Als ob schon morgen wär - Die Uraufführung des Anne-Rabe-Stücks durch Anna-Lena Kühner
Klischee von larmoyanten Ossis
von Harald Raab
Mannheim, 18. Dezember 2010. Meck-Pomm ist in Deutschsüdwest so exotisch wie die Elfenbeinküste. Wer von den Kurpfälzern kennt einen Ossi oder war gar schon mal in Ossi-Land? Fest und ignorant steht sie noch in den Köpfen der meisten – die Mauer, Schutzwall gegen gesamtdeutsche Ansprüche der Brüder und Schwestern, dazu zu gehören. Doch sie sind nun einmal da, die Menschen mit ihren Transformationsproblemen. Materialisten wie wir und gar nicht dankbar und bescheiden. Zumindest im Nationaltheater Mannheim fordern sie Beachtung ein. Sie verstören – und das im doppelten Wortsinn.
Vorsicht Klischee-Falle: Tristesse in Mecklenburg-Vorpommern, keine Lehrstellen, Arbeitslosigkeit, Perspektive Ein-Euro-Jobs und Hartz IV schon für die Jungen, Wendeverlierer fast alle, Abwanderung der Starken, Hoffnungslosigkeit bei den Zurückgebliebenen, Sympathien für Nazi-Parolen. Medienaufmerksamkeit nur, wenn wieder einmal etwas schiefgegangen ist, vorzugsweise ein Kind zu Tode geprügelt wurde oder verhungert ist. Wussten wir doch schon immer, der Sozialismus hat verantwortungslose Typen ohne christlich-abendländische Werte zurückgelassen.
Die Fahnen der Ideologien bleiben unten
In ihrem leisen und unaufdringlichen Soziodrama "Als ob schon morgen wär" verdichtet Anne Rabe die real existierende Gemengelage um den Tod eines Kindes zu einem Stück Lebenswirklichkeit. Sie zieht nicht die Fahnen ideologischer Lehrstücke auf. Sie bedient keine Vorurteile, weder die von den desolaten Verhältnissen, in denen Menschen kaputtgemacht werden (sozialistische), noch die von der bloß individuellen Verantwortung (neoliberale). Sie lässt ganz einfach Menschen erzählen, von ihren Schicksalen auf der Suche nach ein bisschen Glück, Scheitern inbegriffen. Wer darf sich da schon aufgerufen fühlen, den Richter zu spielen?
Nun, gerichtet hat man in Mannheim. Leider muss man es so sagen: Es war eine Hinrichtung dieses raffiniert doppelbödig gebauten, spielerisch Zeit- und Erzählebenen verwirbelnden Stücks, das bei all dem auch noch mit einem soliden Spannungsbogen ausgestattet ist. Knapp und lebenswahr der Text – nicht aufgemotzte Pseudomilieusprache.
Was sprachlich so leicht und selbstverständlich daherkommen soll, ist freilich hochkomplex. An der sicher schwierigen Regieaufgabe musste eine frisch von der Ausbildung kommende, eigentlich als Regieassistentin engagierte Frau zwangsläufig scheitern. Anna-Lena Kühner hat den Figuren kein Leben, keine Lebenserfahrung geben können. Herausgekommen ist bei ihren Bemühungen auf fast leerer Bühne ein Wechselbalg aus szenischer Lesung und Stell-, respektive Sitzprobe: Auftritt, Text aufsagen, hinsetzen (Bühne: Kathrin Younes, Kostüme: Janine Werthmann).
Stereotypie
Wenn sich eine Interaktion nicht umgehen lässt, erscheint sie in Gestalt vorhersehbarer Handlungsversatzstücke: Beziehungszoff zwischen der Dorf-Sexibiene Katja (Jenny König) und dem fortstrebenden Hoffnungsträger Marko (Taner Sahintürk), Gekeife und Geätze der Katja-Mutter (Ragna Pitoll) und der Marko-Mama (Cornelia Kempers), Prügelei, dass die Bretter der Bühne krachen, zwischen Marko und dem tumben Neonazi Hannes (Sascha Tuxhorn), und schließlich das Mannsbilder-Geschwätz zwischen dem strammen Wachmann Köppi (Mats Reinhardt) und dem Gastwirt Ulf (Hans Fleischmann). Jeder exekutiert seinen Text, so gut er kann.
