Antigone - Laurent Chétouane öffnet in Stuttgart Sophokles' Klassiker für Musiker, Tänzer und den Zufall
"Antigoneeeee – wo biiiiist duuuuu?"
von Steffen Becker
Stuttgart, 10. Januar 2015. "Im Theater muss man die Räume wieder instabil machen (...) Wir wollen uns mit dieser Arbeit fragen, wie weit man mit dem Theater als Live-Medium gehen kann (...) Der Text muss dem Schauspieler fremd bleiben." Der Regisseur und Choreograf Laurent Chétouane kündigt im Programmheft zu seiner Antigone an, dass am Staatstheater Stuttgart keine Tragödie aufgeführt wird, sondern eine Grenzüberschreitung. Dazu gehört, dass es keine Antigone gibt in "Antigone".
Zum Selberbauen
"Vielleicht kann es, wenn man das heute inszeniert, nur darum gehen, nicht nur den Bruder zu begraben, sondern mit ihm gerade auch Antigone, d. h. aber nicht nur sie – man müsste auch sie zuerst finden, wo bist Du Antigoneeee? –, sondern die Tragödie selbst als dialektisches Spiel", schreibt Chétouane weiter. Betrachtet man das Bühnenbild wird einem schon zu Beginn klar: Die Inszenierung wird einen bei der Suche nach Antigone nicht groß mit vorgegebenen Antworten unterstützen. Resopaltische, Plastikkaffeekannen, Mineralwasser und die Textmanuskripte des Stücks in der Übertragung von Friedrich Hölderlin. Eine Atmosphäre wie bei der ersten Leseprobe. In der Ecke hängen schwarze und weiße Kleidung und liegen Steine, die eventuell auf die drohende Strafe für die Beerdigung von Antigones Bruder anspielen. Beides kommt kaum zum Einsatz – vielleicht wurden sie für zwischenzeitlich verworfene Regieideen gebraucht. Man weiß es nicht – und das ist auch das Prinzip des Abends. Schon nach den ersten Sätzen wird klar: Wir werden uns unsere eigene Antigone zusammensetzen und uns langsam herantasten müssen.
Die Menschen auf der Bühne fungieren als Chor. Sie treten in stets wechselnden Konstellationen heraus, um Teile des Textes von Antigone, Kreon – dem neuen Herrscher Thebens – und Haimons, Kreons Sohn und Verlobter Antigones, zu sprechen. Oder dazu zu tanzen. Oder Klavier, E-Gitarre und Cello zu spielen.
Der Zufall heißt Katharina Knap
Denn Chétouane wirbelt nicht nur die Rollenzuteilung durcheinander, sondern auch die Genres. Er stellt Tänzerinnen und Musiker auf die Bühne, die auch Texte lesen und animiert umgekehrt die Schauspieler, sich der Instrumente und rhythmisch ihrer Körper zu bedienen. Was von der Idee ein reizvolles Experiment ist, kommt jedoch über Ansätze nicht hinaus. Das Gefühl, das Tanz, Schauspiel, Musik und ihre Ausübenden zu einem Ganzen ineinander fließen, stellt sich selten ein. Etwa dann, wenn Antigone (in wechselnden Erscheinungsformen) ihren Abschied aus dem Leben und mehr noch ihre innere Zerissenheit beklagt und sich die zwei Tänzerinnen Roberta Mosca und Berit Jentzsch dazu liebevoll verhaken und blockieren. Mehrheitlich zerfällt die Mixtur jedoch in Sequenzen, die ohne erkennbare Beziehung zueinander parallel abgespult werden.
Das zweite Anliegen, das Chétouane mit seiner Inszenierung verwirklichen will, ist der Zufall. "Der Text ist komplett offen, ebenso wie die Spieler sich den Text greifen", schreibt er im Programmheft. Im Ergebnis zeigt dieses Spiel zumindest bei der Premiere, dass das Alphatier in der Gruppe wohl Katharina Knap sein muss. Sie schnappt sich die größten Brocken aus dem Text, ist die Schauspielerin, die sich am weitesten auf das Gelände anderer Metiers traut und dominiert die Aufführung mit einer beeindruckenden Kombination aus Wandlungsfähigkeit und Leidenschaft. Hier hat sich jemand mit sichtlicher Lust und angstfrei in ein Experiment gestürzt.
