Die Systemsprengerin

 21. November 2021. Der Schriftsteller Édouard Louis verhandelt in seinen autobiografisch grundierten Büchern, wie Menschen bereitwillig an ihrer eigenen Unterdrückung mitwirken: in "Wer hat meinen Vater umgebracht" etwa. In seinem neuen Buch "Die Freiheit einer Frau" beschreibt Louis nun, wie seine Mutter dieses Muster sprengt.

Von Michael Wolf

21. November 2021. Édouard Louis erkennt seine Mutter nicht. Das Foto datiert vor seiner Geburt, die Mutter ist Anfang zwanzig, aber das ist nicht der Grund. Es ist der Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie wirkt hoffnungsvoll. Gerade hat sie sich von ihrem ersten Mann getrennt, einem tyrannischen Trinker. Für eine kurze Zeit, so vermutet Louis, muss sie gedacht haben, ihr Leben könne eine neue Wendung nehmen. Doch sie hat bereits zwei Kinder, keine Ausbildung und kein Geld. Schon bald wird sie sich in ihr Schicksal fügen, in eine weitere Ehe mit einem Mann, Louis’ Vater, der bald nach der Hochzeit damit beginnt zu saufen, der sie schlägt, demütigt und missachtet.

Die Starken und die Schwachen

Ihr Ausdruck erstarrt wieder in Resignation, nur selten erkämpft sie sich kleine Fluchten. Louis schildert eine Szene, in der die Mutter selbstvergessen und angetrunken ein Lied mitsingt, und er sie anschreit, sie solle die Musik ausschalten. "Ich war so daran gewöhnt, sie zu Hause unglücklich zu sehen, dass Glück auf ihrem Gesicht auf mich wie ein Skandal wirkte, ein Schwindel, eine Lüge, die es schnellstmöglich zu entlarven galt."

Cover LouisAuch in den vorherigen Essays "Das Ende von Eddy" und "Wer hat meinen Vater umgebracht" erzählte Louis von seiner Familie, letzteren Text performt er derzeit selbst an der Berliner Schaubühne. Er berichtet vom Aufwachsen in einem Milieu, das nichts als Armut und Gewalt kennt, und in dem er zu allem Übel auch noch als Homosexueller ausgegrenzt wird. Mitschüler verprügeln ihn, nennen ihn "Schwuli", auch der Vater verachtet seine feminine Art. Vor der Mutter versucht er seine Verzweiflung zu verbergen, mit erstaunlichem Erfolg. Als er ihr Jahre später eröffnet, er habe seine Kindheit gehasst, glaubt sie ihm kein Wort.

Brief an die Mutter

"Wie hätte ich dir damals diese Reaktion übel nehmen können, denn sie war gewissermaßen das Zeichen meines Sieges, schließlich war es mir die ganze Zeit gelungen, dich in Unwissenheit darüber zu halten, wie mein Leben war, und dich letzten Endes daran zu hindern, meine Mutter zu werden?" Eine Mutter kann sie Louis nicht mehr werden, doch eine Frau, wie sie immer eine hatte sein wollen, eine, die sich schminkt und die Haare färbt, Schmuck trägt, die sich amüsiert und in Cafés verkehrt. Genau diese Wandlung geschieht. Eines Tages verlässt Monique ihren Mann und zieht bald darauf aus der Provinz nach Paris, um ein neues Leben zu beginnen. "Die Freiheit einer Frau" ist zugleich ein Brief an die Mutter, als auch die Geschichte ihrer Emanzipation. Louis beschreibt die Metamorphose mit einer gewissen Skepsis, doch vor allem mit großer Zuneigung. "Für manche ist die Identität als Frau gewiss eine bedrückende Identität; für sie bedeutete das Frau-Werden eine Errungenschaft." Glücklich sei sie nun, wie sie immer wieder betont. Und hierin unterscheiden sich die Befreiungen von Mutter und Sohn.

Fremdbestimmte Figuren im Spiel der Mächtigen

Louis selbst gehört heute zu den bekanntesten Intellektuellen Frankreichs. Seine Bücher sind zugleich Lebensberichte und -beichten als auch politische Manifeste. Wenn er die Tristesse seiner Kindheit schildert, die Homophobie, das materielle Elend seiner Familie oder den körperlichen Verfall seines Vaters, klagt er stets an, statt nur zu klagen. Seinen Aufstieg versteht er selbst als Anomalie in einer Gesellschaft, die an die Spaltung zwischen Starken und Schwachen so sehr glaubt, dass sie meint, es handelte sich dabei um ein Naturgesetz.

