viersprachig – herausbringt, heißen: "Unseren Genen ist unser Dasein egal." – "Wie soll man in Frieden gehen, wenn man entdeckt, dass man sein eigener Feind ist?" Dass wir im Wechsel Englisch, Hebräisch, Arabisch und Deutsch hören, macht Sinn: Denn der sprechende Mund ist die Wunde der Nichtverständigung.
Für Mouawad wiegt das Gewicht der antiken Tragödie nicht zu schwer. Verse aus der "Antigone" des Sophokles stellt er "Vögel" als Motto voran. Den einen spricht Kreon, den anderen die Titelheldin: "Ein Feind wird auch im Tode nicht zum Freund." – "Zur Liebe bin ich, nicht zum Hass geschaffen." Überdies scheint in seinem Stück noch der Flügelschlag der melodramatisch aufrauschenden "Angels in America" nachzuhallen – ist doch das Gelobte Land deren Heimat.
Sechs trauernde Menschen
Bachmann indes kühlt die Atmosphäre durch einen Plastikvorhang hindurch und Metallmobiliar aus, macht formal tabula rasa, regelt mit Hilfe von Licht, Musik und Tonbildern die Skala der Gefühle und behält die Kontrolle über Mouawads Mechanik, ihre emotionalen Windungen und eingebauten Blockierungen – er lässt sich nicht von ihnen kontrollieren: Das ist nicht wenig.
Der Nahost-Konflikt, die Konfrontation christlicher Nationalisten, Muslime und Juden, Gewalt, Mord und Hass sind weniger Hintergrund als vielmehr Hauptgrund. Das gilt für "Verbrennungen", in dem der – wie W.G. Sebald es in seinen "Ausgewanderten" nennt – "Trauerlaufbahn" einer Frau im Libanon der 1970er Jahr nachgespürt wird, um eine unaussprechliche Wahrheit über das familiäre Erbe zu finden.
Es gilt ebenso für "Vögel" und die Trauerlaufbahn von sechs Menschen. Ein kathartischer Prozess und die Frage, was Identität ist und aus welchen diversen Elementen sie sich konstruiert, wird zum dramaturgischen Knoten, der sich entlang dreier Generationen von Leah und Etgar bis Eitan auflöst. Es geht um eine andere Vererbungslehre – um das Kräfteverhältnis von Blutsbanden und kultureller Sozialisation. Kann jemand aus seinem Schicksal auswandern, um Schuld zu begleichen, sein Gewissen zu reinigen, unbelastet zu sein?
Leid vernichten, Leid erdulden
Den Figuren eingeschrieben ist, dass Leiden vernichtet oder vernichtet wird von dem, der es bislang erduldet hat. Mouawad webt sein Textgespinst aus Erinnerungsfäden. Alles ist bereits geschehen – und reicht zurück in den Libanon-Krieg 1982 und das Massaker in den Beiruter Palästinenserlagern Sabra und Shatila und bis zu einem Findelkind aus dem Sechstagekrieg 1967, das aus seinem Leben entführt wird, um sein Leben zu retten. Wann ist Zeit für Lügen und wann für die sturzflutartig hereinbrechende, die Tektonik einer Biografie radikal verschiebende Wahrheit?
Eitan (Nikolay Sidorenko) liegt im Krankenhaus, schwer verletzt durch einen Selbstmordattentäter, der an der Israel und Jordanien verbindenden Allenby-Bridge "ein Gemetzel" anrichtete. Der Staat Israel reagiert mit einer Militäroperation, gefolgt von einem Terroranschlag auf den Flughafen Tel Aviv. Ein Riss trennt ein Land. Ein Riss trennt die Familie Zimmermann, auch weil Eitan – so sein religiöser Vater – sein Judentum zum Verschwinden bringen würde, nähme er mit Wahida (Lola Klamroth) eine Araberin zur Frau, die selbst nun erst in Ramallah und hinter der Mauer des Westjordanlands erkennt, wer und was sie ist. Eine Erkenntnis, die tödlich sein kann.
