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euro-scene Leipzig: Kritik an Einladung palästinensischer Produktion
8. Oktober 2024. Das Bündnis "Artists Against Antisemitism" hat in einem Offenen Brief die Einladung der Produktion "And Here I Am" vom Freedom Theatre Jenin (FTJ) zur diesjährigen Ausgabe des Festivals euro-scene Leipzig kritisiert und seine Ausladung gefordert. Das Schreiben ist an den Leipziger Bürgermeister, den sächsischen Kulturminister und die Festivalleitung adressiert.
"Das Stück und das FTJ richten sich offen gegen die Völkerverständigung zwischen Israelis und Palästinenser*innen", begründet das Bündnis seine Forderung unter anderem. "Die Inszenierung, die im Rahmen eines Schwerpunkts auf den sogenannten Nahen Osten gezeigt wird, erhält keinerlei kritische Kontextualisierung. Allerdings erhält sie mit der Einbettung in den gleichzeitig stattfindenden ITI-Kongress in Leipzig Aufmerksamkeit, die wohl keiner anderen Inszenierung während des Festivals zuteil wird. Unter anderem spricht beim Kongress die Regisseurin des FTJ Zoe Lafferty, die zur "Globalen Intifada" aufruft. Darüber hinaus sind zu besagtem Schwerpunkt bei der euro-scene keine israelischen Positionen eingeladen. Dies stellt einen stillen Boykott israelischer Perspektiven dar." Besonders einschlägig stellt sich für das Bündnis die Haltung des FTJ in der von ihr organisierten Kampagne Cultural Intifada dar. Dort stelle sich das Theater explizit hinter jegliche Form des palästinensischen "bewaffneten Widerstands". Im Spiegel hat die Autorin Dana von Suffrin die Einladung der Produktion des FTJ nach Leipzig ebenfalls kritisiert.
Die Produktion "And here I Am" stammt aus dem Jahr 2016. Der irakische Theaterautor Hassan Abdulrazzak ließ sich bei dem Stücktext von der Lebensgeschichte des aus Jenin stammenden Schauspielers und Regisseurs Ahmed Tobasi inspirieren, der das von der britischen Regisseurin Zoe Lafferty inszenierte Stück auch selber performt. Seit 2020 ist Ahmed Tobasi darüber hinaus Künstlerischer Leiter des FTJ.
Das Freedom Theatre Jenin geht auf eine Initiative der jüdisch-israelischen Friedensaktivistin Arna Mer-Chamis zurück, deren Sohn Juliano das Theater im israelisch besetzen Westjordanland 2006 gegründet hat. Einer der Mitgründer des Theaters, Zakaria Zubeidi, war zuvor Anführer der Terrorgruppe "Aqsa Martyrs' Brigades" in Jenin. Juliano Mer-Chamis leitete das FTJ, bis er 2011 vor dem Theater erschossen wurde.
"Wir finden es erschreckend, wie schnell das Werk von Künstler:innen verurteilt und die Intentionen des Freedom Theatre in Frage gestellt werden – vermutlich ohne das Stück gesehen zu haben", nahm das Festival euro-scene auf seiner Webseite zu den Vorwürfen Stellung. Für das Festival stelle es "eine wichtige Position im Hinblick auf die Existenz bzw. die Abwesenheit von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten" dar. "Boykotte und Ausladungen von Künstler:innen fördern unserer Ansicht nach nicht die Diskussion von gesellschaftlichen Debatten, sondern verhindern sie", so die Stellungnahme weiter. Allerdings fehlen Hinweise, wie genau diese Debatte ohne diverse Positionen im Rahmen des Festivals überhaupt geführt werden soll. Auch hebt die Stellungnahme des Festivals die Nominierung des Theaters für den Friedensnobelpreis 2024 hervor. Für diesen Preis wurden 2024 allerdings auch Donald Trump und das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten UNWRA nominiert, das inzwischen neun Mitarbeiter wegen möglicher Verwicklungen in das Massaker vom 7. Oktober 2023 entlassen hat.
Außerdem weist das Festival in seiner Stellungnahme auf Möglichkeiten der Kontextualisierung der Inszenierung in "Nachgesprächen, einem Seminar des Instituts für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig sowie der öffentlichen Jahrestagung des ITI" hin. Die Teilnehmer:innen stünden allerdings noch nicht abschließend fest. Bisher ist hier auch keine israelische Position auffindbar. Unter anderem ist der Stellungnahme des Festivals zufolge auch die Autorin Dana von Suffrin eingeladen worden, sie habe diese Einladung jedoch abgelehnt. Das Bündnis "Artists Agains Antisemitism" teilte auf Nachfrage mit, dass diese Einladung erst nach Bekanntwerden der Kritik Dana von Suffrins an der Einladung der Produktion und der bevorstehenden Veröffentlichung im "Spiegel" erfolgt sei.
(sle)
Hier der Offene Brief des Bündnis Arist Agaist Antisemitism als PDF.
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(Werter Mark, bei der Kritik an der Leipziger Einladung geht es nicht um die Einladung selbst, sondern um das Fehlen anderer Positionen, etwa einer israelischen, im Rahmen eines sogenannten "Nahost-Schwerpunkts", um das Fehlen von Kontext zu diesem Konflikt, der auch andere Positionen abbildet. Viele Grüße aus der Redaktion.)