Wenn dann noch Katja als Ausdruck innerer Erregung einen Dauerlauf um die versammelte Bühnenmannschaft zurücklegen und an die Bühnenwand schreiben muss, dass sie nicht bereut, für den Tod ihres Babys verantwortlich zu sein, ja dann fehlt nur noch der Running Gag: die Damen und Herren ziehen bunte Luftballons in Serie aus Hosentaschen und Dekolleté, blasen sie auf und verteilen sie auf der Bühne. Und wann bringt man dem Regienachwuchs an den Akademien endlich bei, die Finger vom Videoeinsatz zu lassen, wenn damit nur Einfallslosigkeit potenziert wird?
Kann man Anna-Lena Kühner einen Vorwurf für den misslungenen Regieversuch machen? Nein, allerdings den Verantwortlichen am Schauspiel des Mannheimer Nationaltheaters. Anne Rabe ist nicht irgendeine Sternschnuppe am deutschen Theaterhimmel. Sie hat hinlänglich bewiesen, dass man auf sie als Nachwuchstalent zählen kann. Ein neues, noch dazu gut gebautes Stück von der Kleist-Förderpreisträgerin 2008, da schaut nicht nur die Kurpfalz hin. Erst vor wenigen Wochen hat Rabe die Fördergabe des Schiller-Gedächtnis-Preises vom Land Baden-Württemberg bekommen. Nach dem Mannheimer Missverständnis: "Als ob schon morgen wär" muss erst noch uraufgeführt werden.
Als ob schon morgen wär (UA)
von Anne Rabe
Regie: Anna-Lena Kühner, Bühne: Kathrin Younes, Kostüme: Janine Werthmann, Dramaturgie: Regina Hess.
Mit: Jenny König, Taner Sahintürk, Sascha Texhorn, Mats Reinhardt, Hans Fleischmann, Ragna Pitoll, Cornelia Kempers.
www.nationaltheater-mannheim.de
Mehr zu Anne Rabe: über die Uraufführung ihres mit dem Kleist-Förderpreis ausgezeichneten Stückes Achtzehn Einhundertneun - Lichtenhagen in Chemnitz im November 2008 schrieb Ralph Gambihler.
"Am Anfang das Endspiel", schreibt Alfred Huber in seiner Kritik für den Mannheimer Morgen (20.12.2010). "Vor hier aus rollt die Regisseurin Anna-Lena Kühner nicht nur auf, was zur Katastrophe führen wird, sondern sie verstärkt auch den von Anne Rabe geschickt, mitunter freilich auch etwas verwirrend eingesetzten Wechsel zwischen Gegenwart und Rückblende." Aus all dem hätte "eine durchgängig berührende, atmosphärische Inszenierung entstehen können, wären die Figuren und das, was sie sagen, nicht so unverrückbar festgelegt. Oft ist in den Sätzen zu wenig Leben, und man merkt, dass Anne Rabe, trotz der Aufbruchs- und Ausbruchsversuche, die sie hier verhandelt, häufig zu verbrauchten Mitteln des Theaters greift, wenn es gilt, die Schwächen und Unzulänglichkeiten innerlich monströser Menschen zu charakterisieren. Untalentiert geschieht das nicht. Doch wir wollen ehrlich sein: Auch von zwei jüngeren Mitgliedern der schreibenden und regieführenden Zunft darf man erwarten, dass sie auf der Bühne fördern, was das Theater alleine nährt. Nämlich jene Hoffnungen und Sehnsüchte, mit deren Hilfe Kunst außerhalb aller Realitätsbezüge über sich selbst hinauswachsen kann. Aber davon ist der Abend leider Lichtjahre entfernt."
