Im Wurzelwerk der Schuld

22. März 2024. Mohammad Al Attars "Begegnung von Gestern" erzählt von einem aus Syrien geflüchteten Mann, der in Berlin seinem Peiniger von einst wiederbegegnet. Was passiert, wenn man so einen Fall in Deutschland juristisch aufrollt?

Von Jürgen Reuß

"Begegnung von Gestern" am Theater Freiburg © Laura Nickel

22. März 2024. Der Kern von Mohammad Al Attars "Begegnung von Gestern" ist scheinbar schnell erzählt. Im Baumarkt erkennt Anas, vor etlichen Jahren aus Syrien geflüchtet, die Stimme seines damaligen Folterers Walid wieder und bringt ihn vor Gericht. Die bekannteste Folie für die späte Wiederbegegnung eines Folteropfers mit dem Peiniger ist wohl Ariel Dorfmans chilenische Variante "Der Tod und das Mädchen".

Immer weitere Verästelungen

Das bemerkenswerteste an der Freiburger Uraufführung ist, wie Mohammad Al Attar in seiner syrische-deutschen Variation dieses Themas die Schraube der Komplexität weiterdreht, weg von agonalen Kämpfen, hin zu Lebensrealitäten. Damit rückt er dem Publikum richtig nahe, lässt die Distanz zu fernen Folterkellern schwinden und verankert sie als Teil unserer Geschichte, in der sich diverse territoriale Schuldgeschichten durch die moderne Zuwanderungsgesellschaft längst zu einem neuen Alltag amalgamiert haben.

Wenn Inbegriffe vermeintlicher deutscher Tugenden wie Baumarkt und Gericht zum Schauplatz werden, auf dem syrische Geschichte verhandelt wird, wird die Verhandlung eines fernen Gestern eben auch zur Verhandlung des neuen Heute samt des nahen Gestern. Unser Heute ist jenseits simplifizierender nationaler Konstruktionen ein sich ständig aus den vielen Gesterns, die sich auf einem bestimmten Territorium sammeln, neu zusammensetzendes Gebilde.

Es geht um Verflechtungen

Im Grunde ist das eine Banalität, die aber inmitten der ständig virulenten Identitätssuchen selten in den Fokus gerät. Mohammad Al Attar großes Verdienst ist es, mit seinem Text einen scheinbar klaren, fernen Konflikt in immer weitere Verästelungen aufzudröseln. Und dass am Ende durchaus die schmerzhafte Erkenntnis stehen kann, dass gerade solche Verstrickungen das bilden, worin sich Gemeinschaft stets neu orientieren muss.

Wie setzt man das auf der Bühne um? Das Regieteam um Omar Abusaada hat ein Setting (Bühne: Bissane Al Charif) gewählt, das dem Text größtmöglichen Fokus gewährt. In der Bühnenmitte steht ein rot-schwarz geteiltes, drehbares Kreispodest, darüber hängt eine riesige Baumwurzel. Viel deutlicher kann man kaum darauf hinweisen, dass es um Verflechtungen gehen wird. Links und rechts davon Stühle, auf denen die Protagonisten auf ihren Auftritt warten oder die sie zu Gesprächskonstellationen auf die Drehbühne tragen.

DieBegegnungVonGestern 013 LauraNickel uSparsame Requisiten: Josefin Fischer, Henry Meyer © Laura Nickel

Sparsam werden Requisiten eingesetzt: Ein paar Spritzer aus dem Pflanzenbefeuchter genügen, um den später als Folterer angeklagten Walid (Henry Meyer) als Blumenliebhaber und liebenden Vater seiner deutsch sozialisierten Tochter und angehenden Jurastudentin Maha (Josefin Fischer) zu charakterisieren. Schon da wird gleich die deutsch sozialisierte Assoziationskette von Rosen züchtenden KZ-Betreibern mitbespielt, die später, als diese Schicht tatsächlich ins Bühnengeschehen einbezogen wird, über die videobespielte Rückwand dann doch arg strapaziert wird, wenn dort durch Stahltürschlitze Gas einsickert. Ansonsten herrscht eher angenehme Zurückhaltung vor.