Zeitlupe und Textlupe
Damit das im ganzen klappt und die Einsätze nicht abgestimmt wirken, müssen die Spieler das Tempo der Inszenierung auf Zeitlupe herabsetzen. Das geht konform mit der Aufsplittung der Rollen. Wenn Figuren nicht durch Gestik und Mimik eines Darstellers / einer Darstellerin lebendig werden, sondern im Gegenteil durch ganz unterschiedliche Verkörperungen zersplittert werden, hört man viel stärker auf den Text. Und denkt auf einmal intensiver nach, was uns Sophokles bzw. Hölderlin mit "Antigone" sagen. Das Primat eigenständig interpretierter religiöser Gesetze über das Recht des Gemeinwesens zum Beispiel – Antigones "ich darf meinen Bruder beerdigen, weil die Götter dies vorschreiben" war einem beim Lesen gar nicht so ins Auge gesprungen. Ebensowenig die Auseinandersetzung über die Rolle staatlicher Macht und ihre Grenzen – darf sie in intimste Dinge wie das Gedenken an Verstorbene eingreifen?
Das sind gerade jetzt spannende Fragen, denen man nachhängen kann. Dreieinhalb ausgedehnte Stunden mit einem für heutige Ohren sperrigen Originaltext sind allerdings zu lang dafür. Spätestens zur Halbzeit dominieren im Publikum eher verstohlene Blicke auf die Uhr und flüsternde Beratschlagungen, ob man vorzeitig gehen soll. Auf den Abschluss folgt zu allererst die hörbare Erleichterung von Menschen, denen eine Last genommen wurde.
Antigone
von Sophokles, in der Fassung von Friedrich Hölderlin
Regie: Laurent Chétouane, Kostüme: Sanna Dembowski, Musik: Leo Schmidthals, Dramaturgie: Jan Hein.
Mit: Paul Grill, Berit Jentzsch, Caroline Junghanns, Johann Jürgens, Katharina Knap, Manja Kuhl, Roberta Mosca, Leo Schmidthals, Nathalie Thiede.
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
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Laurent Chétouane simuliere "einen unverstellten, staunenden Blick auf einen fremden Text, vermeidet dabei jede Gewichtung der Handlung und jede Deutung der Figuren und erklärt diese Art der entschiedenen Regieverweigerung zur Regie selbst – und zur hohen Theaterkunst vermutlich auch", schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (12.1.2015). Doch in Chétouanes Regie verwandele der Text "die Schaubühne des Kammertheaters in eine geschlossene Anstalt, in der Schauspielerpatienten so transusig reden, als wären sie mit Beruhigungspillen vollgestopft. Zeile für Zeile, bisweilen auch Silbe um Silbe kriechen sie in Alltagsgarderobe durch das endlos zerdehnte Drama, das von Stunde zu Stunde auch zum Drama der Zuschauer wird. Gegen Ende der Inszenierung sagt Johann Jürgens, jetzt als Kreon: 'Was ist denn schlimmer noch als das, was schlimm ist?' – und im Parkett wird vernehmlich gegluckst, weil ein besserer Kommentar zu dieser hammerhart schlimmen Sitzung wahrlich nicht zu finden ist."
Diese "Antigone" sei "die reine Zumutung", verkündet Julia Lutzeyer gleich zu Beginn ihrer Kritik in den Stuttgarter Nachrichten (12.1.2015). Da helfe es "auch nichts, dass neun Protagonisten ein feines Gespinst aus Körpersprache, musikalischer Klangwelt und Dichtung entstehen lassen. Wer als Zuschauer keine enorme Leidensfähigkeit mitbringt, wird (…) das zur Grabkammer mutierte Kammertheater vorzeitig verlassen." Dabei gelängen den Darstellern "viele anrührende Momente. Und für die lohnt es sich, Antigones Martyrium für 210 Minuten zu teilen." Allerdings seien solche "Momente des Erlebens und Miterlebens mit einer gnadenlosen Zeit des bloßen Ausharrens zu bezahlen."
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"Was ist denn schlimmer noch, als das, was schlimm ist?" als komisches Wortspiel verlacht, denkt aber dieser Regisseur zum Glück nicht.
Hölderlin ist an dem Abend auf glückliche Weise beim Wort genommen, und zwischen Sprache, Klängen, Körpern und Raum entwickelt sich weit mehr als ein Probenbühnen-Experiment - da trügt das Bühnenbild.
