Kolumne: Als ob! - Der Krieg als Zeitenwende
Am Endpunkt dieses Marsches
15. März 2022. In der Ukraine herrscht bereits seit 2014 Krieg und doch stimmt, dass wir gerade eine Zeitenwende erleben. Die Theater hätten sie kommen sehen können, aber ihre Fähigkeit zur Katastrophenprophezeiung liegt brach. Stattdessen werden sie ein weiteres Mal mitgerissen.
Von Michael Wolf
15. März 2022. Die Produktion "Haus der Hunde" des Kyiver Dakh Theater entstand während der Maidan-Proteste. Vor fünf Jahren sah ich eine Vorstellung beim Heidelberger Stückemarkt. Das Ensemble vegetierte in einem Käfig. Draußen patrouillierten Wärter, sie brüllten Befehle durch die Gitterstäbe: "Essen! Schlafen! Arbeiten! Tanzen!" Nach der Pause wechselten Publikum und Ensemble die Plätze. Plötzlich saßen wir im Käfig und die Wärter verhöhnten uns, forderten uns auf, zu singen: "Wer seid ihr? Habt ihr ein Lied, das alle können? Habt ihr keine Hymne?" Natürlich haben wir nicht Einigkeit und Recht und Freiheit gesungen, wir schwiegen beklommen – und befremdet. Das ukrainische Theater, wie es sich hier präsentierte, unterschied sich deutlich von dem, was man auf unseren Bühnen zu sehen bekommt. Keine Spur von Ironie war da zu erkennen. Das Pathos war ungebrochen, die Welt düster.
In Zeiten der Zeitenwende
Am Abend dann waren wir Zuschauer erleichtert, als das Ensemble ein Konzert gab und wirklich mitreißend aufspielte. Die Texte konnten wir nicht verstehen. Lediglich eine kleine Irritation schlich sich auch hier ein: Ukraine-Flaggen wurden entrollt. Ein solches patriotisches Bekenntnis wirkte in einem deutschen Theater damals unangemessen. Dieser Tage sieht man jene Flagge auch hierzulande von Balkonen hängen, bei Demonstrationen ist sie präsenter als die Friedenstaube und klassische Konzerte beginnen mit der ukrainische Hymne. Könnten sie, würden viele Deutsche heute mitsingen. Der Krieg verändert auch unser Land, Bundeskanzler Scholz spricht von einer Zeitenwende. 100 Milliarden für die Aufrüstung, dazu Sanktionen, die auch die heimische Wirtschaft treffen werden. Zeitenwende bedeutet auch: Jobverlust, steigende Preise, Kürzungen von Budgets und die Rückkehr einer Angst, die mir – als Jüngerem – lediglich aus Erzählungen, aus Büchern und Filmen bekannt ist. Nicht aber aus dem Theater.
Es heißt, Künstler hätten ein besonderes Gespür für kommende Katastrophen. Im Falle der Bühnen ist diese Gabe nicht zu erkennen. Ein paar verdienstvolle Festivals blickten nach Osten; im normalen Theaterbetrieb hatte der Umstand, dass bereits seit 2014 Krieg in der Ukraine herrscht, keinen Platz. Einige Tage vor dem Einmarsch russicher Truppen sah ich am Berliner Maxim-Gorki-Theater eine King-Lear-Adaption. Christian Weise verlegte die Handlung ins Star-Wars-Imperium: Der Krieg war hier ein Krieg der Sterne, ganz weit weg also, die Schauspieler fuchtelten albern mit Lichtschwertern herum. Ein Abend, der in vielem symptomatisch war für das politische Theater der letzten Jahre.
Kein Ende der blutigen Historie
Nach der Flüchtlingskrise öffneten viele Häuser ihre Tore für syrische Künstler, die Projekte verliefen aber bald im Sande, nachhaltig war das Engagement in den wenigsten Fällen. Nicht nur die Tagesschau hat vergessen, dass in Syrien immer noch gekämpft wird. Zumeist war Gewalt auf deutschen Bühnen bald wieder gleichbedeutend mit struktureller Gewalt. Wenn Kunstblut floss, dann als Zeichen für den Wendepunkt in einer fiktiven Geschichte, während die blutige Historie doch längst an ihrem Ende angekommen zu sein schien. Nur wenige Theatermacher haben dieser Sichtweise misstraut und wurden dafür mit Argwohn gestraft. Ein Beispiel ist Ulrich Rasche, dem oft eine faschistische Ästhetik unterstellt wird, die man aber spätestens jetzt auch schlicht realistisch nennen könnte. Er zeigt die Gewalt, die den marschierenden Körper antreibt, ebenso wie die Gewalt, die jene trifft, die am Endpunkt des Marsches stehen.
Auch unsere Gesellschaft ist ein Ziel dieses Marsches, und sie marschiert selbst. Frauen und Kinder kämpfender Männer suchen in unseren Nachbarschaften Zuflucht, mit unseren Steuergeldern werden Waffendepots gefüllt, und in Deutschland lebende und arbeitende Russen werden misstrauisch auf ihre Loyalität hin geprüft. Eine "Zeitenwende"? Ja, das Wort klingt tatsächlich angemessen. Und somit ist auch das Theater gefragt. Es kann nicht einfach so weitermachen. Es braucht historisches Bewusstsein, es muss Bilder und Wörter für das finden, was wir die längste, glückliche Zeit ignorieren durften. Ukrainische und auch russische Künstler könnten uns eines Tages dabei helfen. Sie wissen viel mehr über die Beschaffenheit der Welt.
Michael Wolf hat Medienwissenschaft und Literarisches Schreiben in Potsdam, Hildesheim und Wien studiert. Er ist freier Literatur- und Theaterkritiker und gehört seit 2016 der Redaktion von nachtkritik.de an.
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Nö, finde ich nicht. Ich lese den Wolf immer gerne...
Ich lese den Wolf, also diesen hier, auch immer gern. Mit allen Widersprüchlichkeiten! Oder gerade wegen dieser speziellen Widersprüchlichkeiten? Ich meine, es is halt ne Kolumne, was literarisch angehauchtes also, und kein Manifest...
der Konsens, das Gewalt und Krieg keine politischen Mittel sind, löst sich allmählich international auf und ich habe, ähnlich wie der Autor, nicht den Eindruck, dass die Theater dieser historischen Wucht gewachsen sind.