Einsamer wird's nicht

29. April 2023. Kae Tempests "Verbundensein" wird regelrecht als Manifest für mehr Nähe und wider die Entfremdung gelesen. Regisseur Alexander Giesche hat den Essay jetzt bildgewaltig in Bremen inszeniert, mit Nadine Geyersbach im Zentrum, die dem verletzten lyrischen Ich eine Figur und Stimme gibt.

Von Jan-Paul Koopmann

Kate Tempests "Verbundensein" von Alexander Giesche am Theater Bremen in eine kraftstrotzende Performance übertragen © Eike Walkenhorst

29. April 2023. Da sitzt man nun inmitten einer Trümmerlandschaft aus hunderten Videokassetten, zertretenen Süßigkeiten, erschöpften Menschen – und weiß auch nicht so recht: Hat das jetzt funktioniert? Sind wir einander wirklich so nahe gekommen, wie es geplant war? Durften wir "Verbundensein" erfahren? Oder haben wir doch wieder nur für ein paar Stunden unsere Herzschläge synchronisiert, also wie immer, wenn ein paar Leute im gleichen Raum hocken und von irgendwo ein Bass wummert.

Die Frage drängt, weil der Abend schließlich nicht einfach nur "Verbundensein" heißt, sondern weil Alexander Giesche mit dem gleichnamigen Essay von Spoken-Word-Artist und Autor:in Kae Tempest ja doch auch ein programmatisches Vorhaben aufgegriffen hat. Es ist ein Text, der etwas ändern will. Der zwar als sehr persönliche Selbstreflexion beginnt, letztlich aber doch mindestens all jene betrifft, die Texte, Musik oder andere Kunsterzeugnisse an ein Publikum aussenden. Und der darum auch sowas wie das Wesen der Kunst selbst berührt. 

Mit Veränderungswille

Auch wenn das Schlachtfeld im Großen Haus des Bremer Theaters nicht so aussieht: Formal kommt es einer Lesung am nächsten, was Alexander Giesche hier als neues "Visual Poem" vorstellt. So nennt er sein bildgewaltiges Performancetheater mit einem Einschlag Bildender Kunst, das hier in Bremen mit Giesches Residenz vor rund zehn Jahren eine prägende Station erlebt hat – wahrscheinlich für beide Seiten. Es geht zumeist um gesellschaftlichen Wandel und Fragen der Digitalität, denen sich Giesche assoziativ annähert, die er abstrahiert und in wieder neu deutbares Bühnengeschehen übersetzt.

Und dafür hat es diesmal ziemlich viel Text. Schauspielerin Nadine Geyersbach liest lange Passagen aus dem kurzen Buch vor, während Schlagzeuger und Spielpartner Paul Amereller meist mitsamt Drumset irgendwo über der Bühne schwebt und aus der Ferne klar macht, dass es mit der Nähe so eine Sache ist. Denn tatsächlich verdichtet sich hier bald, was sich zwischen Text und Sprecherin und Beats und Schlagzeug und Publikum entfaltet.

Die Bildsprache ist erwartbar eindringlich: Minutenlang kreist Geyersbach an einem Metallträger aufgehängt über die Bühne. Ein Gegengewicht an der Strebe erlaubt ihr Riesensprünge wie auf dem Mond, lässt sie wie schwerelos durch den Raum segeln. Nebel wird aufziehen, Lichtstrahlen über Spiegel Netze knüpfen. Am Ende brennt das Mikrophon.

Verbundensein3 Eike Walkenhorst uSprünge zwischen Dominoreihen und auch sonst eindringliche Bildsprache: "Verbundensein" mit Nadine Geyersbach © Eike Walkenhorst

Sie merken schon: Besonders subtil sind diese Bilder nicht. Aber schön sind sie, auf eine rohe und pointierte Weise, weil Zutaten und Rezeptur des Effekts so sichtbar bleiben. Bevor etwa das Mikro in Flammen aufgeht, geht Geyersbach einen Eimer Brennpaste vom Bühnenrand holen, sagt "danke" zur Technikerin, und geht dann nochmal los fürs Feuerzeug. 

Dauerbrenner Entfremdung

Der Rückzug ins Bild und dieser Abstand tun dem Text gut. Denn Tempests Essay ist auf seine sprunghaft anekdotische Weise gar nicht so leicht vom Bühnengeschehen einzufangen. Obwohl er doch die ganze Zeit von Wechselwirkungen zwischen Leser:in, Text und Autor:in spricht – von Performanz also – der er eine fast mystische Bedeutung beimisst. Nicht nur im deutschen Feuilleton wurde das Büchlein seinerzeit als "Predigt" gelesen, oder auch als "Manifest".