Dass jetzt mal wieder die einen Künstler den anderen das Wort verbieten wollen (denn nichts anderes tut der offene Brief ja – entgegen dem, was die nk-Redaktion unter Marks Kommentar geantwortet hat), ist doch Wasser auf die Mühlen derjenigen, die ständig "Cancel Culture" schreien. Eine Ausladung zu fordern ist eben etwas anderes, als sich weitere Perspektiven zu wünschen. Ich hätte es auch als völlig logisch erachtet, bei einem Fokus auf Nahost der Produktion aus Jenin auch eine israelische gegenüber- oder vielleicht sogar zur Seite zu stellen. Aber Dialog und Völkerverständigung zu fordern, und dann bestimmen zu wollen, welche Stimmen überhaupt Gehör finden dürfen, finde ich ganz schön verlogen.
Ich kenne mich mit der israelischen (wie auch der palästinensischen) Theaterszene nicht im geringsten aus, deswegen kann ich Ihnen nicht sagen, wer sich hier als Gast angeboten hätte. Das herauszufinden wäre wohl Aufgabe der Festivalleitung gewesen.
Zum Schluss noch: Nichts rechtfertig die widerwärtigen Taten der Hamas, am 7. Oktober 2023 oder jedem anderen Tag. Und ich habe sicher kein Interesse daran, Israel sein Existenzrecht abzusprechen oder Boykott seiner Wirtschaft zu fordern, falls Sie das mit Ihrer BDS-Anspielung suggerieren wollten. Ich bin aber durchaus der Meinung, dass die Existenz und Sicherheit Israels nicht von der dauerhaften Unterdrückung und Diskriminierung der palästinensischen Bevölkerung abhängen darf. Leider hat die israelische Regierung schon seit Jahren (zum Teil unter dem Druck rechtsradikaler Verbrecher, die jetzt mehrere Ministerposten besetzen) alles daran gesetzt, den Konflikt weiter anzuheizen. Wenn wir also Völkerverständigung fordern, muss das für alle gelten, nicht nur für eine Seite.
PS @Sonja: Der offene Brief der Artisits Against Antisemitism zumindest geht auf diese Produktion ein und kritisiert ihre Einladung als gojnormativ: „Tote Jüdinnen*Juden werden beflissen betrauert, selbstbewusste jüdische und israelische Positionen der Gegenwart marginalisiert.“ In der Tat hätte ich mir in diesem Zusammenhang auch eine Inszenierung gewünscht, die mehr im Heute verhaftet ist.
Nehmen wir mal an, dahinter steckt keine ideologische Absicht, so wirkt es wie der Anfängerfehler einer unerfahrenen Festivalleitung (ebenso wie die gesamte Krisenkommunikation). Auch die Argumentation, in Frankreich würde das Stück auf und ab gespielt (siehe Artikel in der Leipziger Volkszeitung) ist furchbar naiv, das Stück soll (erstmalig) in Deutschland (sic!) laufen, mitten in der Woche der Novemberpogrome!
PS: Im Programmheft der euro-scene wird die künstlerische Arbeit im Freedom Theatre ohne Wenn und Aber als Widerstand und Freiheitskampf beschrieben. Da bleibt wenig Raum für Ambivalenzen und Diskurs.
(...)
ich möchte nicht auf jede einzelne Äußerung mit Hashtag eingehen.
Gut finde ich immer, wenn Menschen sich äußern, die wissen wovon sie sprechen, wie es auch hier geschieht.
Ein Hinweis für #13 Helena: aus Ihren Worten entnehme ich, daß Sie sich mit der derzeitigen Situation und der jüngeren Geschichte in und von Jenin nicht auskennen.
Ein guter Anfang, um zu verstehen, wo Ahmed Tobasi herkommt, was ihn bewegt und was sein Leben bestimmt hat und bestimmt, wäre sich den Film Arnas Kinder/Arna´s Children anzuschauen, den der 2011 vor dem Freedom Theatre ermordete Juliano Mer Khamis, israelischer Staatsbürger, Sohn eines palästinensischen Vaters, über seine jüdische Mutter Arna Mer-Khamis gemacht hat.
Hier der Link zum Film: https://www.youtube.com/watch?v=DvtzDPdHeeU
Hier wird auch erzählt, wie und warum Arna Mer-Khamis den Vorgänger des Freedom Theatres, das Theatre of Stones in Jenin gegründet hat.
Arna Mer hat für diese Arbeit den alternativen Friedensnobelpreis/Right Livelihood Award erhalten.
Meine Empfehlung: den Film anschauen. Erstmal schweigen. Dann weiterforschen, wenn man nicht ohnedies schon sehr viel über Jenin, das Freedom Theatre seine Gründung durch den jüdisch/israelisch/palästinenschen Juliano Mer Khamis und ihre Geschichten weiß. Und dann sich vielleicht noch einmal in die Debatte einbringen.
Wenn man sehr viel über die Situation weiß, ist es natürlich immer sehr gut sein Wissen zu teilen.
(...)
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(Anm. Redaktion: Da dies nicht der Ort für Kontroversen über den 7. Oktober 2023 ist, bleibt eine entsprechende Passage unveröffentlicht. Grundsatzdebatten brauchen andere Orte.)