Apfelschuss am Karpfenteich

23. Juni 2023. "Schöne Welt, wo bist du?", fragte 1788 Schiller in seinem Gedicht "Die Götter Griechenlands". Seit gestern fragen es die 22. Internationalen Schillertage. Los ging's mit "Wilhelm Tell". Der legendäre Schütze bekommt es hier nicht mit selbstbewussten Bergbewohnern, sondern großmäuligen Fischen zu tun. Die grooven sich durchs Sommertheater. 

Von Esther Boldt

"Wilhelm Tell" in der Regie von Christian Weise bei den Internationalen Schillertagen in Mannheim © Christian Kleiner

23. Februar 2023. "Das Land ist frei-hei, das Land ist frei", singen am Schluss die Fischköpfe und schlenkern dabei tanzend ihre Beine und Flossen in die Luft. Denn bei diesem "Wilhelm Tell" sind es keine strammen Bergbewohner, die den Kaiser und seinen Stellvertreter aus ihrer Eidgenossenschaft verjagen wollen, es sind Fische. Schließlich wird ja hier auch nicht vor einer Alpenkulisse, sondern vielmehr auf der Seebühne, im Karpfenteich gespielt. Drum hat der Tell nach seinem Mord am Gessler auch einfach die goldene Armbrust in den Teich geworfen und ist gegangen: "So, Leute, das Land ist frei."

Spitzmäulige Karpfen, rundköpfige Welse

Zur Eröffnung der diesjährigen Schillertage des Nationaltheaters Mannheim bringt Regisseur Christian Weise dessen Helden- und Schweizer Gründungsmythos auf die Bühne. Und zwar als Sing- und Schauspiel, das in vielen Momenten ganz kontraintuitiv luftig und leicht daherkommt und das die Kriegsparteien, die sich da im Land gegenüberstehen, allesamt im grotesk-komische Fischkostüme steckt. Großartig sehen sie aus, die großmäuligen Masken, aus denen die Schauspieler:innengesichter herausschauen, weiß geschminkt, die Augen schwarz umrandet, dabei Flossen an Schultern, Händen, Rücken, und bei Heroen wie Ulrich von Rudenz und Tell sehr gern auch auf Höhe der primären Geschlechtsorgane.

Wilhelm Tell4 805 Christian Kleiner uRecker Schweizer: Christoph Bornmüller als Tell, im Hintergrund: Band und Nektarios Vlachopoulos © Christian Kleiner

Die recken Schweizer sind spitzmäulige Karpfen, die Habsburger rundköpfige Welse. Regisseur Weise und die Spieler:innen des Mannheimer Ensembles wollen nicht mitstricken am Mythos, wollen ihn dennoch erzählen und dabei unterhaltsames Sommertheater schaffen – Open Air, auf dem Gelände der diesjährigen Bundesgartenschau, auf der Seebühne im Luisenpark. Wo heute zu dem Unwetter, das in Schillers Drama tobt, sich eigentlich ein echtes hatte gesellen sollen – samt Gewitter, Orkanböen und Hagel. Doch es blieb, was für eine Enttäuschung, aus. Dafür kreisten Störche und Reiher über der Szenerie, Schwalben und, selbstredend, Mücken.

Zwischen Heiterkeit und großem Ernst

"Wilhelm Tell" als Sommertheater? Geht das? Zuletzt haben sich unter anderem Roger Vontobel und Milo Rau an dem Freiheitskämpfer versucht, mit reichlich Pathos und inhaltlich weitschweifenden Ambitionen. Doch zum Sommertheater taugen Schillers in ihrer Geschichte vielfach zitierte und instrumentalisierte Bonmots durchaus auch: Da ist großer Witz, wenn Annemarie Brüntjens Burgvogt Gessler singend und elegant mit den neongelb-schwarzen Flossen winkend dem Eigenbrötler Tell die schreckliche Herausforderung stellt: die Dämonin im Welspelz. Da fährt es einem in die Glieder, als sich die Eidgenossen auf dem Rütli verschwören und hier natürlich auch ein Tänzchen auf ihr Bündnis ablegen. Oder wenn Berta von Bruneck, hinreißend gespielt von Almut Henkel, ihrem eifrigen Rudenz (Leonard Burkhardt) erklärt, warum er an der Seite seiner Landsleute kämpfen muss. Da gelingen immer wieder Wechsel zwischen großer Heiterkeit und plötzlich einfahrendem Ernst.

Wilhelm Tell2 805 Christian Kleiner uUnter freiem Himmel reißen sie die Mäuler auf © Christian Kleiner

Ja, es gibt einige schlechte Scherze. Die Figur des Conferencier, die, gespielt von dem Slampoeten und Comedian Nektarios Vlachopoulos, durch den Abend führt, fügt bisweilen arg viel Erklärkitt ein in Schillers sprunghaftes Stück, das sich zunächst episodisch (und eigentlich sehr postmodern) durch die Schweizer Szenerie zappt, um das Leid der Zivilbevölkerung unter dem habsburgischen Joch anschaulich zu machen und die Protagonisten der kommenden Verschwörung einzuführen. Vlachopoulos soll als Gastgeber den Abend spürbar auch für jene verständlich und vergnüglich machen, die im klassischen Repertoire nicht zuhause sind, und dagegen ist nichts einzuwenden.