(Anders als der Rezensent fand ich die Fähigkeit zu Schwerpunkt-, Rollen- und Tempoverlagerungen individuell wie kollektiv bewundernswert und vom Ensemble ausgeglichen, wenn auch nicht gleichförmig gezeigt. Die "gleichzeitige Vielfalt von Inhalten" [Chétouane] ergab hier eine lange, ernste Erzählung an einem großen Abend. Hoffentlich folgen weitere.)
Bisher konnte ich jedem Theaterbesuch etwas Positives abgewinnen, sei die Inszenierung noch so kühn und radikal, doch diese „Antigone“ ließ bei mir nur maßlose Enttäuschung zurück. Um die „Sinnlosigkeit des Daseins“ darzustellen bietet gerade das Repertoire des 20. Jahrhunderts einen reichen Fundus, die „Antigone“ halte ich indessen für denkbar ungeeignet. Das Stück handelt von „Konflikten, die heute nirgendwo mehr existieren“? Ich denke, dass sittliche Standhaftigkeit trotz der Gefahr an Leib und Leben im Zuge einer tyrannischen Gesetzgebung einen zeitlosen Wert besitzt, den klassischerweise aufzuführen auch heute noch lohnenswert, wenn nicht sogar notwendig ist. Wie gerne würde ich mich in die Gedanken von Regie und Dramaturgie hineinversetzen, um zu erahnen, was mit diesem possenhaften Mix aus spastischem Ausdruckstanz und offenbar gewollt dilettantischen Deklamationen erreicht werden sollte. Überdies ist eine Spiellänge von knapp 3 1/2 Stunden ohne Unterbrechung eine Zumutung, die sich kaum rechtfertigen lässt. Gehe ich falsch in der Annahme, dass es sich dabei um pure Berechnung handelte? Da man wusste, dass die Ränge nach der Pause leer sein würden? Aus Respekt vor den Schauspielern saß ich diesen erhobenen Stinkefinger gegen das Publikum aus, den Applaus musste ich jedoch verweigern – denn Applaus impliziert Zuspruch und Anerkennung. Wahrlich, ein „Trauerspiel“ im doppelten Wortsinn.
Ein Theaterexperiment, das seine Berechtigung hat.
Also sehr sehr interessant, eine ganz ungewöhnliche Antigone-Variation, wunderbare Schauspieler, die ein hervorragendes Team bilden. Die Sprache, die Bewegung, die Musik - eine herrliche Einheit. Klar, auch diesmal gingen wieder Zwei Drittel raus, darunter auch Schüler, die mit dem Zug offenbar nach Hause "aufs Land" mussten - aber eine Klasse blieb und sagte uns nachher, sie hätten es richtig toll gefunden, nicht so ein "Antik-Schmarrn". Siehe da! Da soll noch einer sagen, die Jugend sei doof. Doof waren eher die paar Erwachsenen, die unbedingt die Türen knallen lassen mussten, und einer rief sogar noch den Schauspielern in Reimform eine Schmährede zu. Großartig...
Übrigens gabs vor der Vorstellung eine kurze Erklärung zur Struktur des Abends und den Hinweis, man könne rein- und rausgehen, wenn man möchte. Man scheint aus den ersten Vorstellungen gelernt zu haben.
Andererseits, wer das alles hinter sich zu lassen vermag, dem sei eine unverstellte, unmittelbare und wieder unverkrampfte Rezeption empfohlen. Ich meine dies ausdrücklich hinsichtlich der häufig kritisierten Darstellungsphänomenen: gedehnte Wortdeklamationen, archaisierende Musikfragmentierungen, oder abstrahierende Ausdruckstänze sind dann kein Ärgernis mehr (in der Theatersprache nennt man das Verfremdung), sondern ihr Zusammenwirken und ihre Polyphonie verweisen auf ein Anderes, wenn sie sich offenbaren, wie so oft gezeigt, in der kosmisch-planetarischen Bühnenkonstellation, in die sich die Schauspieler immer wieder hineinbegeben. Das war wirklich einzigartig! Und genau dies hinterliess die nachhaltige künstlerische Erfahrung. Die graduelle Kürzung des Abends ist sicher eine spürbare Erleichterung für uns Zuschauer. Dagegen würde eine Pause die ästhetische Kontingenz wohl empfindlicher stören.
Und ich freue mich, dass immer mehr Zuschauer auch positive Erfahrungen in dieses zunächst sehr einseitige Forum herein bringen. Der Zeitung zum Trotz, die diese Regiearbeit nicht begriffen hat. Rote Karte für die Zeitung!