Die Geschichte, die das Stück erzähle, bleibe "in den Grundzügen stecken, weil sie kaum mehr als Behauptungen aneinander reiht", schreibt Monika Frank (Rhein-Neckar-Zeitung, 21.12. 2010). In einer "geschickt montierten Mischung aus Erzählung und Spiel" wirkten die "einzelnen Szenen wie starre Indizien". Die Schlüsse daraus lasse Anne Rabe offen. Das müsse kein Schaden sein, "wenn wenigstens die Inszenierung Leben in die Leerräume bringt". Anna-Lena Kühner sei damit aber "überfordert" gewesen. Es entwickle sich "keinerlei Atmosphäre", die Inszenierung wirke "über weite Strecken" wie eine "szenische Lesung". Und auch die Schauspieler "tun sich schwer mit Stück und Inszenierung".
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die von Ihnen als vorhersehbare Handlungversatzstücke beschriebenen Interaktionen sind Teil des von Ihnen so benebelt unverhältnismäßig
in den Himmel gelobten Stücks.
Kleist(er)-Förderpreis, Schiller-Gedächtnis-Pokal hin oder her, beschreiben Sie gefälligst erst einmal das Gesehene, bevor Sie es mit Ihrem einfallslos langweiligen Bewertungs(...) übergießen! Der Abend ist wahrlich kein Ereignis, öffnet sicherlich keine Horizonte und läßt einen auch nicht emotional geplättet zurück, was man vielleicht ob der Thematik, dem Passierten innerhalb der Geschichte, die von der Autorin erzählt werden will, erwartet werden könnte. Aber völlig unmotiviert und an den Haaren herbeigezogen zu behaupten, es würde sich bei dieser Inszenierung um einen Wechsel zwischen szenischer Lesung und Stell-/Sitzprobe handeln, mutet eher (...) an als irgendeiner Form von Wahrheit.
(...)
In Mannheim hat man den Text auf die Bühne gebracht. Viel passierte auf der Bühne nicht. Zwei,drei Videoeinspielungen, die zwar nichts befördert, aber auch nicht sonderlich gestört haben. Ein kurzes Bild von Luftballonaufblasenden Figuren, eine Frau, die dezent im Kreis läuft, zwei junge Männer, die sich ebenso bildhaft prügeln, das war es, ansonsten hört man den Text. Man läßt ihn in Ruhe und vielleicht ist gerade das das Problem. Er ist zu spröde, zu wenig theatral, als daß er es aushielte für sich zu stehen, um damit eventuell zu berühren oder gar zu fesseln.
Man täte gut daran bei der Wahrheit zu bleiben, anstatt auf subjektive Art zu verklären, Herr Raab!
Kritiker dürfen regelmäßig persönlich werden, nicht jedoch wer anders.
Was ein Kindergarten! PEINLICH!
(Werter Gast,
nein, auch Kritiker sollten nicht persönlich werden. Gegenstand von Nachtkritiken sind Theaterabende, schauspielerische Leistungen, Leistungen der Regie etc., aber nicht die Privatperson der Künstler.
Siehe auch die Kommentarregeln im Impressum.
Viele Grüße, die Redaktion)
Auch hier wie hinlänglich bekannt, ein sich in Phrasen ergehender Autor, der es nicht einmal schafft, (...) seiner eigentlichen aufgabe gerecht zu werden- nämlich zunächst einmal zu beschreiben, was er gesehen hat.
Was in Mannheim wirklich stattfindet ist nämlich weit entfernt von larmoyanten Ossis und Millieu-Klischee- die Regie ging hier den Weg der Abstraktion, hat versucht den Text zu präsentieren und sprechen zu lassen und auch die verqueren Ebenen zu ordnen-ja, auch durch den Videoeinsatz-nebenbei selbst die beanstandeten Prügel zwischen den zwei Jungen wurden als theatrale Erhöhung gesetzt.
Aber leider ist es dem Herrn Kritiker auch nicht gelungen (...) diesem " raffinierten" Text genau zuzuhören-der vor allem selbst Stereotypen reproduziert und keinerlei dramatische Handlung bot, die über Vorabendserien- niveau hinaus ging.
