Geschützte Räume, derzeit bedroht

Von Hasibe Kalkan

31. Juli 2021. Theater sind geschützte Räume in der Türkei. Räume in denen geatmet werden kann, während draußen auf den Straßen Menschen immer wieder durch Proteste und Demonstrationen versuchen, auf Missstände aufmerksam zu machen oder für ihre Rechte zu kämpfen. Oft sind es dieselben Menschen, die auf den Straßen gegen Gewalt an Frauen oder für mehr Rechte benachteiligter Gruppen in der Gesellschaft kämpfen, die anschließend im Theater in Stücken spielen, welche diese aktuellen gesellschaftlichen Themen verhandeln. Es sind dieselben Menschen, die als Zuschauer:innen applaudieren. Man darf aber nicht vergessen, dass die Machtstrukturen auf den Straßen anders gestrickt sind als in den Theatern.

Seit den Gezi-Protesten am Taksim-Platz 2013 wurden oppositionelle Stimmen oder Menschen unterschiedlicher Couleur immer stärker aus dem öffentlichen Raum verdrängt. Die vielen kleinen Theater, die seit den 90er Jahren in Istanbul um den Taksim-Platz herum im Viertel Beyoğlu entstanden sind, um sich an neuen Inhalten und Ästhetiken auszuprobieren, entwickelten sich deshalb immer mehr zu Artikulationsräumen für Menschen und Themen, die in der Öffentlichkeit entweder unter den Tisch gekehrt oder erst gar nicht wahrgenommen wurden. Es waren und sind die Queer-Geschichten, Schicksale vom Rand der Gesellschaft, Erinnerungen an Ereignisse, die in der offiziellen Geschichtsschreibung lange keinen Platz fanden, und Frauenthemen, die vielfach auf den Bühnen gehört und gesehen werden können.

Umbruch nach den Gezi-Protesten

Seit dem Jahr 2000 hat sich Istanbul mit seiner Vielzahl an Theatern, Clubs und Festivals zu einer pulsierenden Stadt entwickelt. Das rege Kulturleben machte Istanbul im beginnenden 21. Jahrhundert zu einer gehypten Metropole, die 2010 sogar zur Kulturhauptstadt Europas gewählt wurde. Mit den Gezi-Protesten begann sich das politische Klima im Land allerdings zu wandeln. Die seit Jahren herrschende Aufbruchsstimmung wich einem Schock, der einerseits zur Abwanderung einer Vielzahl von Künstler:innen nach Europa, vor allem nach Deutschland, führte, andererseits zu einer Verlagerung des künstlerischen Zentrums in der Stadt.

Theaterbrief Tuerkei Welttheatertagsfeier2019 t24Welttheatertagsfeier in Kadiköy am 27 März 2019 © t24

Der Druck seitens der konservativen Bezirksverwaltung durch verkürzte Öffnungszeiten und Erhöhung von Mieten auf die alternative Szene in Beyoğlu, dem Stadtteil mit den meisten Cafés, Bars, Music Halls und kleinen Theatern, wurde immer stärker. Die Kulturstätten wanderten daher ab in andere Bezirke der Stadt: Kadıköy, Karaköy und Beşiktaş entwickelten sich zu den neuen Szenevierteln Istanbuls, wobei Kadıköy zum Zentrum der alternativen Theaterszene wurde. Es gab auch Theater, die in Shopping Malls oder in entlegenere Stadtteile von Istanbul zogen. 2018 klagte eine Theaterkritikerin in einem online veröffentlichten Text darüber, dass sie während des alljährlichen Theaterfestivals vom Künstlerviertel Cihangir, wo sie wohnte und das sich nicht unweit vom Taksim-Platz befindet, nicht mehr wie früher zu Fuß zu den Vorstellungen gehen könne, sondern für jeden Theaterbesuch in einen anderen, zum Teil weit entfernten Stadtteil fahren müsse und dies einfach viel zu viel Zeit und Energie kosten würde.

