Antlitz oder Steiß?

5. Juli 2022. Überall Verluste: Wer wendet heute noch den Reihennachbar:innen das Gesicht zu, wenn man zu spät im Theater noch an ihnen vorbeihuscht? Wer weiß noch, wie man formvollendet einen Strauß Blumen an die Lieblingsschauspielerin überreicht? Am Ende – und das scheint nah – wird womöglich die ganze Kulturtechnik des Theaterbesuchs verschwinden, fürchtet unser Kolumnist. Allerdings nicht wegen mangelnder Umgangsformen.

Von Wolfgang Behrens

5. Juli 2022. "Wann hat das eigentlich angefangen, so möchte ich fragen. Wann hat es angefangen, dass Menschen, die einen Platz genau in der Mitte einer Reihe innehaben und natürlich erst später als man selbst kommen, einem nicht mehr – 'Entschuldigung' und 'Danke' murmelnd – ihr Gesicht zuwenden, sondern einem ihr Gesäß entgegenstrecken, derweil sie sich an einem vorbeiquetschen? Da diese Menschen dabei das Ausmaß ihres Hinterteils meist falsch einschätzen und dieses mangels Rücksicht (also einer Sicht nach hinten) auch nicht hundertprozentig passgenau zu dirigieren vermögen, kommt es dabei nicht selten zu ungewollten Karambolagen mit – ja, mit den intimeren Bereichen der zu passierenden Reihennachbar:innen. Früher, als noch alles besser war, wäre so etwas undenkbar gewesen." 

So oder so ähnlich wollte ich einmal, als ich noch ein Kritiker war, eine Kolumne beginnen, die sich den bedrohten Kulturtechniken der Theater-, Oper- und Konzertbesucher:innen widmen sollte. Ich verwarf den Gedanken aber wieder, denn mir fielen zu wenige Kulturtechniken ein. Ja, das richtige In-eine-Reihe-Gehen, schön und gut … Das Verwenden von Operngläsern vielleicht, aber vermisst das wirklich jemand? Dann natürlich das Überreichen oder Werfen von Blumensträußen. (Hier hätte ich immerhin eine Anekdote zu erzählen gewusst: Wie ich nämlich mal Johanna Wokalek anlässlich des Berliner Theatertreffen-Gastspiels von Luc Bondys Wiener Inszenierung der "Möwe" 2001 einen Strauß überreichen wollte; wie ich beim Schlussapplaus kühn auf die Bühne sprang; wie der Applaus kurz aufgrund der kollektiven Aufmerksamkeit auf die nun folgende Aktion abflaute; wie ich an den erwartungsvoll blickenden Burgtheater-Stars (Gert Voss, Ignaz Kirchner u.a.) vorbeidefilierte; wie dann Jutta Lampe einen Schritt nach vorne machte, weil sie – die Berlin-Rückkehrerin dieses Gastspiels – glaubte, der Strauß sei für sie; wie ich sie stehenließ und die Blumen schließlich Johanna Wokalek übergab und wie ich mich bis heute deswegen Jutta Lampe gegenüber schäme).

Publikumsschwund schon vor Corona

Mittlerweile freilich ist eine bedrohte Kulturtechnik recht frisch hinzugekommen – und das ist die des Theater- bzw. Konzertbesuchs selbst. Ein solcher ist ja aus hygienischen Gesichtspunkten ohnehin kaum mehr zu rechtfertigen – da ist es schon gerade egal, ob ich beim Schlängeln durch eine Sitzreihe meinen Mitmenschen das Antlitz oder den Steiß zeige. Wobei die Theater es sich nicht zu einfach machen sollten, indem sie alles auf Corona schieben. Einer meiner Social-Media-Lieblingsfunde aus dem ersten Corona-Jahr ist das folgende Meme:

Meme I was cool Leeres Theater

Ich habe das Meme damals ziemlich gefeiert (nicht zuletzt deswegen übrigens, weil ich selbst auf dem Bild zu sehen bin: Ich bin der Typ in der ersten "besetzten" Reihe, der sich gerade umdreht – angeblich ist dieses Foto ja in der New York Times veröffentlicht worden, und ich muss sagen: schon doof, einmal in der New York Times, und dann nur mit dem Hinterkopf). Den tendenziellen Publikumsschwund jedenfalls – so suggeriert dieses Meme auf leider lustige Weise – werden viele Häuser schon vor Corona gekannt haben. Wenn man jetzt vielerorts davon redet, dass man die Zuschauer:innen zurückgewinnen müsse, sollte man es dabei wohl nicht bewenden lassen. Dringend geboten scheint die Gewinnung eines neuen Publikums.

