Presseschau vom 16. Mai 2019 – Tobi Müller resümiert in der Schweizer Wochenzeitung das Theatertreffen, die Frauenquote und die Ideologien digitaler Plattformen

Theater voll auf Tinder

16. Mai 2019. "Es gibt gute Gründe, das Theater als Unterbrechung der Reflexe des digitalen Verbundenseins zu schätzen. Doch gerade diese Festivalausgabe zeigt, dass das Theater Zustände hervorbringen will, die wir auch von den Plattformen kennen", resümiert Tobi Müller in der Schweizer Wochenzeitung (16.5.2019) die erste Hälfte des Berliner Theatertreffens.

Das digitale "Infinite Scrolling", wie es auf Englisch heiße, habe "Konsequenzen für die Art und Weise, wie wir Zeit wahrnehmen und Geschichten verstehen". Mitunter entstehe ein Schwindel, der von der Rotation des immer Gleichen rühre. "Das Theater ist heute auch dazu da, diesen Taumel zu zentrieren", schreibt Tobi Müller in der Schweizer WOZ (16.5.2019), sieht in der Auswahl des diesjährigen Theatertreffens aber auch Beispiele, in denen das Theater die Zustände hervorbringen wolle, die man von den Plattformen und sozialen Medien kenne.

Zum Beispiel mit den Mitteln der Immersion. Heute werde die Technologie der Immersion im Silicon Valley hergestellt. "Das Theater reproduziert diese Effekte mit seinen eigenen Mitteln: In 'Dionysos Stadt' stellt das Publikum die Hochzeitsgesellschaft und kriegt dafür reichlich Ouzo, die RaucherInnen dürfen für eine Zigarettenlänge auf der Bühne paffen." Rüping, und sein Ensemble brächten die Standardsituation von Digital Natives versus Kulturkonservative durcheinander – dieses Theater sei "'old' und 'new school' zugleich".

Überfordert von den digitalen Plattformen

"Die Rückkehr der authentischen Identität ist ein Effekt der Digitalisierung, der so nicht vorhersehbar war", so Tobi Müller. "Früher dachte man, dass die Mehrheit im Netz andere Rollen und Codes durchspielt als im privaten Raum. Eingetreten ist das Gegenteil, die ständige Verortung, wer man sei, woher man komme, wofür man stehe und auch wogegen. Soziale Medien sind Erkennungsdienste."

Ob so politische Kämpfe jenseits von Identitätskorridoren gewonnen werden könnten, sei eine Frage, die auch das Theater umtreibe. Der australische Regisseur Simon Stone mache in "Hotel Strindberg" denn auch etwas sehr Subversives: "Er zeigt die Männer und die Frauen als heillos überfordert von den Ideologien, die in der Technologie mit drinstecken, konkret: von Tinder, der vorwiegend heterosexuellen Datingplattform." Es ist, als würde Stone die Soziologin Eva Illouz und ihr letztes Buch "Warum Liebe endet" inszenieren. "Wie wirkt sich der Zwang zum Partnerwechsel, der im Tinder-Swipe erscheint, auf die Frauen aus? Wie viel Unfreiheit steckt in der sexuellen Befreiung? Lacht Stone über die Heteros im Tinder-Käfig? Wäre das frauenfeindlich?"

"Es ist kompliziert", seufzt Müller. Selbst die Theatertreffen-Jury, in der die letzten Jahre über mehr Frauen als Männer saßen, habe es nicht geschafft, mehr Regisseurinnen einzuladen. "Wenn der Betrieb so viel Ungleichheit produziert und Renommee weiterhin an Geschlecht klebt, ist kaum jemand davon unberührt." Die neue Frauenquote werde künstlerisch kein Problem darstellen. "Und vielleicht führt die Quote vermehrt zu Arbeiten, die auch dann eingeladen werden, wenn die Frauen nicht zwingend über Frauen erzählen müssen."

(Die Wochenzeitung / sik)

 

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