Theater als Teil des städtischen Lebens

Um das Theaterleben in der Türkei verstehen zu können, muss man nach Istanbul schauen, der mit über 15 Millionen Einwohner:innen größten türkischen Stadt. Hier wurde im 19. Jahrhundert das Theater nach westlichem Vorbild etabliert, hier entstanden, neben der Hauptstadt Ankara, die ersten subventionierten Theater, wie das städtische und das Staatstheater. Vor allem in den 60er und 70er Jahren entstanden zudem eine Vielzahl von Privattheatern, die von Boulevardkomödien bis zu politischen Stücken alle Genres abdeckten. Im 20. Jahrhundert entwickelte sich Istanbuls Theater zu einem wichtigen Bestandteil des städtischen Lebens, teils, weil es zum guten Ton gehörte, ins Theater zu gehen, teils, weil die Theater als politische Aufklärungs- und Begegnungsorte großen Zuspruch von der stark politisierten Bevölkerung fanden.

Der Militärputsch von 1980 setzte dieser Entwicklung zunächst ein jähes Ende, von dem sich das einst rege und vielseitige Theaterleben Istanbuls nur langsam erholte. In den 90er Jahren waren die jungen Menschen wieder so weit, sich künstlerisch mit neuen Formen und Inhalten auseinanderzusetzen, die sich stärker denn je zuvor im internationalen Austausch entwickelten. Einen großen Beitrag leistete hierzu das Internationale Theaterfestival, das seit 1989 nicht nur interessante Produktionen aus der ganzen Welt nach Istanbul einlädt, sondern auch junge experimentierfreudige Künstler:innen unterstützt. In den neunziger Jahren entstanden eine rege Szene für zeitgenössischen Tanz und Performancekunst sowie eine Reihe von internationalen Projekten, die türkische Künstler:innen vor allem mit europäischen Künstler:innen vernetzten und somit auch das türkische Theater nach außen hin öffnete.

Artikulationsraum für eine junge Generation

In den 2000er Jahren war eine Generation junger Menschen, die nichts anderes als die Erdoğan-Regierung mit ihrem stets wechselnden politischen Klima kannte, in ein intensives Theaterleben hineingewachsen. İrem Aydın, eine erfolgreiche junge Theaterautorin und Regisseurin, berichtet, dass ihre Generation, obwohl sie als unpolitisch und oberflächlich gelte, angesichts des politischen Klimas im Land nicht länger unempfindlich sein könne gegenüber der dunklen Atmosphäre, in der sie nun lebe.

Die alternative Theaterszene stellt besonders für junge Menschen einen Artikulationsraum dar. Da auf vielen Bühnen ein redundantes Repertoire übersetzter Stücke westlicher Autor:innen immer ein Problem war, begannen sie ihre eigenen Texte zu schreiben. İrem Aydın erlebt die Veränderungen im Lande als so chaotisch und schnell, dass ihrer Meinung nach in zeitgenössischen türkischen Theatertexten als Stilprinzip nur noch noch "Momente" einen Sinn ergäben: "Momente zum Atmen und Schreien. Wir müssen schreien, weil niemand zuhört und das Theater uns hilft, einander zu hören. Und es ist sehr motivierend, wenn Leute sagen, dass sie das Gefühl haben, gehört zu werden, nachdem sie die Aufführungen gesehen haben."

Neue Texte über Gender und (Zeit-)Geschichte

Die Stücke der jungen Künstler:innen kommen oft mit nur ein bis vier Schauspieler:innen aus und benötigen kaum Bühnenbild oder teure Kostüme. Aufgeführt werden sie auf alternativen Bühnen, von denen sich die meisten in ehemaligen Garagen, Kellern oder Wohnungen befinden und Platz für etwa 30-100 Zuschauer:innen bieten.

Monodramen herrschen vor auf den kleinen Bühnen. Oft handeln sie von Frauen. So erzählt zum Beispiel Ebru Nihan Celkan die Geschichte von zwei lesbischen Frauen, Janina aus Berlin und Umut aus Istanbul. Nicht nur um die Liebe zwischen den Frauen geht es in diesem Stück, sondern auch darum, was es bedeutet, seine Heimat zu verlassen und Heimweh zu haben. Andere Theaterstücke erzählen vom Leben einer Tänzerin, die den Liebhaber ihrer Mutter umbringt, oder einer russischen Frau, die eigentlich wegen ihrer großen Liebe nach Istanbul gekommen ist und von dieser zur Prostitution gezwungen wird.