Aber für was eigentlich? Das Miteinander im Titel bleibt im Kern negativ bestimmt: als eine Anti-Entfremdung, wobei ausgerechnet die gesellschaftliche Dimension der Misere sonderbar unterbelichtet bleibt. Tempest erzählt von einem Leben mit Überlastung, Verwertungsdruck, Drogen und dem Rückzug in eine Kunstfigur, die zwar auf der Arbeit eine Weile gut funktioniert, sich dafür aber vom vermeintlich echten "Ich" entkoppelt. Das stimmt alles. Und weil das alles stimmt, ist die Entfremderei ja nun auch seit mindestens 200 Jahren Dauerbrenner in Kunst, Philosophie und auch handfesteren Revolutionsangelegenheiten. Kann sein, dass wir damit nicht weit gekommen sind, aber ein bisschen mehr war schon drin als die Idee, mal für ein, zwei Tage das Handy wegzulegen.

Verletztes lyrisches Ich

Es steckt jedenfalls eine Naivität in diesem Text, die auch die Inszenierung nicht in den Griff bekommt. Nur will sie das auch gar nicht. Im Gegenteil steigt Nadine Geyersbach voll in die Verletzlichkeit des lyrischen Ichs – erzählt mit zitternden Händen und manchmal brüchiger Stimme von Sehnsucht nach dem verlorenen Miteinander. Das ist schon grandioses Spiel, während sich drumherum Bild an Bild reiht und Augenblick an Augenblick. Für eine Nummernperformance ist der poetische Kitt jedenfalls zu dicht, auch wenn es sich zwischendurch mal danach anfühlt.

Keine Ahnung, ob die Senderin ihr ersehntes Miteinander nun erlebt hat oder nicht. Zu wünschen wäre es ihr. Zumindest fürs Bremer Publikum gab es diverse Gelegenheiten dazu: von der SMS, die auf eine LED-Tafel über der Bühne gesendet werden durften, über VHS-Kassetten, die wie Dominosteine auf die Bühne gestellt und umgeschmissen wurden – bis zum Belohnungsbier fürs Mitmachen am Bühnenrand. Und wer weiß: Vielleicht sind die einen oder anderen heute Morgen ja tatsächlich etwas weniger fremd als gestern.

Verbundensein
nach Kae Tempest
Regie: Alexander Giesche, Bühne: Alexander Giesche und Anka Bernstetter, Kostüme: Felix Siwinski, Komposition und Sounddesign: Ludwig Abraham, Video und Animation: Luis August Krawen und Leonard Schulz, Schlagzeug: Paul Amereller, Licht: Marek Lamprecht, Dramaturgie: Regula Schröter.
Mit: Nadine Geyersbach, Paul Amereller.
Premiere am 28. April 2023
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, keine Pause

www.theaterbremen.de

 

Kritikenrundschau

Von der "Schönheit von Giesches Visual Poem" und der Leistung von Solistin Nadine Geyersbach ließ sich Benno Schirrmeister von der taz (4.5.2023) gern gefangen nehmen. Wotuend sei die Austreibung alles Raunenden aus der Vorlage von Kae Tempest. Gerade "dank einer so lapidaren, fast schon banalen Bildgebung, die es mehrere Minuten lang ohne jede Aktion, ohne Auftritt, ohne Musik, ohne Lichtwechsel auszuhalten gilt, vermag der Text, wenn er dann später auf die Bühne kommt, sein Pathos zu überwinden. Er wird also ironisiert, aber romantisch, und nicht im zerstörerischen Spott verlacht. Er bleibt in der Schwebe, umwallt von Bühnennebeln. Er glänzt, er irisiert. Poetisch."

"Nadine Geyersbach kann sich auf der Bremer Bühne noch so sehr anstrengen – die Worte der Übersetzung sind nicht die des Originals und sie selbst ist eben auch nicht das Original, das nach wie vor auf der Bühne steht, allerdings vor allem in Großbritannien und nicht am Bremer Goetheplatz", moniert Marcus Behrens im Bericht für Bremen zwei (2.5.2023). "Diese Inszenierung hat aber auch einmal mehr bestätigt, dass es den jungen Generationen ganz offenbar wichtig ist, alle mitzunehmen. Auch wenn dadurch das Niveau entsprechend niedrig werden kann."

 

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