(Herrn Bocks Plädoyer ermuntert mich, meinen vom zweiten Besuch der Inszenierung noch verstärkten Eindruck kurz zu formulieren; nachzutragen
wäre außerdem noch - wollte man neben der Freiheit auch mal die Vielfalt der Presse loben - die sehr treffende Premierenrezension im Reutlinger
General-Anzeiger:
http://www.gea.de/nachrichten/kultur/annaeherung+an+eine+tragoedie.4060973.htm
- "(...) Ein Theaterabend, der das Publikum ernster nimmt als dieses sich selbst.")
Im Programmheft spricht der Regisseur vom "Zufall" - der Glücksfall, den er anstrebt, wäre noch eher die Intuition, in der eine Gruppe zusammenwirkt.
Tatsächlich trat sie in manchen Momenten der Stuttgarter Aufführung(en) auf den Plan, es gab diese Glücksmomente, aber das Regiekonzept überließ
offensichtlich und systematisch viele Entscheidungen dem Zufall und seinen Konsequenzen - oder dem glücklichen Geschick der Schauspieler selbst.
Sie wussten sich zu helfen, dank Hölderlins (auf offener Bühne so
gerufenem) "Text!", der wie eine unkürzbare musikalischen Partitur als Grundlage der Aufführung eines vielschichtigen Sprachkunstwerks diente.
Einer Art Partitur allerdings, die dazu selbst immer wieder hörbar gemacht, ja weitergeblättert werden musste - gilt doch in Chétouanes Erzählperspektive der Text selbst als das Drama, das Schicksal.
Erst nach wiederholtem Besuch, vier Abende später, lässt sich
rückschließen, wie viel in dieser Inszenierung offen und wie wenig festgelegt scheint. Bei manchen Aspekten (wie dem teils deutlich
gestrafften Sprechtempo) mochte man auch pragmatische
aufführungspraktische Strategien unterstellen. Ob und welche Varianten Verbesserungen bedeuten, zumal in einem letztlich (am Abend) selbstregulierenden System, wirkt jedoch weniger wichtig als die Erfahrung des radikal weiten Gesamtspielraums des Konzepts.
"Tragisch" erscheint - oder ironisch im höheren Sinne von Chétouanes "drama of being on stage as the first drama in theatre" -, dass die
fabelhafte Arbeit des Ensembles von einem Publikum, das durch
fortlaufende Selbstdezimierung verunsichert sowie durch Größe des Stoffes und dynamisch vielschichtigen Spannungsverläufe ermüdet sein
musste, am Ende kaum angemessen gewürdigt werden konnte.
Solche Inszenierung verlangt von ihren Schauspielern mehr, als sie ihnen danken kann, und der Schlussapplaus (der fünften Aufführung) beendete den offenen Abend und den diesmal abenteuerlich unterspielten Schluss allenfalls formal, als Konvention.
Eines der schönsten Lebens-Zeichen von Theater. Kein Ende.
Vom Theater als Institution allerdings verlangt dieses Theater auch etwas: es hat Anspruch auf seinen besonderen Schutz - mehr als manches
postkommunistische Breitbandspektakel. Und man mag es sowohl als Schwäche wie als utopische Kraft des Regiekonzepts sehen, dass es sich dem Repertoirebetrieb selbst widersetzt - im Programmheft bzw. hier
https://schauspielstuttgart.wordpress.com/2015/01/14/holderlins-sprache-antigones-begehren-und-die-aktualitat-der-tragodie/
klingt das Problem an.
Als Zuschauer, als sich ernst nehmendes Publikum wünscht man sich (wie dem Haus) die Fortsetzung mancher hier angebotenen Perspektiven, und
ihnen die Weite, die Zeit.
Ob übrigens die (s.o.) bei den Folgeaufführungen im Foyer beigepackte Vorausverteidigung (Angebot dramaturgischer Traumateams für Flüchtende!)
nicht eher zur erwähnten Verunsicherung des Publikums beitrug? Würden unentschlossene Darsteller einem unsicheren Bühnenschicksal ausgeliefert
sein?
Das Gegenteil war der Fall: mit Einsatz (Spielfreude, Kontakt, Dynamik, Intuition manchmal, Wut, Mut selbst zum musikalischen Risiko) trugen sie
den Abend überragend und um so überzeugender, je weniger abwartend Hölderlins Wort durchgereicht wurde.
