Kolumne Straßentheater – Janis El-Bira fordert die Öffnung der Intendantenzimmer
Raus aus dem Selbstbetrug!
von Janis El-Bira
16. März 2021. Dies sei der Raum, "wo Theaterträume vorgeträumt und geplant" werden. So soll einst Claus Peymann sein Büro im Berliner Ensemble beschrieben haben, dessen Intendant er bis 2017 war. Jenen Raum mit dem berühmten Modell der BE-Bühne also, mithilfe dessen der Chef im Kleinen vorträumen konnte, was später im Großen zu sehen sein sollte. Ein Zimmer als Herzkammer des Theaterkörpers, pulsierend und Kreativblut pumpend bis in die letzten Zellen, die kleinsten Verschläge, wo vielleicht die Praktikant:innen und Assistent:innen wohnen. So die Vorstellung, so der Traum.
Zentralgestirn im öden Kosmos
Kaum ein anderer Ort repräsentiert die zentralistische – böse Zungen würden sagen: feudalistische – Struktur und Architektur des Theaters so eindrücklich wie das Intendantenzimmer. Aufmerksam wird die Öffentlichkeit darauf aber vor allem, wenn sein Besitzer wechselt. Dann stellt sich die Frage nach der Neu-Inszenierung dieses Raumes, seiner programmatischen Inbesitznahme oder auch gleich seiner Austauschbarkeit. Peymanns Nachfolger, Oliver Reese, überließ dessen saalartiges Büro bekanntlich den Assistent:innen, Matthias Lilienthal bezog an den Münchner Kammerspielen eben das: Eine Kammer. Wie man sich einrichtet, so regiert man. Oder will wenigstens diesen Eindruck erwecken.
Ein paar dieser Intendantenzimmer habe ich von innen gesehen. In einigen stapeln sich Bücher an Wänden und auf Tischen. Ein Bild von emsiger Tüftelei am Inhalt, von der Arbeit am Eigentlichen. Anderswo hängen Plakate, betont nicht der eigenen Produktionen, sondern von denen der Vor-Vorgänger. Hier will man sich in Traditionen betten, historische Kontinuitäten beschwören. Und dann gibt es noch die leeren, kargen Schreibtischzimmer, aufgehübscht vielleicht noch durch einen verloren herumstehenden Bauhaus-Sessel. In der Regel aber soll nichts vom Zentralgestirn dieses öden Kosmos ablenken.
Im Reich des Hörensagens
Es war in einem solchen Nicht-Raum, in dem ein Chef-Mann keine dreißig Sekunden nach meiner Ankunft einen eruptiven Chef-Wutanfall bekam. Offenbar war der lange verabredete Interviewtermin von seinen Mitarbeiter:innen nicht an ihn weitergegeben worden. Unter den Schreien des Chef-Mannes wurde ich mit vollendetem Service-Lächeln "kurz nach nebenan" gebeten, bis er sich beruhigt hatte. In diesen Zimmern war die Angst mit Händen zu greifen. Ich hatte Mitleid mit allen, die hier arbeiteten. Die es sich nicht wie ich, der Außenstehende, leisten konnten, diesen schrillen Auftritt lächerlich und berechenbar zu finden.
Was all diesen Zimmern, den gemütlichen wie den Angsträumen, gemein war: Alles darin fand hinter verschlossenen Türen statt. Hinter stattlichen, großen Türen. Was im Intendantenzimmer geschieht, bleibt im Intendantenzimmer. Claus Peymanns Tür am BE soll sogar schalldicht gewesen sein. Es ist ein "geschützter Ort", dessen Schutz den Geheimsachen, den Vertragsinhalten, potenziell aber eben auch all jenen Wutausbrüchen, Anzüglichkeiten und Verfehlungen gilt, die lange im Reich des Hörensagens verblieben sind.
Reißt die Wände ein!
Mit den Vorwürfen der "sexuellen Grenzüberschreitungen" gegen den gestern zurückgetretenen Volksbühnen-Intendanten Klaus Dörr scheint – obwohl es nicht der erste Fall dieser Art ist – die Tür gesprengt. Denn unabhängig von seiner Person und dem ihm zur Last gelegten Verhalten werden die Rolle der Intendant:innen, deren Macht und die Instrumente ihrer Ausübung nun neu zur Disposition stehen. Und diese Diskussion wird und muss eine andere sein. Wo lange über Personen gesprochen und der Glaube aufrechterhalten wurde, mit neuen Namen auch neue Strukturen erzwingen zu können, da sollte es nun an die Substanz gehen. Warum also nicht auch an die Bausubstanz?