Die Heldin von "Lena, Leyla oder die Anderen" erzählt, wie es dazu kam, dass sie nach Istanbul heiratete, und was es für sie bedeutet, sich von einer freien lebenslustigen Frau namens Lena in Leyla, eine von ihrem Mann und seiner Familie abhängigen Frau mit Kopftuch, zu verwandeln. Andere Stücke wiederum erzählen authentische Geschichten von Transmenschen oder Schwulen, wie etwa "Esmeray", das auf unterhaltsame Art den Zuschauer:innen einen Spiegel vorhält und ihnen ihre Vorurteile und Berührungsängste zeigt.

Neben Genderthemen wird in Stücken wie "Wo ist Muhsin Bey" oder "İz" (Spuren) die türkische Geschichte überschrieben. So führt "Wo ist Muhsin Bey" die Zuschauer:innen zurück zu den Ursprüngen des westlichen Theaters in der Türkei. In "Iz" erleben sie, was es in den 50er Jahren in Beyoğlu bedeutete, armenischen oder griechischen Ursprungs zu sein und um einen linken Aktivisten zu zittern, der nach dem Putsch 1980 vom Militär gesucht wird. Noch intensiver arbeitet das Stück "Disko 5’nolu", das in kurdischer Sprache von den systematischen Folterungen in einem Gefängnis im Südosten der Türkei erzählt, die Folgen des Militärputschs auf.

Der Lockdown und seine (ökonomischen) Folgen

Vor der Pandemie hatten die Istanbuler:innen eine Auswahl an etwa 150 Aufführungen pro Abend, die großen Bühnen der subventionierten Theater eingeschlossen. Viel gab es zu erzählen und zu performen. Am 11. März 2020 aber ging auch die Türkei in den kompletten Lockdown und alle Theater, Kinos, Cafés, Restaurants wurden geschlossen. Während die Theaterschaffenden der subventionierten Theater das Glück hatten, weiterhin ihr Gehalt zu bekommen, hatten alle anderen in dem Bereich tätigen Personen plötzlich kein Einkommen mehr. Vor allem die kleinen Bühnen waren zunächst von der neuen Situation betroffen, da sie größtenteils von ihren Eintrittsgeldern leben – nur wenige private Theater haben das Glück, vom Kulturministerium finanzielle Unterstützung zu erhalten.

Neben der Bühne und dem Synchronisieren sind für viele Schauspieler:innen Auftritte in Fernsehserien eine beliebte Einkommensquelle. Die Türkei ist nach den Vereinigten Staaten das zweitgrößte Exportland für Fernsehserien. Den größten internationalen Erfolg bisher erzielte "Muhteşem Yüzyıl", eine Serie über das Leben von Sultan Süleyman des Prächtigen und seiner berühmten Gattin Roxelane. Sultan Süleyman regierte im 16. Jahrhundert über 45 Jahre lang das Osmanische Reich und verdoppelte dessen Größe durch Eroberungen. Die Serie wurde in 70 Länder exportiert und mehr als 500 Millionen Menschen sollen sie sich in ihrer vierjährigen Sendezeit (2010-2014) weltweit angesehen haben.

Der Erfolg der Märchenwelten, die in Spielfilmlänge tagtäglich über den Bildschirm flimmern, brachte eine wachsende Popularität des Schauspielerberufs mit sich, womit auch der Bedarf an Ausbildungsstätten stieg. Neben den bereits vorhandenen staatlichen Konservatorien in den Großstädten begannen sich eine steigende Anzahl an Privat-Universitäten und Dozent:innen in einer Vielzahl von Kursen der Schauspielausbildung anzunehmen. Viele der jungen Schauspieler:innen, die nicht in den Fernsehserien unterkamen, gründeten vor Corona kleine Theater, an denen sie ohne großen Aufwand Ein- oder Zwei-Personen-Stücke von türkischen Autor:innen inszenierten. Wenn sie Erfolg hatten, konnten sie mit diesen Aufführungen durch die Türkei touren. Und wer dort nicht unterkam, kellnerte in einem der zahlreichen Cafés in Beşiktaş oder Kadıköy, beides Istanbuler Stadtteile, die wegen der Unterhaltungsangebote besonders beliebt bei jungen Menschen sind.