Lustvoll gegen den Strich bürsten

Beim Brückenbauen hilft auch die Musik von Falk Effenberger, die er gemeinsam mit Steffen Illner und Jens Dohle in einem goldenen Bandpavillon unterm schneebedeckten Pyramidengipfel spielt. Dabei grooven sich die Musiker in paillettenbesetzten Goldfischkostümen durch Widerstandskämpfe und dramatische Höhepunkte wie in der Hohlen Gassen, wo der leicht angeknackste Tell dem Burgvogt auflauert.

Der bewaffnete Aufstand in den drei Kantonen wird weitgehend übersprungen, direkt zum Happy End, das darum unblutiger erscheint. Schließlich, so erklärt Christoph Bornmüller einmal, der den Tell spielt, aber hier als er selbst spricht, habe das Ensemble beschlossen, keine gewaltverherrlichende Inszenierung zeigen zu wollen. Zornig klingt er da nur als Schauspieler, seine Tell-Stimme wird dann wieder ganz sanft. Der Freiheitsdrang liegt an diesem Abend eher im lustvollen Gegen-den-Strich-Bürsten – und da liegt er gut.

Wilhelm Tell
von Friedrich Schiller
Mit Musik von Falk Effenberger
Regie: Christian Weise, Bühne: Nina Peller, Kostüme: Lane Schäfer, Licht: Robby Schumann, Musikalische Leitung & Komposition: Falk Effenberger, Choreografie: Rouven Pabst, Dramaturgie: Beate Seidel, Musiker: Falk Effenberger, Steffen Illner, Jens Dohle.
Mit: Christoph Bornmüller, Sarah Zastrau, Almut Henkel, Annemarie Brüntjen, Leonard Burkhardt, Jessica Higgins, Patrick Schnicke, Nektarios Vlachopoulos.
Premiere am 23. Juni 2023
Dauer: 2 Stunden, 45 Minuten, eine Pause

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

"[E]in ganzes Feuerwerk witziger bis schriller Regieeinfälle sorgte für einen heiteren Sommerabend, an dem der Ernst dieses Politstücks in den Hintergrund trat", schreibt Heribert Vogt von der Rhein-Neckar-Zeitung (24.6.2023). Das ausdrucksstarke Ensemble verleihe der gedrechselten Sprache Schillers eine besondere Frische. Mit ihren deutlichen Bezügen von Hitlers 'Mein Kampf' bis zur Gender-Welt sei die Aufführung sicher auch ein 'Stresstest‘ für den Bühnenklassiker.

"Der Tell, ein Karpfical. Die Idee ist so gaga, dass sie an sich schon wieder gut ist", schreibt Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (23.6.2023). So charmant die Idee sei, so ganz haue das nicht hin mit der "Zwangsvermählung von Schiller, der Erzählung von Freiheit und Aufbegehren gegen die Habsburger, dem Schweizer Nationalmythos und dem Karpfical mit den wackelnden Flossen", "weil zwischen all den Fisch-Gags, dem Gesang, der pausenlosen Ironie und den wogenden Karpfenschädeln dann eben doch einiges an Inhalt verloren geht".

"Zwar setzt der Erzähler lakonisch und schnodderig den passenden Ton, doch im Spiel kriegen sie das Pathos der Vorlage dann nicht zu packen. Liegt auch daran, dass dem Dichter offenbar vor der Uraufführung 1804 keiner gesagt hat, dass sein Stück mal ein Singspiel werden soll. Dann hätte Schiller ja Songs mit brauchbarem Refrain schreiben können. So aber bahnt sich Komponist Falk Effenberger als Leiter eines Trios mühsam einen Weg irgendwo zwischen Schlager und Kurt Weill“, schreibt Stefan Benz von der Allgemeinen Zeitung (24.6.2023).

Ernst nehmen könne man Abend eigentlich nicht, kuriosen Charme habe er dennoch, so Ralf-Carl Langhals vom Mannheimer Morgen (24.6.2023). Der Kritiker sah sich irgendwo zwischen Grausen, Kopfschütteln, Grinsen und Staunen festsitzen, sortierte sein Sprechtheaterwerkzeug und stellte fest, dass es nicht greifen wollte. "Stellen wir neutral fest: Der Abend fällt aus dem Rahmen, taugt zum Alleinstellungsmerkmal und wird einem unter zig gesehenen 'Tells' sicher nie mehr aus dem Kopf gehen ...". Langhals schließt: "Man bespielt letztlich großartige Kostüme, Schiller-Charakteren begegnet man nicht. Ein einig Schwarm von Fischen zu werden hat Witz, aber keinen Sinn."

 

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