Wenn die Fassade bröckelt

Für die Begegnung mit dem Gefolterten im Baumarkt genügt eine Rohrzange in der Hand von Anas (Victor Calero). Um den nur über seine Stimme identifizierten Folterer vor Gericht zu bringen, braucht er einen Top-Anwalt Thomas (Hartmut Stanke), den er allein deshalb bekommt, weil der es den Nazi-Verstrickungen des eigene Vaters schuldig zu sein glaubt. Die Vatergeschichte von Walids Verteidigerin Nadia (Anja Schweitzer) reicht ebenfalls bis nach Syrien zurück, wie auch die Geschichte ihres Lebensgefährten Bassil (Nicola Fritzen). Und am Ende sitzen alle erschöpft im Halbdunkel auf dem Drehpodest im Stuhlkreis und trinken japanischen Whiskey.

DieBegegnungVonGestern 043 LauraNickel uDer Anwalt und der Kläger: Hartmut Stanke als Thomas, Victor Calero als Anas © Laura Nickel

Man merkt bei dieser Zusammenfassung schon, dass die Wirkung dieser Geschichte extrem von der Intensität des Spiels abhängt, im Grunde sogar davon, wie die Spielenden ihren Stuhl auf die Drehbühne tragen. Es gibt Momente, in denen das großartig gelingt, etwa wenn bei Anas, von Walids Tochter mit seinem Verrat unter Folter konfrontiert, die zuvor erkämpfte Fassade bricht.

Oft wünscht man sich aber auch mehr Intensität im Spiel und weniger Ablenkung durch die Videoleinwand oder wildes Drehen am Podest. Je abstrakter und karger der Text zum Tragen kommt, desto wirksamer verflicht er sich auch mit dem Gestern des Publikums. Gut vorstellbar, dass die weiteren Aufführungen stetig an dieser Aufgabe wachsen werden. Auch das ein Grund, den Besuch dieses wichtigen Stücks zu empfehlen.

Die Begegnung von gestern
von Mohammad Al Attar
Aus dem Arabischen von Larissa Bender
Regie: Omar Abusaada, Ausstattung: Bissane Al Charif, Video-Design: Bernhard L. Ruchti, Musik Saleh Katbeh , Video: Viktor Sabelfeld, Dramaturgie: Hannah Pfurtscheller.
Mit: Victor Calero, Henry Meyer, Josefin Fischer, Hartmut Stanke, Anja Schweitzer, Nicola Fritzen.
Premiere am 21. März 2024
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

theater.freiburg.de

Kritikenrundschau

"Mohammad Al Attar hat einen klugen Text geschrieben, der sich nicht auf das Duo Opfer-Täter fokussiert", urteilt Heidi Ossenberg in der Badischen Zeitung (22.3.24, €). Omar Abusaada inszeniere ihn "streng formalistisch und wie eine Versuchsanordnung": "Alle Figuren sind immer auf der Bühne …, Requisiten gibt es kaum, eine Leinwand illustriert manchmal sehr plakativ die Dialoge mithilfe von scheinbar gerade entstehenden Zeichnungen." Umso konzentrierter sei Publikum "auf das gesprochene Wort und die Gestik der sechs Schauspielenden". An diesem Punkt, urteilt die Kritikerin, sei "nach der Premiere noch Luft nach oben".

"Verhandelt und vermessen wird in Freiburg das Konfliktfeld zwischen persönlicher Betroffenheit, familiärer Solidarität und den unmenschlichen Bedingungen eines den Einzelnen mit Füßen tretenden Systems, in dem man schneller zum Verräter wird, als man je es für möglich gehalten hätte", schreibt Bettina Schulte von der Deutschen Bühne (22.3.2024). "Trotzdem hätte man dieser hochspannenden Vorlage, die in Zeiten extremem Schwarz-Weiß-Denkens sehr zu denken gibt, mehr schauspielerisches Engagement gewünscht. Unter die Haut geht diese Aufführung nicht."

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