Petition und Proteste zur Rettung des Sektors

Mit der Pandemie änderte sich alles von einem Tag auf den anderen. Da anfangs niemand ahnte, wie lange der Lockdown andauern würde, war die Panik nicht allzu groß. Bald jedoch stellte sich heraus, dass die Pandemie nicht so schnell vorbei sein würde und es wurde begonnen, über Hilfeleistungen nachzudenken. Die Privattheater starteten die Petition "Unser Theater soll leben", die innerhalb kürzester Zeit von über 30.000 Menschen unterzeichnet wurde. In sieben Punkten forderten die Theater Steuersenkungen sowie die Übernahme von Mieten, Strom- und Wasserrechnungen und von Versicherungskosten. Gefordert wurde ein neues Gesetz, das die Privattheater nicht als Handelsbetriebe einstuft, sondern als Kultureinrichtungen; man verlangte besondere Unterstützung für einige ältere Schauspieler:innen und Regisseur:innen sowie eine Überarbeitung der Bedingungen für die staatliche Unterstützung der Privattheater. Das Kulturministerium reagierte verhalten auf die Petition und ließ die Theater noch eine Weile in Unsicherheit darüber, ob es je eine Unterstützung für sie geben würde.

Am 11. Juli 2020 begannen überall in der Türkei Künstler:innen vor den Theatern zu protestieren, um die Regierung auf ihre finanziell ausweglose Situation aufmerksam zu machen. Erneut aber wurden sie weitgehend überhört. Die einzige Hoffnung waren die Sommermonate, denn nur noch die Freilufttheater konnten bespielt werden. Für die Vielzahl der Privattheater war dies allerdings keine echte Alternative, da ihnen die Freiluftbühnen nur für kurze Zeit zur Verfügung standen. Genauso wenig Hoffnung auf ihr Überleben bot für viele Theater, die nur Platz für 30 bis 50 Zuschauer haben, die Aussicht darauf, dass im Herbst 2020 die Theater wieder geöffnet werden sollten.

In dieser Not sorgte die sozialdemokratische Stadtverwaltung Istanbuls für einen Tropfen auf den heißen Stein, indem sie den Privattheatern ihre großen Bühnen zur Verfügung stellte und manche Inszenierungen aufkaufte, um ein digitales Theaterarchiv einzurichten. Einige der subventionierten und freien Theater hatten während der Pandemie ihre Archive geöffnet und streamten ältere Inszenierungen. Bereits im April 2020, also kurz nach dem Lockdown, wurde außerdem der TVTheater-Sender ins Leben gerufen. Der Gründer Murat Temel berichtet, dass dieser Sender eigentlich schon lange eine Notwendigkeit war, um dem Theatersektor "ein Gedächtnis zu verleihen". Außerdem könne man auf diese Weise Menschen, denen der Zugang zu den Theatern verwehrt geblieben sei, aus Altersgründen oder weil sie weit weg lebten, nun ermöglichen, sich besondere Stücke anzusehen; Stücke, die professionell aufgenommen und in guter Qualität ausgestrahlt wurden. Bislang hat TVTheater nur insgesamt 20 Istanbuler Inszenierungen im Repertoire, die in den letzten Jahren besondere Aufmerksamkeit erregt haben.

Staatliche Hilfspakete: Kurzes Interim …

Im September 2020 verkündet das Kulturministerium endlich, dass es die Theater unterstützen würde, und dies mit einer Summe, die alle vorhergehenden Beträge, die jemals an Theater ausgezahlt wurden, bei weitem übertreffen sollte. Insgesamt 390 Theater – darunter 83 Kindertheater, 335 professionelle und 55 traditionelle Theater – meldeten sich daraufhin beim Ministerium. Laut Angaben des Kulturministeriums wurde die Summe von etwa 1,3 Millionen Türkische Lira (TL) an 75 Kindertheater, 199 professionelle und 54 traditionelle Theater verteilt. Keines der alternativen, kleinen Theater befand sich darunter.

