Faust I - In Konstanz geht Johanna Wehner mit Goethe in die Disco
Faust zeigt Gefühle
von Elisabeth Maier
Konstanz, 27. November 2015. Das Böse steckt in Faust selbst, sagen Psychoanalytiker. Neu ist die Erkenntnis nicht. Wohl aber die radikal frische Art, wie die Konstanzer Oberspielleiterin Johanna Wehner Goethes Klassiker präsentiert. Der Gelehrte, der erkennen will, was die Welt im Innersten zusammenhält, wird von drei mephistophelischen Verführern verfolgt: Ganz im Sinne Freudscher Deutung streiten Es, Ich und Über-Ich um seine Seele. So viel Überbau könnte dröge werden, würden Wehner und ihr junges Team die Verse nicht grandios rocken. Zu Antonio Vecchios druckvollen elektronischen Soundfetzen tanzt Faust durch ein Labyrinth der Spaßgesellschaft.
"Du hier und nicht in New York?" fragt ein Yuppie aus der Konserve und zerrt den Gelehrten in einen Nachtclub. Körper schwitzen, und die langweiligen Krawatten der Schreibtischtäter landen im Müll. Wenig später zieht die Meute im schwarzen Einheits-Trainingsdress weiter auf die Walking-Strecke und turnt sich die Seele aus dem Leib. Dann stürzt sich der Mob in Miriam Draxls wilden Tier-, Fabel- und Comic-Kostümen in eine Hanswurstiade. Eine blaue Plastikperücke, gehörnte Fabeltiere und Superman zaubert die Kostümbildnerin aus der Kiste.
Das enge Bretterhaus ist eingestürzt
Schrille Szenen erinnern daran, was Goethes "Welttheater" auch ist: Ein Konstrukt literarischer Schichten vom Volkstheater zur Tragödie der Kindsmörderin Gretchen. Die untersucht das Ensemble auf Elisabeth Vogetseders starker Bühne, wo das "enge Bretterhaus", in dem der Protagonist "den ganzen Kreis der Schöpfung" ausschreiten sollte, eingestürzt ist. Auf zwei schräg in die Bühne gesetzten Platten rutschen und straucheln die Akteure. So, wie ihnen in Wehners kluger Lesart das Leben entgleitet.
2014 ist die 34-jährige Regisseurin in Konstanz angetreten, um als Oberspielleiterin beim dominanten Theaterpatron und Jura-Professor Christoph Nix frischen Wind ins Stadttheater in der Konzilstraße zu bringen. Und die auch an größeren Häusern gefragte Regisseurin hat einiges bewegt. In ihrem ersten Jahr hat sie nicht nur dem chaotischen Mix der Regiestile Einhalt geboten. Sie hat auch das Ensemble deutlich verjüngt. Gleichzeitig fordert sie die älteren Schauspieler heraus, sich mit ihr und ihrer innovativen Dramaturgie auf Neues, Gewagtes einzulassen.
Gretchen kommt weiter
Das gelingt Ingo Biermann als Faust, der schon seit 2006 in Konstanz ist. Er macht den Gelehrten zum Lebemann, dem mit Gretchen wunderbare erotische Momente gelingen. Ebenso brutal stößt er die Frau wieder weg, als er neue Welten entdecken will. Dass Gretchen nicht zum Opfer wird, besorgt die junge Johanna Link. Frisch von der Schauspielschule in Hamburg engagiert, interpretiert sie die schwierige Rolle stark. Fragil und kaltschnäuzig zugleich, emanzipiert sie sich vom braven Mädel zu einer selbstbewussten Frau in Designerklamotten. Am Ende ist es Gretchen und nicht Faust, die in eine neue Dimension des Denkens aufbricht.
Sprachliche Bälle spielen sich die drei Mephistos zu. Andreas Haase, Natalie Hünig und Peter Posniak jonglieren mit Versen. So treiben sie dem abgestandenen Zitatenschatz die letzte Blässe aus. Sie hören in Goethes Sprache hinein, tasten nach tieferer Bedeutung und verführen Faust, seine Gefühle zuzulassen. Zu stark in die Karikatur lässt Sylvana Schneider Volkes bitterböse Stimme entgleiten, wenn sie Gretchen vor der Sünde warnt. Julian Härtner und André Peter Rohde zeichnen die Nebenfiguren blass. Großartig gehen die drei dagegen das immense Tempo mit, das die Regisseurin bis zuletzt verlangt. Und ihr Konzept geht auf. Dieser "Faust" macht Lust auf die Fortsetzung im Mai, wenn Wehner "Faust II" auf die Bühne bringt.
Faust I
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Johanna Wehner, Bühne: Elisabeth Vogetseder, Kostüme: Miriam Draxl, Dramaturgie: Adrian Herrmann, Musik: Antonio Vecchio.
Mit: Ingo Biermann, Andreas Haase, Julian Härtner, Natalie Hünig, Johanna Link, Peter Posniak, André Peter Rohde, Sylvana Schneider.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.theaterkonstanz.de
Es sei im Text "alles gestrichen, was dem Zuschauer lieb ist", beschwert sich Wolfgang Bager im Südkurier (30.11.2015) und hat in Johanna Wehners Inszenierung "viel sinnfreies Bühnenkunsthandwerk" gesehen, "manches davon durchaus nett anzusehen und auch kurzweilig". "Nein, Theater ist nicht verstaubt, und dieser 'Faust' schon gar nicht" sei "die trotzige Botschaft der Regie an das junge Publikum." Doch "nur mit Jux und Tollerei lässt sich kein Klassiker stemmen", so Bager. Nach der Pause konzentriere die Inszeneirung sich deshalb auf die Gretchen-Tragödie, und da komme ihr Johanna Link "ganz wunderbar zu Hilfe", die das Gretchen "mit großer Natürlichkeit und Intensität" auf die Bühne bringe. Auch beim Rest des Ensembles hat Bager "tadellose Schauspielkunst und angenehme Sprechkultur" wahrgenommen.
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Die verkopfte, verstockte, gelangweilte und ziemlich modern in ambivalenter Männlichkeit herumwanzende Faustgestalt, die Johanna Wehner da mit ihrem Enseble herausarbeitet interessiert uns eigentlich nicht. Vom "dynamisch hippem Intellektuellen" kann nur jemand schwadronieren, der am eigenen Bild, nicht aber an der Inszenierung interessiert ist. Gretchen ist die Hauptfigur schon des ersten Parts der Tragödie ersten Teils. Geschickt wird die Moralfrage (die heutige Gretchenfrage: wie aber, ihr AfD- und Grünenwähler, ihr bildungsbeflissenen Eigentumswohnungsbesitzer, ihr Leerstandsverwalter und Ferienwohnungsvermieter haltet IHR es mit der Nächstenliebe?) erst nach der Pause montiert. Gretchen ist nicht nur armes Opfer in Wehners Inszenierung - ja, auch hier ersäuft sie das Kind, bringt ihre Mutter mit dem Trunk ins Grab - aber für die Formulierung "rotzfreche Göre" verdient der Südkurier-Autor was hinter die Löffel. Für den Holzhammer, mit dem die drei Mephistophlen allerdings als Facetten des Faust'schen Strebens internalisiert werden, dafür möchte ich auch die Wehner rüffeln. Ein wenig mehr Vertrauen in die Aufmerksamkeit des Publikums hätte da nicht geschadet.
Obwohl - wenn man(n)'s schon so mißverstehen kann wie der Kollege aus dem Süden? Nun. Die Spielzeit ist vorbei. Warten wir auf den nächsten Faust. Gespannt, denn DIESES Gretchen wird uns dort sehr fehlen.