Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke - Karlsruhe
Vollständig entknautscht
17. März 2024. Ein Joachim-Meyerhoff-Roman auf der Bühne und Joachim Meyerhoff ist gar nicht dabei? Regisseur und Meyerhoff-Spezialist Jan Bosse tritt mit der Schauspielerin Anne Müller den Beweis an, dass sich Werk und Autor bestens trennen lassen. Ihr Abend ist ein großes Solo und wie die Vorlage eine Hymne an das Theater.
Von Verena Großkreutz
17. März 2024. Sie rezitiert Ibsen im Original, singt lustige Lieder, beschimpft das Publikum in der ersten Reihe: Die Schauspielerin Anne Müller macht von Anfang an klar, dass es an diesem Abend nicht nur um ihren Kollegen Joachim Meyerhoff und seinen autobiographischen Roman Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke gehen wird, sondern vor allem auch um sie selbst. Und mehr noch: um Daseinsmöglichkeiten auf der Bühne ganz allgemein.
Nachdem sie sich mit ihrem Bücherstapel auf der Bühne des Kleinen Hauses des Staatstheaters Karlsruhe eingerichtet, den Lesetisch erst an die Rampe und dann wieder zurück in den Lichtkegel geschoben, ein Wasserglas auf ex getrunken und dann gerülpst hat, lässt sie erstmal den Anfang von "Peer Gynt" hören, auf Norwegisch, versteht sich: erst flott vorlesend, dann sich gestikulierend in Rage spielend. Aase und Gynt werden lebendig, während Müller auf den Tisch gesprungen ist, gefährlich kippelig an der äußersten Kante hockend. Sehr lustig.
Grandiose Soloperformance
Keine "Lücke"-Nacherzählung oder ähnliches gibt es also zu hören, sondern eine grandiose Soloperformance voller Überraschungen, die mit Motiven des Romans spielt. Es wird bald deutlich, dass der Irrsinn der Welt, wie sie der Gerade-noch-Teenager im Roman erlebt, ihr selbst nicht fremd ist, wie auch seine Identitätskrisen, Selbstzweifel, Überforderungen nicht, die er im Leben und an der Münchner Schauspielschule, an der er nolens volens gelandet ist, durchmacht. "Ich wollte Theater spielen, aber nicht dabei sein", lässt sie ihn sprechen, ihn, der sich erst dann freispielen kann, wenn er entsprechende "Schutzschichten" um sich hüllt.
Inszeniert hat Jan Bosse. Müller – mal in lässigem Anzug und spitzen Herrenschuhen, mal in einem gefühlt fünf Meter breiten Reifrock – bespielt, zurückgeworfen auf sich selbst, eine kahle, leere Bühne: mal am Tischchen, mal am Flügel sitzend, Gesprochenes ironisch mit Chopin oder Schubert brechend, mal dazwischen tanzend, sich die Gitarre schnappend, um plötzlich Funny von Dannens Lied Schön singen überraschend schön zu singen. Ein Akt der Selbstvergewisserung.
Langsam verwelkender Stillstand
Der Roman ploppt in kurzen Episoden auf, deren Dialoge die drahtige Blondschopfige in unterschiedlichen Stimmlagen performt: mit besonderem Fokus auf die Großeltern, in deren großbürgerlichen Villen-Welt – er: emeritierter Philosophieprofessor, sie: eine ehemalige Schauspieldiva – der junge Mann Unterschlupf gefunden hat. Es zeigt sich, dass der von den Großeltern penibel zelebrierte, langsam verwelkende Stillstand nicht weniger Absurditäten gebiert als die kuriose Pädagogik der Schauspielschule, die den jungen Mann zwingt, "Effi Briest wie ein Nilpferd zu sprechen", oder ihm rät: "Entknautsche dich endlich!"
Die Schwerhörigkeit des Großvaters, das völlige Unverständnis der Großmutter für das Regietheater: Das plastisch zu performen ist für Müller ein Kinderspiel – bis hin zu den ohrwurmigen "Moooahhh"-Ausrufen der Großmutter, die Müller nicht vokalbetont artikuliert, sondern eher wie ein elegant-französisch hingeworfenes "moi".
Erkundung anderer Ichs
Aus der pädagogischen Psycho-Falle, seinem Ich-Zerfall, nur angetrieben von Enthusiasmus und Durchhaltevermögen, rettet sich der junge Mann ins erste Engagement am Kasseler Theater, in die Rolle des Werther, dessen Suizid als "finaler Versuch, mit sich eins zu werden" ihn erlöst. 240mal. "Frisch erschossen in der Finsternis zu liegen. Das war herrlich." Befreiung durch Erkundung anderer Ichs, durchs Spielen zu sich selbst finden: Das spiegelt Müller eindrücklich in der eigenen Performance.
Das Ende Werthers spielt sie zwischen rosa Vorhängen, deren umständliche, späte Installation eine eigene lustige Nummer ist. Den Kopfschuss erspart sie sich. Stattdessen: Ein Pianist erscheint, Müller entschwindet, es erklingt melancholisches Tastensingen, es deutet sich "My way" an. Es schwant einem Fürchterliches: Sie wird doch wohl nicht…? Diesen abgedroschenen, gefühlsduseligen Ich-Song…? Das Lieblingslied gescheiterter Existenzen…? Bitte nicht! Und dann passiert etwas sehr Überraschendes. Ein prächtiges Riesen-Huhn, schwarz mit rotem Kamm, betritt die Bühne und singt "And now, the end is near / So I face the final curtain". Man staunt. Man lacht. Man ist berührt. Man ist berührt, weil ein Huhn "My way" singt. Ein Huhn singt "My way", und niemand findet das peinlich! Weil im Theater eben alles möglich ist.
Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke
nach dem gleichnamigen Roman von Joachim Meyerhoff
Regie: Jan Bosse, Bühne und Kostüme: Jan Bosse und Anne Müller, Klavier: Matthias Flake, Licht: Christoph Pöschko, Dramaturgie: Hauke Pockrandt.
Mit: Anne Müller.
Premiere am 16. März 2024
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.staatstheater.karlsruhe.de
Kritikenrundschau
Anne Müllers "bestechende Bühnenpräsenz" komme "berührend und hochkomisch" zur Geltung, schreibt Andreas Jüttner in den Badischen Neuesten Nachrichten (18.3.2024). Mit "wegwerfender Grandezza" zelebriere sie die "oft absurden der vergesslichen Großmutter und des schwerhörigen Großvaters". Die Inszenierung zeige "eine Stärke von Theater, indem Müller den Abend zwar sehr persönlich beginnt, dann aber immer mehr in ihrem Spiel zu verschwinden scheint". Es sei ein "fulminantes Solo", das das zwei Stunden lang im Alleingang rocke. "Besser geht's nicht", so Jüttner.
Die "Karlsruher Fassung" greife "tief in den Text ein", meint Rüdiger Krohn in der Rheinpfalz (18.3.2024). Die Hauptfigur werde "ohne erkennbaren Grund von einer Frau gespielt: eben von Anne Müller". Das mache sie "nach Kräften gut", zeige sich gar als "virtuose Performerin mit einer üppigen Palette von Ausdrucksmitteln", die "Verfremdung" aber tue der Rolle nicht gut. Zumal auch aufgrund der "dramaturgischen Verknappung" manches Detail "rätselhaft" anmute. Trotz dieser Einwände gehöre die Inszenierung aber dank der "entfesselt aufspielenden" Anne Müller zu den "besseren Produktionen des Hauses seit langem".
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