Das Staatstheater besitzt in 23 von insgesamt 81 Provinzhauptstädten der Türkei Bühnen, wobei sich die Hälfte ihrer insgesamt 43 Bühnen in den drei größten Städten (Istanbul, Ankara, Izmir) befinden. Diese benötigten, genauso wie die städtischen Theater, keine Unterstützung, ganz im Gegenteil zu den vielen kleineren und größeren Privattheatern. Deren Anzahl ist leider nicht ganz erfasst, aber sie übertrifft vor allem in Istanbul die Anzahl der subventionierten Bühnen um ein vielfaches. Gemäß des TUIK (Türkisches Institut für Statistik) gab es im Jahr 2017/18 in der Türkei insgesamt 736 Bühnen mit insgesamt 314479 Plätzen, ohne die subventionierten Theater von den privaten zu trennen.

Im Oktober 2020 starteten die Staats- und Stadttheater mit halber Zuschauerkapazität in die Saison. Die gewöhnlich zu über 90 Prozent ausgelasteten subventionierten Theater hatten trotz der Pandemie keine Schwierigkeiten, die vorhandenen Kapazitäten auszulasten, da die Zuschauer:innen ihre Bühnen so sehr vermisst hatten, dass alle Tickets innerhalb kürzester Zeit ausverkauft waren. Aufgeführt wurden nur Stücke mit kleiner Besetzung. Dennoch konnte nicht verhindert werden, dass es unter dem Personal zu Infektionen und sogar zu einem Todesfall kam.

Am staatlichen Theater in Izmir, der drittgrößten Stadt der Türkei, infizierten sich bei den Proben zu dem Ein-Personen-Stück "Ameisen/Es gab Krieg" (John Steinbeck/Boris Vian) über 40 Personen mit Corona. Vom Maskenbildner bis zum Kostümbildner war fast das gesamte Personal betroffen. Der Bühnenbildner Ali Cem Köroğlu starb am 5. Dezember an der Infektion, woraufhin die Bühnen der subventionierten Theater nach lauten Protesten der Schauspieler:innen wieder geschlossen wurden.

... aber kein Aufatmen

Nur noch in den Studios der Fernsehserien wurde Ende 2020 weiterhin gearbeitet. Alle anderen Schauspieler:innen, auch diejenigen, die sich mit Nebenjobs wie Kellnern über Wasser gehalten hatten, waren wieder arbeitslos, denn auch die Cafés wurden erneut geschlossen. Arbeitslosenunterstützung bekamen nur diejenigen, die fünf Jahre ohne Unterbrechung versichert waren. Schauspieler*innen, die nur projektbedingt versichert waren, hatten erneut keine Hoffnung auf Unterstützung, was in der alternativen Theaterszene oft der Fall war.

Im Januar 2021 gab das Kulturministerium schließlich, wie erwähnt, ein weiteres Paket zur Unterstützung der privaten Theater bekannt. Demnach sollten 451 Privattheater die Möglichkeit bekommen, die Bühnen der Staatstheater jeweils für zwei Tage zu bespielen. Die anfallenden Kosten sollten die Staatstheater übernehmen. Außerdem begann das Ministerium, Produktionen für ein geplantes digitales Archiv aufzukaufen. Das Ministerium stellte die Bedingung, dass nur Theater ohne Steuerschulden von der Unterstützung profitieren sollten. Da die meisten der alternativen Theater seit Monaten kein Einkommen mehr hatten, waren sie natürlich alle verschuldet und somit von vornherein von diesem Paket ausgeschlossen. Diejenigen Theater, die das Glück hatten, eine Unterstützung zu erhalten, bekamen vom Kulturministerium 15 bis 25.000 Türkische Lira (etwa 1.600 bis 2.600 Euro) für Inszenierungen, die sich das Ministerium für das digitale Archiv ausgesucht hatten. Die Summe war so niedrig, dass die Theater mit diesem Geld weder ihre ausstehenden Mieten zahlen noch andere Unkosten decken konnten.