Theater auf der Therapie-Couch

Die Theaterzunft wird sich wohl oder übel in den kommenden Monaten auf die Therapie-Couch legen müssen, denn auch die ökonomische Seite der derzeitigen Krisen muss erst einmal psychisch verdaut werden (den geringeren Einnahmen, die fast überall zu verzeichnen sind, stehen ja – das darf man nicht vergessen – häufig noch gestiegene Ausgaben gegenüber, weil z.B. die Rohstoffpreise für Bühnenbilder regelrecht explodiert sind). Dabei werden sich die Theaterschaffenden unangenehme Fragen gefallen lassen müssen. Janis El-Bira schrieb vor zwei Monaten in seiner nachtkritik-Kolumne zum Publikumsschwund, es drohe die Erkenntnis, "dass das Theater ausgerechnet in der Krise zum Zeitvertreib der Wenigen geworden ist". Eine der unangenehmen Fragen nun könnte lauten: War das nicht auch vorher schon so? Haben Theaterleute und -publikum nicht schon längst eine viel zu kleine filter bubble gebildet, die sich mit ihren oft selbstreflexiven Themen selbst genug war?

Ich weiß zwar auch nicht, wie es gehen soll. Aber das Theater muss wieder Mittel und Wege finden, dass es nicht nur das einverständige Nicken von ein paar theorieaffinen Geisteswissenschaftler:innen erntet, die auf der Bühne plötzlich eine ihrer Thesen bestätigt sehen. Es muss auch wieder die Leute in seine Häuser locken, die mitgerissen und berührt werden, die lachen, weinen und bewundern wollen. Und die dann vielleicht sogar mal einen Blumenstrauß schmeißen.
 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

 In seiner letzten Kolumne widmete sich Wolfgang Behrens dem allgemeinen Theaterzwang.

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Kommentare  
Kolumne Behrens: Alles noch da
Blumenwerfen... Erinnert sich noch jemand an die alte Dame mit Diadem, die in Bayreuth immer fünf Nelken in Plastikhülle für ihren Lieblingstenor warf? Irgendwann hat sie jemand derart am Auge getroffen, dass Blumenwerfen im nächsten Jahr per Aushang verboten war. Oder der Blumenwerfer, der in der Stuttgarter Oper so weit ausholte, dass er beim Abschuss übers Geländer in den Orchestergraben stürzte - nichts passiert. Früher gab's auch noch Blumenregen, viele kleine Sträußchen von den Rängen rechts und links zum Abschied einer Primadonna oder Primaballerina...

Operngläser sind noch kräftig im Einsatz, oder besser: Ferngläser. Perlmuttbesatz mit mickriger Dreifachvergrößerung ersetzt kein modernes Kleinfernglas mit Achtfachvergrößerung - gehen Sie mal in die großen Häuser, Nationaltheater München oder Deutsche Oper Berlin, gehen Sie dort mal zum Tanz: Nur mit Fernglas kann man als Dauerfan auf den billigen Plätzen überleben. Passt in jedes Handtäschchen. Und manchmal trifft man den knorrigen alten Operngänger, der grundsätzlich in der letzten Reihe im Rang sitzt und sein 30-cm-Kawenzmann-Glas von der Jagd dabei hat, um die moderne Regie ins Auge zu fassen. Ach Herr Kritiker, die wahren Anekdoten spielen sich auf den billigen Plätzen ab, nicht im Parkett :-)
Kolumne Behrens: Die alten Zeiten
Liebes Blümchen…
Die Ränge werden doch gar nicht mehr geöffnet. Man beschränkt sich inzwischen darauf, zu versuchen, die Plätze im Parkett restlos zu verkaufen :)
Kolumne Behrens: Das Besondere des Theaters
Ich gehe (als Rentner, der ein Leben am Theater verbracht hat) sehr oft in die Schauspielhäuser, auch in die Oper, auch zu Freilicht-Aufführungen. Ich habe im ersten Halbjahr 2022 in Berlin und in Sachsen überwiegend gut besuchte und ausverkaufte Theater erlebt, auch die Ränge waren besetzt - das ist eine reale
(realistische ?) Beobachtung, freilich ist sie empirisch.