In der freien Wirtschaft, vor allem im angloamerikanischen Raum, ist es vielfach etabliert, dass Büros verglast, ihre Türen offen oder zumindest transparent sind. Die symbolische Wirkung ist darin größer als die praktische. Die gläsernen Türen sagen: Wir haben einander im Blick. Missbrauch kann das nicht verhindern, aber es ist ein sichtbarer Schritt heraus aus dem naiven Selbstbetrug, dass die Menschen sich selbst, ihre Temperamente und ihr Begehren im Griff hätten. Am Theater glaubte man hingegen lange, derlei nicht nötig zu haben. Weil hier eh die besseren Menschen arbeiten. Weil's der Kunst gilt. Was für ein eitler Quatsch. Nun sind Köpfe gerollt, aber es wird Zeit, dass auch Wände eingerissen werden. Ein Hinweis: Die vierte ist es diesmal nicht.
Janis El-Bira ist Redakteur bei nachtkritik.de. In seiner Kolumne Straßentheater schreibt er über Inszeniertes jenseits der Darstellenden Künste: Räume, Architektur, Öffentlichkeit, Personen – und gelegentlich auch über die Irritationen, die sie auslösen.
* In einer ersten Fassung dieses Beitrags gab es Formulierungen eines Sachverhalts, die der gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten. Die Passage wurde entsprechend korrigiert.
Zuletzt schrieb Janis El-Bira über eine Skandal-Ausgabe der Sendung 'Die letzte Instanz', in der es sich die Talk-Gäste in rassistischen Klischees gemütlich machten.
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Es ist wichtig und richtig, Fehlverhalten öffentlich zu machen, damit endlich die richtigen Konsequenzen daraus gezogen werden. Nur lässt sich eben nicht jedes Fehlverhalten gleichungsartig mit einer Struktur erklären. Wenn man das doch tun möchte, sollten zumindest in gleicher Weise genau jene Chancen, Potenziale und letztlich Spielräume für die Kunst in den Blick genommen werden, die nicht wenige Intendant*innen an ihren Häusern ermöglichen.
Denn - ja! - es gibt sie, die empathischen, sozial handelnden Intendant:innen - aber ich habe keine Lust, Intendanten-Roulette zu spielen. Ich will angstfrei arbeiten können, gleichberechtigt, ich will den gleichen Respekt und die gleichen Rechte genießen wie andere Arbeitnehmer:innen. Ich will wie ein Mensch behandelt werden und nicht - wie aktuell - wie ein Objekt, dem man weder eine eigene künstlerische Vision, noch eine von der Projektion abgekoppelte, autarke Persönlichkeit zugesteht. Ich brauche keinen König, der mir "Kunst" ermöglicht - oder auch verwehrt und mich dann wie ein altes Spielzeug auf den großen Haufen zerspielter Schauspieler:innen wirft. Was ich brauche, ist ein Theatersystem, das auch nur annähernd dem entspricht, was wir uns heuchlerisch auf große Banner an die Häuser hängen.
ermöglicht - oder auch verwehrt und mich dann wie ein altes Spielzeug
auf den großen Haufen zerspielter Schauspieler, Schauspielerinnen wirft."
Das erinnert mich an meine Mutter, die Schauspielerin gewesen ist.
Ihr Leben war durchzogen von der Angst ihre Arbeit am Theater zu verlieren.
Existenziell gesehen:
Ein Leben ohne Gott, das Leugnen der Existenz Gottes (als eines Schöpfer-
gottes) - ein metaphysischer "König", der mir das Leben ermöglicht, und
mich dann doch als ein altes Spielzeug auf den riesigen, unausdenkbar großen Haufen zer-lebter (zerspielter, besser: zer-arbeiteter) Menschen
wirft, so wie alle anderen auch!
Atheos, ohne Gott, die Abwesenheit Gottes. Oder die Ablehnung des Glaubens an Gott oder Götter. (Was, ein (guter) GOTT sollte diese
fürchterlich-schlechte Welt erschaffen haben?)
Die Existenz von Gott oder Göttern ist nach wie vor ungeklärt, oder ist
nicht klärbar, ist nicht erklärbar. Und dann die Überzeugung, dass es
Gott und Gottheiten nicht gibt. So sind wir Menschen denn auf uns allein
ge-stellt . . .
Der "König", der "Gott" - der "Vater" - denn ohne irdischen Vater ist
kein Sohn, kein Mensch, kein irdisches, menschliches Leben.
Er ist der "Erzeuger", der uns gezeugt hat, und - bei den Göttern! -
so leicht wie man sich das vielleicht denken mag, ist die "Macht des Vaters", die väterliche Macht (dazu der anerzogene christliche Glaube
an den "GOTT-Vater im Himmel") nicht fort-zu-schaffen, glaube ich.
In der römischen "familia" war der "pater familias" das Oberhaupt -
bestehend aus seinen Kindern, seiner Frau und seinen Sklaven.
Weitergedacht: Der Intendant eines Theaters (abgeleitet von lateinisch
intendere, "einen Weg einschlagen") . . .
Dieses uralte Thema sei zu bedenken: "Die Vatertötung" - Oidipous
Tyrannos von Sophokles, so wie Hamlet, Prinz von Dänemark von William
Shakespeare, dem über-dimensionalen "Bühnenerschütterer" . . .
Interessanter Ansatz! Ich lass das hier einfach mal kurz nachwirken... ;)