Überlebensstrategie und Experimentierraum: Theater im Digitalen

Trotz der prekären Lage begannen einige Istanbuler Theater schon im ersten Lockdown darüber nachzudenken, online Theater zu machen. Eines der ersten war das BGST-Theater, ein Theater, das aus einem einstigen Universitätsclub hervorgegangen ist und einen Zweig für feministisches Theater besitzt. Bereits im Mai 2020 erzählte es in einer Videoserie namens "Ein Fall für jeden Tag" ("Her Güne Bir Vaka") die Geschichte von sieben Frauen aus unterschiedlichen Klassen und sozialen Hintergründen. Die Geschichten handeln von einer Putzfrau mit Migrationshintergrund, die Angst hat krank zu werden, da sie nicht versichert ist und eigentlich keine Arbeitserlaubnis besitzt; von einer Schauspielerin, die sich über die Arbeitsbedingungen während der Pandemie in den Studios beschwert; von einer Bloggerin aus der Mittelschicht; von einer Rentnerin, die sich auch vor der Pandemie stets isoliert und einsam gefühlt hat; von einer Frau, die vorgibt, Covid-19 zu haben, und sich freiwillig in Isolation begibt, um sich vor der Gewalt ihres Ehemannes zu schützen; von einer Krankenschwester und einer Botin, die beide ununterbrochen arbeiten müssen. Die Erfahrungen dieser Figuren, die nach den einzelnen Wochentagen benannt sind, zeigen nicht nur, wie sich die Isolation auf Frauen verschiedener Gesellschaftsschichten auswirkt, sondern regen auch an, darüber nachzudenken, inwiefern die persönlichen Geschichten der gezeigten Frauen die soziale Realität widerspiegeln.

Theaterbrief Tuerkei Ein Fall fuer jeden Tag BGST"Ein Fall für jeden Tag " © BGST

Auch andere Theater, die nicht einfach ältere Produktionen streamen wollten, begannen zu experimentieren, wie zum Beispiel Galata Perfom, deren Gründerin Yeşim Özsoy kurzerhand ihre Bühne, die sich in der Nähe des Galata Turms befand, aufgab und ihr Theater, das neben Kursen für szenisches Schreiben auch internationale Festivals für zeitgenössische Texte organisiert, komplett ins Netz stellte. Özsoy betont, dass das Online-Theater seit Anfang der 2000er Jahre erforscht wird und deshalb eigentlich nichts Neues sei. Allerdings hätten die gegenwärtigen Bedingungen das Online-Theater radikaler auf die Tagesordnung gesetzt als je zuvor. Özsoy fügt hinzu, dass die Theaterkunst schon immer sehr innovativ war: "So wie der Naturalismus am Ende des 19. Jahrhunderts die Realität auf der Bühne mit einem fast kinematografischen Effekt herzustellen versuchte und somit die Entwicklung des Kinos widerspiegelte, oder im 20. Jahrhundert die Bühne als Ort der Wiederherstellung von Realität durch Repräsentation in Frage gestellt wurde, so ist es nun im 21. Jahrhundert so weit, dass das Theater dem Einfluss des Digitalen ausgesetzt ist." Die Theatermacherin glaubt nicht an Stereotype und erklärt, dass die Performancekunst bereits Werke geschaffen habe, die die Existenz des Publikums und der Schauspieler:innen in Frage stelle: "Konzepte wie Video und Digitalität, Augmented Reality und Virtual Reality haben bereits begonnen, in alle Bereiche der Kunst einzutreten, einschließlich des Theaters. Durch all dies entstehen verschiedene Formen, in denen das Theater nachgebildet wird." Die Diskussion darüber, ob das Theater ist oder auch nicht, ist ihrer Meinung nach längst überholt.

Zwei Beispiele gelungenen Netztheaters

Die Produktion "Die verlassenen Küsten // Negative Fotografie" ("Terk Edilmiş Kıyılar // Negatif Fotoğraflar") von Galata Perform ist ganz in diesem Sinne entstanden. Eine Kombination aus Video, Ton, Performance und Installation, geht sie der Frage nach, wie es möglich ist, die Schauspieler:innen und das Publikum in einem anderen, digitalen Raum zusammenzubringen. Erzählt wird von einem Familienessen, bei dem die Familie nicht mehr zusammenkommen kann, weil der Vater einem Attentat zum Opfer gefallen ist.