Ihm ist die Flucht aus dem Elend gelungen, doch er freut sich nicht daran, sondern antwortet mit Wut darauf, dass es dieses Elend überhaupt gibt, und die meisten es nicht aus ihm herausschaffen. Seine Mutter reagiert ganz anders, was den Sohn nachdenklich stimmt. Wie kann sie zufrieden sein, obwohl sie doch weiterhin im Armeleute-Supermarkt einkaufen muss, erneut von einem Mann abhängig ist und die bürgerlichen Frauen ihres Viertels sie verachten? "Ist eine Veränderung immer noch eine Veränderung, wenn sie in einem gewissen Maße von der Gewalt der Klassenordnung eingeschränkt wird?" Vielleicht sei die Frage nicht, was Veränderung, sondern was Glück ist.

Es deutet sich hier eine interessante Wendung an. Louis’ bisheriges Werk verpflichtet sich dem Kampf gegen Ungerechtigkeit, er schildert seine Protagonisten wie fremdbestimmte Figuren in einem Spiel der Mächtigen. Freilich führt eine solche Poetik nur in weitere Widersprüche. Den anderen eine Stimme zu verleihen, heißt zunächst auch, ihnen eine solche abzusprechen. Die Beschreibung des gebrochenen Mannes in "Wer hat meinen Vater umgebracht" folgte gar dem Programm einer Umkehrung des Patriarchats. Der Sohn verkleinerte den Vater, um ihn den Mächtigen als Beweis ihrer Schuld zu präsentieren.

Retter statt Opfer

Die Metamorphose seiner Mutter verläuft ganz anders, Louis’ Wut auf die Verhältnisse perlt an ihr ab, er kann sie nicht wie eine Marionette der Gesellschaft, des Milieus, der Politik beschreiben. Hier ist sie ein Mensch, der wie alle dazu verdammt ist, eine fremdbestimmte Rolle zu spielen, sich aber weigert, darunter zu leiden. Nicht nur um die "Freiheit einer Frau" geht es also in diesem Essay, sondern auch um die Befreiung eines Schritstellers von den ihn selbst beschränkenden Urteilen. Diese Emanzipation geht zulasten der politischen Brisanz, soziale Mobiliät erscheint hier auf einmal nicht mehr als etwas, das prinzipiell ausgeschlossen ist, sondern wie eine persönliche Entscheidung. Doch eröffnet diese Wende auch den Zugang zu einem zugewandten, freundlichen Schreiben, das Menschen nicht mehr im Dienste einer Sache zu Opfern erklärt, sondern sie als Retter ihrer selbst betrachtet.

 

Die Freiheit einer Frau
von Édouard Louis
aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel
S. Fischer Verlag 2021, 96 Seiten, 17 Euro.

Mehr über Édouard Louis auf nachtkritik.de im Lexikon.

Kommentare  
Buchkritik, Die Freiheit einer Frau: Künstlerblase
Der für Édouard Louis typische soziologisch-psychoanalytische Selbstbefragungs-Jargon wechselt sich diesmal mit zärtlichen Erinnerungen ab. „Die Freiheit einer Frau“ ist das wohl bisher optimistischste Buch des französischen Star-Autors: auch hier sind das Gefühl des Abgehängtseins prekärer Milieus und die Gewalterfahrungen, die seine Bücher durchziehen, auf fast jeder Seite präsent. Der Grundton ist aber positiver, lädt stellenweise sogar zum Schmunzeln ein wie bei der Anekdote über eine Begegnung zwischen Catherine Deneuve, Inbegriff einer Filmdiva und französischer Eleganz, und der Mutter von Edouard Louis, die einen neuen, liebevolleren Partner fand und in eine Hausmeisterwohnung in einem Pariser Nobel-Arrondissement zog.

Bei der Lesung zum Auftakt seiner Tour durch den deutschsprachigen Raum erzählte Louis an der Berliner Schaubühne eine Anekdote aus der Künstlerblase, wie Intendant Ostermeier und er nach einer Theateraufführung mit der Deneuve parlierten und über die im Buch verewigte Begegnung mit der Mutter sprachen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/12/02/die-freiheit-einer-frau-edouard-louis-kritik/
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