Der Abend in Mannheim hat leider nämlich genau das getan, was sie ihm nicht zugestehen wollen, er hat die "Figuren" erzählen lassen und ist am Nicht-gehalt der Figuren Texte gescheitert, der Texte, denen vertaut wurde
Es ist sehr bedauerlich, dass Preise, welche die Namen Kleist und Schillers tragen, an weitgehend Nachwuchsdramatiker vergeben werden, deren Empathie und Sprachniveau auch nicht über die Vorabendserie hinausgehen.
Die Regisseurin Anna-Lena Kühner hat meiner Meinung nach das Beste aus einem Stück gemacht, das sich vor allem durch basishandwerklich schlecht geschriebene Szenen auszeichnet - nach langjähriger und regelmäßiger Lektüre deutscher Gegenwartsdramatik bin ich mal so frei, dies hier zu behaupten. Was wird denn bitteschön gelehrt an den Akademien dieser Schreiberlinge? Und was macht die Autorin des Abends, die frisch aus ebensolcher kommt, denn bitteschön zu mehr als einer "Sternschnuppe" am deutschen Dramatikerhimmel, Herr Kritiker? Ach ja, die Preise...
Mein Lob geht uneingeschränkt an die Regisseurin des Abends, die inmitten unsäglicher Ost-Klischess und jungdramaturgischer Ungenauigkeit einen kühlen Kopf bewahrt und mit sehr genauem Regieblick das Stück auf seinen Inhalt und seine Form abgeklopft hat - wem das Ergebnis immer noch zu dünn erscheint, der möge seine Kritik doch auch einmal an unsere Nachwuchsschreiber richten!
Und zuletzte möchte ich Ihnen noch persönlich sagen, lieber Herr Kritiker, dass ihre beleidigende wie grobschlächtig subjektive Art der Kritik wirklich bedauernswert ist. Sie vernachlässigen so ziemlich jedes Kriterium, das eine gute Kritik, unabhängig von Gegenstand Ihrer Kritik, auszeichnet. Wo wir wieder beim Thema des Handwerks wären...
(Werter Theatergast,
seien Sie doch so gut und verraten Sie die Kriterien einer "guten Kritik"; wir wüssten gern, welche Sie meinen.
Und, auch dies noch, erklären doch bitte, wie Vorabendserien sind. Leider habe ich aus Zeitgründen keine Möglichkeit, Vorabendserien zu schauen. Sind sie denn alle gleich? Woran erkennt man sie?
Fragt mit Grüßen: die Redaktion/dip)
Ohne gleich die persönliche Wertung eines Kritkers mitgeliefert zu bekommen, möchte ich als Leser schlicht und einfach erstmal wissen, worum es überhaupt geht (gehen soll) an dem Abend.
Nach einer möglichst objektiven Beschreibung seiner verschiedenen Bestandteile könnte man dann auf die möglichen Probleme des Abends hinweisen - wieso stört die Sprechweise des Schauspielers A und Bühnenbildveränderung B ergibt keinen Sinn? Dies sind Dinge, die sich meiner Meinung nach aus der vorherigen Beschreibung ergeben müssten, um dem Leser so zu vermitteln: Meine Meinung ist begründet! Ungefähr wie beim guten alten Schulaufsatz, der den Lehrer ja auch überzeugen musste (Stichwort: Kohärenz).
Was Sie meiner Meinung nach (in diesem konkreten Fallbeispiel) tun, ist das radikale Äußern der eigenen Meinung mit zudem subjektiven Begründungen, die ich teilweise auch beleidigend finde. Anstatt zu kritisieren (eine sehr wichtige Tätigkeit, wie ich finde), werden Sie gleich herablassend. Und nein, ich war an dem Abend wirklich nur Gast, und verteidige hier in keinster Weise meine eigene Arbeit!
Jedenfalls sehr schade, dass Sie keine Zeit haben, um sich mal eine Vorabendserie anzusehen. Vielleicht würde Ihnen die Gegenwartsdramatik danach in einem ganz anderen Licht erscheinen. Aber keine Sorge, jetzt kommen ja die Feiertage! Ansonsten einfach einen DVD-Rekorder schenken lassen.
In diesem Sinne, Frohe Festtage! Ihr Theatergast