Theaterbrief Tuerkei Die verlassenen Kuesten ElifCongur"Die verlassenen Küsten // Negativ Bilder" © Elif ÇongurMit eindringlichen Blicken in die Kamera begrüßt die Tochter die Zuschauer:innen, um sie kurz darauf in eine surreale Atmosphäre zu entführen, die zwischen statischen Bildern der Familie am Tisch und traumähnlichen Szenen am Meer wechseln. Neben inhaltlichen Fragen – Um welchen Journalisten, der einem Attentat zum Opfer gefallen ist, handelt es sich hier? Was macht der plötzliche Verlust mit den Familienmitgliedern? – entstehen auch Fragen zu den unterschiedlichen Realitätsebenen der Handlung. Als Zuschauer:in verharrt man über fünfzig Minuten lang in einem liminalen Zustand, da keine der Fragen eine eindeutige Antwort findet.

In einer anderen digitalen Inszenierung versucht die Regisseurin Şule Ateş die Zuschauer:innen mit der Schauspielerin zu vernetzen, also den gemeinsamen theatralen Moment über Zoom herzustellen. Das Ein-Personen-Stück "Solche Dinge passieren nur in Filmen" erzählt die authentische Geschichte von der Selbstfindung einer Schauspielerin. Auf unterhaltsame Art begegnet Pınar Göktaş auf Zoom ihren Zuschauer:innen und erzählt ihnen von ihrer Suche nach Liebe, einer Liebe, die geprägt ist von der Idee einer "perfekten Harmonie" wie sie uns nur in Liebesfilmen begegnet.

Theaterbrief Tuerkei Solche Dinge passieren nur in Filmen SuleAtes"Solche Dinge passieren nur in Filmen" © Şule AteşStationen auf ihrer Suche nach der "Liebe ihres Lebens" sind dabei erste sexuelle Erfahrungen, ihr Weg als Schauspielerin, bis sie schließlich feststellen muss, dass die Realität in keiner Weise mit den Liebesfilmen übereinstimmt. "Solche Dinge passieren nur in Filmen" führt das Publikum außerdem auf eine sehr unterhaltsame Art durch die romantischen Filme und die Hits von Popstar Tarkan vom Ende der neunziger und Anfang der nuller Jahre. Die Kommunikation zwischen Schauspielerin und Publikum wird über den Chat hergestellt, auch die Zuschauer:innen sind sichtbar und ansprechbar für die Schauspielerin.

Als weitere Überlebensstrategie der Theater hat sich die Live-Übertragung von Inszenierungen etabliert. Da die Schauspieler:innen vor leeren Publikumsrängen spielen, entsteht eine merkwürdige Spannung, die sich über die Kamera auch auf die Zuschauer:innen überträgt. Das alljährliche Highlight, das 24. Internationale Istanbuler Theaterfestival, konnte im November 2020 ebenfalls größtenteils nur online stattfinden. Während im Jahr 2019 noch von insgesamt 25 Produktionen zwölf aus dem Ausland waren, also fast die Hälfte, konnten 2020 von den insgesamt 24 Produktionen nur 14 vor oder mit Publikum stattfinden – und nur zwei davon waren aus dem Ausland. Die restlichen Produktionen fanden nur online statt, davon waren wiederum nur drei internationale Produktionen. Dennoch ist der Mut der Festivalleitung bewundernswert, da es ihr gelungen ist, in Zeiten der Unplanbarkeit ein Festival auf die Beine zu stellen, anstatt es einfach ausfallen zu lassen.

Online-Müdigkeit? Weiterkämpfen!

Derweil ist eine allgemeine Müdigkeit bezüglich aller Online-Aktivitäten aufgetreten. Während man im Frühjahr des Vorjahres noch mit großem Interesse die vielen Streams der berühmten großen internationalen Theater wie der Schaubühne oder der Royal Shakespeare Company verfolgt hat, ist inzwischen das Interesse daran gesunken und die Gewissheit hat sich etabliert, dass, egal welche Konzepte ausprobiert wurden und werden, keines die leibliche Ko-Präsenz von Schauspieler:innen und Zuschauer:innen ersetzen kann. Auch die freien oder alternativen Theater sind sich dessen bewusst und auch ihnen geht langsam die Luft und Lust aus, sich weiter auszuprobieren. Aber sie kämpfen weiter. Wie zum Beispiel die im Jahr 2018 von 13 freien Theatern gegründete und zur Zeit aus 64 Istanbuler Theatern bestehende Theaterkooperative mit einem Aufruf um den Erhalt ihrer Mitglieder kämpft.