Wortreiches Nachdenken
Wenn alles gesagt ist, beginnt auf der Bühne das Aufräumen. David, dem Bruno Cathomas Statur und Schmerz eines Hiob gibt, beteiligt sich nicht daran. Er steht abseits, gehört nicht (mehr) dazu, regrediert zum nach der "Ima" rufenden nackten Kleinkind. Damit setzt Bachmann ein krasses Bild, konkret und metaphorisch: mutterseelenallein zu sein.
"Vögel" denkt (manchmal in zu vielen Worten) nach über Zufall und Fügung, über Hohn oder Gnade des Schicksals und über dessen Überwindung im Gleichnis: dem vom Amphibienvogel, der den Aufenthalt in zwei voneinander geschiedenen Elementen – Luft und Wasser – für sich lebbar macht.
Vögel
von Wajdi Mouawad
in Arabisch, Hebräisch, Englisch und Deutsch (Uli Menke)
Regie: Stefan Bachmann, Bühne und Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes, Licht: Michael Gööck, Dramaturgie: Lea Goebel.
Mit: Bruno Cathomas, Margot Gödrös, Lena Kalisch, Lola Klamroth, Melanie Kretschmann, Martin Reinke, Kais Setti, Nikolay Sidorenko.
Premiere am 20. September 2019
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.schauspiel.koeln
Kritikenrundschau
"Stefan Bachmann vertraut in seiner Inszenierung ganz auf die lebendigen Figuren und den schwarzen Humor der Textvorlage, die er mit einem starken Ensemble umsetzt", zeigt sich Christoph Ohrem im Deutschlandfunk Kultur (20.9.2019) beeindruckt. Bachmanns "Vögel" seien "mitreißendes Theater, das ohne viel Brimborium, kurzweilig und pointiert den Nahost-Konflikt in Form einer Familiengeschichte thematisiert."
Von einem "makellosen Abend" berichtet Hartmut Wilmes in der Kölnischen Rundschau (23.9.2019). "Mit unaufdringlicher Virtuosität verzahnt die Regie eskalierenden Krieg mit privaten Scharmützeln, gleitet zudem schwerelos durch das hochkomplexe Zeitgerüst des Dramas". Herausgehoben wird die "überragende Leistung" von Bruno Cathomas. Dem Theater gelinge es "selten so überzeugend, einen Kosmos voll widerstreitender Kräfte und Ideen zu erschließen".
Ein "vielversprechender und auch viel einlösender Spielzeitauftakt" ist dieser Abend für Christian Bos vom Kölner Stadt-Anzeiger (23.9.2019). Dem "gewichtigen Text" und seinem Konzept der Mehrsprachigkeit "unterwerfen sich Bachmann und sein Ensemble mit Lust", heißt es. "Die vertrauten Akteure wachsen mit ihren schier unlösbaren Aufgaben." Am "hellsten" strahle Margot Gödrös.
"Sehr unterhaltsam und hervorragend gespielt" findet Stefan Keim im WDR (23.9.2019) diesen Abend. Besonders die Vielsprachigkeit des Abends beindruckt den Kritiker. Allerdings ist das Stück aus seiner Sicht hie und da etwas überkonstruiert. Es tue nur so realistisch. Tatsächlich seien alle Figuren nur Thesenträger.
Stefan Bachmann liefere eine "stilsichere Inszenierung", so Alexander Menden in der Süddeutschen Zeitung (23.09. 2019), in der das Melodrama "weitgehend bühnentauglich heruntergeregelt" werde. "Aus einem stark agierenden Ensemble, das sich die großen Gefühle der Vorlage erfreulich rückhaltlos zu eigen macht, ragen Lola Klamroth und Bruno Cathomas heraus", zeigt sich der Rezensent zufrieden.
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