Zerfetzte Daseinsinseln

23. November 2023. Männlicher Ehrenwahnsinn auf dem Rücken einer toten Frau ist nicht das Ding von Regisseurin Bojana Lazić. Für ihre Version von Büchners berühmtesten Drama dreht sie den Spieß um: Woyzeck ist hier eine Familien-Ernährerin am unteren Ende der Nahrungskette. Bleibt nur die Frage: Wer legt wen um?

Von Jürgen Reuß

"Woyzeck" in der Regie von Bojana Lazić am Theater Freiburg © Theater Freiburg

23. November 2023. Rechts vorne ein Gewächshauslabor, dahinter führen Treppen in die höhere Ebene des Forstbetriebs Hauptmann, desen Plateau von drei Bäumen durchstoßen wird. Links ein Goldglitterpodest als Kleinstadtzentrum und in der Mitte eine schiefwinklige Wohnwabe. Freiburgs Woyzeck ist ganz auf Kompaktheit getrimmt (Bühne: Zorana Petrov).

Wider die Ehrpusselei

Dazu hat Regisseurin Bojana Lazić ein ähnliches Unwohlsein umgetrieben, wie die Generationen von Schülerinnen und Schülern, die Woyzeck erstmals im Stoffplan fürs Abi begegnen: Warum muss der Mann ausgerechnet Marie umbringen, nicht wenigstens einen seiner Peiniger? Sich in die bürgerlich-patriarchale Tradition, männliche Ehrpusselei auf dem Rücken einer toten Frau auszutragen, kam für Lazić nicht in Frage. Also dreht sie den Spieß ganz um: Woyzeck ist eine dieser Frauen (Laura Palacios), die den Unterhalt ihrer Familie am unteren Ende der Nahrungskette allein bestreiten müssen.

In Samttop und Hotpants

Sie packt sich in Waldarbeiter Montur und kürzt dem Hauptmann (Dražen Pavlović) nicht mit der Schere das Haar, sondern im Forstbetrieb Hauptmann mit der Motorsäge die Bäume. Dann schnell nach Hause huschen, kurz mit den ihrigen hilflos ein paar Worte stammeln, grüne Flüssigkeit aus einem Nährstoffbeutel schlurfen, in den Prollschick von Samttop und Hotpants schlüpfen, zum Gewächshauslabor hetzen, wo der Doktor (Antonis Antoniadis) mit seinem Drängen, endlich zu pinkeln, sie in den Wahnsinn und ihn in Forscherzufriedenheit treibt.

Woyzeck2 S037 c Theater FreiburgBisschen Stärkung aus einem Nährstoffbeutel, dann geht's weiter: Dražen Pavlović und Laura Palacios © Theater Freiburg

So geht das Runde um Runde. Zwischenzeitlich pseudophilosophieren Doktor und Hauptmann aneinander vorbei, Ehemann Franz (Martin Hohner) belustigt Marie und Kind mit "Ti amo" - und wieder ins Hamsterrad. Bis hinter der Wohnwabe die Bühne kurz in hoffnungsloses Werkstattambiente aufbricht und die Tamburmajorette in Form einer elektrisch verstärkten Straßenmusikerin erscheint. Während Marie sich abschuftet, verfällt Franz den Klängen der Nina-Hagen-Sirene (Janna Horstmann), der Hauptmann umschwänzelt sie auf dem E-Scooter, aus Büchners Wirtshausszene wird ein Zurechtstutzen des Stutzers, der sich damit rächt, Marie in die Untreue ihres Gatten einzuweihen. Und das unvermeidliche Massaker nimmt seinen Lauf.

Das Hamsterrad dreht sich weiter

Doch tut es das? Gibt die Regisseurin dem Impuls nach, dass ein weiblicher Woyzeck endlich nicht nur spiegelverkehrt, sondern gleich alle Männerpeiniger ummäht? Wäre es nicht viel unerbittlicher, wenn das alles höchstens in Woyzecks Kopf stattfinden dürfte, und sie danach in ihrem Hamsterrad weiterdreht, nur noch kaputter?

Ein interessantes Ende, bei dem man wie im Standard-Woyzeck Mitleid mit der geschundenen Kreatur hat, nur das sie sich dies diesmal nicht auf Kosten einer toten Frau, ja überhaupt auf keiner Leiche erquält hat. Doch so wohltuend es ist, die Kaputtheit der Welt nicht erneut über einer achtlos hinweggemordeten Frau zu demonstrieren, so schrumpft die Freiburger Inszenierung Büchners Weltfragmentierung dabei gleichzeitig auf ein Sozialbaudrama. Während Büchners Woyzeck Leben schon bevor er zum Mörder wird in Fetzen fragmentiert ist, steckt Marie Woyzeck im zwar unerbittlichen, aber doch stützenden Kleinfamilienkorsett.

Woyzeck Neu S 016 c Theater FreiburgKleinfamilienenge in der Wohnwabe: Martin Hohner, Klara Knümann und Laura Palacios © Theater Freiburg

Überhaupt gibt Lazić jeder Facette von Büchners in Irrsinn zerfetzten Daseinsinseln einen fast schon komfortablen Rückzugsort – dem Doktor sein Gewächshaus, dem Hauptmann sein elegant gleitender E-Scooter und der Tamburmajorette ihr bisschen Straßenkünstlerinnenglamour. Wo bei Büchner das sinnlose Schlachten eine nicht schließbare Lücke reißt, dichtet Lazić Maries Verzweiflung zu einem auf Endlosschleife gestellten Wimmern ab. Wie soll so eine miese Welt enden, mit einem bang oder einem whimper? Die gute Ensembleleistung eröffnet eine diskussionswürdige Erweiterung des Büchnerschen Erörterungsspektrums, in welcher Art von Elend wir leben möchten.

Woyzeck
Von Georg Büchner
Regie: Bojana Lazić, Bühne: Zorana Petrov, Kostüme: Gertrud Rindler-Schantl, Musik: Vladimir Pejković, Choreografie: Damjan Kecojević, Licht: Cajus Ohrem, Wilfried Hoffmann, Ton: Sebastian Duis, Dramaturgie: Laura Ellersdorfer, Regieassistenz und Abendspielleitung: Sebastian Kraus, Ausstattungsassistenz: Isabell Pollmann, Inspizienz: Stephanie Simons, Requisite: Gerda Schromm.
Mit: Laura Palacios, Martin Hohner, Dražen Pavlović, Antonis Antoniadis, Cherry Janna Horstmann, Belana Kienappel, Klara Knümann.
Premiere am 23. November 2023
Dauer: 1 Stunde, 10 Minuten

www.theater.freiburg.de


Kritikenrundschau

In der Badischen Zeitung (24.11.2023) lobt René Zipperlen Hauptdarstellerin und musikalische Gestaltung der Inszenierung und schreibt: "Diesen 'Woyzeck' schwächt aber ein Strukturproblem: Büchners scharfe vorrevolutionäre Kritik an willkürlich-brutaler Herrschaft schnurrt zusammen auf eine Art feministischen Franz-Xaver Kroetz. Das Prekariat hat es elend, die Frauen werden in der Rollenüberforderung zerrieben: Mutter, Geliebte, Ernährerin. Das ist längst noch keine überwundene Analyse, aber doch eine andere Fallhöhe." Mit dem "starken und überraschenden Ende" wetze Bojana Lasic aber manche Scharte emotional wieder aus. 

 

 

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