Theaterbrief Tuerkei TheaterkooperativeAufruf © TheaterkooperativeMit diesem Appell wandte sich die Theaterkooperative Ende März 2021 an Institutionen und ihre Leiter*innen und machte darauf aufmerksam, dass die freien Theater bald aussterben werden. Die Kooperative schlägt privaten sowie staatlichen Institutionen vor, Tickets für ihre Mitarbeiter:innen und Partner:innen zu kaufen, Produktionen zu sponsern, mit Spenden die Kooperative und somit ihre Mitglieder zu unterstützen, die Unterstützung öffentlich zu machen, damit andere Institutionen sich ein Beispiel nehmen können.

Leider ist dieser Aufruf bislang auf wenig Resonanz gestossen, da die allgemeine wirtschaftliche Lage im Land die Spendenbereitschaft der Firmen sehr verringert hat. Ausgleichend springen in der Sommersaison 2021 vor allem einige Stadtverwaltungen (Istanbul) und das Staatstheater ein, indem sie zum Beispiel Theaterfestivals in Parkanlagen organisieren oder privaten Theatern in verschiedenen Teilen des Landes ihre Bühnen öffnen, damit sie auf Tournee gehen können.

Debatten über #MeToo – und eine offene Zukunft

Interessanterweise hat die Pandemie allerdings auch dazu geführt, dass über andere Themen in der Theaterwelt nachgedacht wird und diesbezüglich zum Handeln angeregt wird. Zu Beginn des Jahres 2021 erschütterte der anonyme Brief einer jungen Frau in den sozialen Medien die Theaterwelt. In diesem Brief berichtete die noch nicht einmal 20-Jährige, wie sie während ihres Schauspielunterrichts an einer privaten Organisation von dem Kursleiter sexuell belästigt wurde. Dieses konkrete Ereignis war der Beginn der türkischen #MeToo-Bewegung. Eine Frauenorganisation, hauptsächlich bestehend aus Wissenschaftler:innen, Theater- und Tanzschaffenden, die eigentlich entstanden war, um die Künstlerinnen während der Pandemie finanziell und ideell zu unterstützen, schrieb sich nun den Kampf gegen sexuellen Missbrauch in den darstellenden Künsten auf die Fahnen. Wie folgenreich dieser Kampf sein wird, wird sich in näherer Zukunft zeigen, allerdings regte der plötzliche Beschluss der Regierung am 20. März 2021, aus der Istanbuler Konvention auszutreten, die Frauen dazu an, sich noch intensiver mit dieser Thematik auseinanderzusetzen.

Mit und ohne Pandemie bleibt es spannend in der Türkei. Viele sind und waren hier schon immer Überlebenskünstler:innen, mit der Pandemie ist ihre Anzahl rapide angestiegen. Der starke Familienzusammenhalt und die Solidarität unter den Künstler:innen fängt einen Teil derjenigen momentan noch auf, die während ihres Balanceakts auf dem immer dünner werdenden Seil hinunterzufallen drohen. Wie lange ihnen dieser Balanceakt noch gelingen wird, steht derzeit leider in den Sternen.

 

Theaterbrief Tuerkei HasibeKalkan SinemAltunHasibe Kalkan ist in Berlin aufgewachsen und hat nach ihrer Rückkehr in die Türkei Germanistik und Theaterwissenschaft studiert. Sie unterrichtet an der Istanbul Universität Theaterkritik und Dramaturgie und schreibt Kritiken für verschiedene Fachzeitschriften.

avesis.istanbul.edu.tr/hasibe.kalkan

 

Mehr zum Thema: Anfang 2020 kam es zu einer Kündigungswelle an den staatlichen Theatern. Theaterbriefe aus Istanbul sandten bereits 2014 Bahar Çuhadar und 2016 Hakan Silahsizoglu.

 

Dieser Beitrag entstand in einer Kooperation zwischen dem Internationalen Forschungskolleg "Interweaving Performance Cultures" der Freien Universität Berlin (Redaktion: Clara Molau, Antonija Cvitic) und nachtkritik.de (Redaktion: Elena Philipp). Bislang veröffentlicht sind Theaterbriefe aus Argentinien, Chile, Ägypten, Uruguay und Südafrika.

 
Eine Kooperation mit

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