Wir sollten uns davor hüten, eine Meinung zu verbreiten, der Theaterbesuch sei jemals etwas anderes gewesen als das Vergnügen eines kleinen elitären Teil der freien Bürger einer Demokratie. Das gilt auch für das Theater der antiken Demokratien, wo die freien Männer (und nur die) das Theater besuchen konnten.
Und auch wenn es jemals gelänge, dass ein großer Teil der freien Bürger unserer
Demokratie die Theater besuchte, so wäre das doch kein Beweis dafür, dass die verkommenen Formen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens zu "retten" wären.-

Die Theater haben finanzielle Schwierigkeiten. Wie sollte es anders sein? Wir leben in einer Zeit der Inflation. Das Wort ist beriets zum Schlagwort geworden - was auch so viel heißt, wie die Ereignisse sind akzeptiert. Ich frage mich trotzdem manchmal an der Kasse vom Supermarkt: Wo bleibt das Geld, das ich jetzt mehr bezahle. Irgendjemand muss es doch bekommen und behalten ?

Es wird erwartet, dass die Theater ihre Zuschauer zurück gewinnen.
Das wird nur gelingen können, wenn das Theater sich seiner Besonderheiten besinnt: Da werden von lebenden Menschen vor lebenden, also tatsächlich anwesenden und zuschauenden Menschen, Rollen gespielt, und die entstehenden Figuren bringen durch unterschiedliche Handlungsabsichten eine Geschichte in Gang, deren Verlauf und Ausgang das Interesse der Beobachter erregt. Lachen und weinen und bewundern sind dabei durchaus wünschenswert - und wir sollten auch wieder lernen, Frau Wokalek und ihren Kolleginnen und Kollegen Blumensträuße zu überreichen. Das könnte auch die Qualität der Umgangsformen im Saal günstig beeinflussen. Umgangsformen haben doch in erster Linie etwas damit zu tun, dass ich die Anwesenheit des anderen Menschen und seine Leistung
zur Kenntnis nehme und respektiere. Das kann man auch "erzwingen" durch sein eigenes Verhalten.

Das Niederreißen der "vierten Wand" ist keine Erfindung dieser Jahre.
Die "vierte Wand" hat mit dem Ursprung des Theaters nichts zu tun. Die "vierte Wand" ist eine Erfindung der wenigen Jahre des Naturalismus auf dem Theater (gegen Ende des 18. Jahrhunderts).
Theater ist seinem Wesen nach immer offen für den Betrachter, was nicht heißen muss, dass der Zuschauer unentwegt direkt angesprochen werden muss (was in aktuellen Aufführungen manchmal bis zur Unart getrieben ist):

Die Theater sollen neues Publikum gewinnen. Gemeint sein können doch nur junge Zuschauer. Das wird nur gelingen, wenn entsprechende Stoffe und Konflikte, auch alte Stoffe, auf die Bühnen kommen. Es ist nicht notwendig, dass die Theater den Sehgewohnheiten der anderen Einrichtungen, die vorgeben für die Unterhaltung und das Vergnügen erfunden worden zu sein. hinterher laufen und sie nachahmen. Der Unterschied und die Besonderheiten der Schauspielkunst auf dem Theater sollten behauptet werden.
Und wenn das Johlen am Ende einer Vorstellung, das selten dem Zuspruch für ein gehabtes Erlebnis Ausdruck gibt, sondern der Bestätigung der eigenen Anwesenheit dient, wenn dieses Johlen ausbleibt und einem ehrlichen Applaus Platz lässt - dann könnte etwas gewonnen sein (ich habe dergleichen erlebt)

Beunruhigend wird es allerdings, wenn ein wohl renommierter Opernregisseur,
von dem ich sehr gute Inszenierungen gesehen habe, in einer Oper, die von den Autoren ausdrücklich als heitere gekennzeichnet ist, nicht die komischen Situationen spielen lässt, sondern das Geschehen mit Mätzchen und sogenannten Einfällen auffüllt. Und das zum Gaudi der Zuschauer.
Man fragt sich doch: Was ist da passiert?
Das nur als Beispiel.

Es ist lang geworden.
Dennoch: Mit freundlchen Grüßen
und: "Bleiben Sie fröhlich und gesund!"

(Peter Ibrik
Berlin-Pankow)
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