(Das Publikum und seine Fluchten übrigens - und das trifft der Satz des Reutlinger Kritikers genau - bezeichnen dabei auch einen heiklen Punkt der auf diese Weise textbezogenen, fast immanenten Annäherung: es
gibt, einen einzigen Sonnen-Lichteffekt ausgenommen, kein Außen, nicht einmal "eingespielte" Musik: alles passiert mit dem Text, aber innerhalb des Theaters und mit dem Publikum. Das allein wäre Grund zur Sorge über sein Flüchten. Souveräner gehen damit die Schauspieler um.)
Bemerkenswert am Ende (und angesichts des offenen Konzepts geradezu paradox) die Geschlossenheit der Gesamthandlung, dadurch große Nähe zum Werk: die integrale, integre Textgestalt, die ununterbrochene Bühnenpräsenz des Ensembles und die wache Offenheit auch dem (sich
selbst verdichtenden) Publikum gegenüber ließen ein Gefühl subtiler Komplizenschaft im Geiste des Stoffes selbst entstehen, unabhängig von
dessen Glücks- oder Unglücksgehalt oder der genauen Deutung seiner
Botschaft.
Man musste das nicht mögen oder richtig finden, aber es wirkt nach.
Also sollte man es auch noch mal erwähnen. -
(Und jetzt würde ich hier gerne einen bleibenden Ton einkleben, eine Taste des entfernteren Klaviers, von der sich Caroline Junghanns gegen Ende der fünften Aufführung nicht trennen mochte: in dem Moment eine seltene Dissonanz - wie immer gab es zu wenige in der Musik -, doch auch die ganze Antigone.
Aber geht ja nicht.)
Neun junge SchauspielerInnen, drei Männer und sechs Frauen, stehen auf einer großen Bühne. In deren Mitte ein paar zusammengerückte Tische mit Papieren darauf, an den Wänden stehen verschiedene Musikinstrumente. Diese, wie die Garderobe der SchauspielerInnen, sehen aus, als wären sie nicht aus der vorderen Reihe der Kleider- bzw. Requisitenkammer entnommen, sie haben den Charme der Caritas-Kleiderverwertung.
Die Männer fühlen sich wohl etwas einsam, deswegen halten schon zwei gleich an Anfang mal Händchen. (Das war das ganz Aktuelle an dieser Inszenierung.)
Die Stimmung unter den SchauspielerInnen bleibt aber etwas distanziert, sie schwingen wie Atome im Raum, mitunter auch die Arme, treffen sich, sagen etwas, dann gehen sie weiter. Mal rennt einer durch den Raum, mal röhrt er dumpf. Sie tragen den historischen Text mitunter vor, als wären sie Maschinen, die elektronische Texte in Sprache umwandelt, aber den Sinn dessen, was sie da von sich geben, nicht verstehen. Man kennt das von fremdsprachigen Menschen, die Deutsch lernen, mit den Wörtern ihre Mühe haben, so dass sie auf die Satzmelodie nicht achten können. Das macht den ohnehin schwierigen Text nicht verständlicher. (Ich habe nichts verstanden.) Erschwerend kommt hinzu, dass sie nicht auf Rollen festgelegt zu sein schienen, also verschieden Rollen und Regieanweisungen des Theaterstückes von Sophokles vorlasen.
Das Ganze wirkt, als wären junge Leute für dieses Theaterstück engagiert geworden, aber sie sind etwas uninspiriert, erste Probe, der Regisseur ist leider nicht gekommen, lieb und lustlos, nur gelegentlich mit etwas bemühter Ekstase lesen/leiern sie ihren Text herunter. Warum sollte man 25 € bezahlen, um so etwas anzusehen?! Beckett, der in dieser Art Theater schon weiter war, scheint vergessen.
Am Anfang warnte mich ein Kollege, das Stück würde ca. 2,5 bis 3,5 Stunden dauern, ohne Pause, worauf ich mich bestürzt bei einer der Theatermitarbeiterinnen erkundigte. Sie meinte, das Stück entwickle sich auf der Bühne, deswegen wisse man nicht, wie lange es dauere, so zwischen 2,5 und 4 Stunden. Man könne aber jederzeit das Theater verlassen, um z.B. etwas zu trinken, aber man dürfe Getränke nicht wieder mit in den Theatersaal nehmen.
Ein Theaterstück also, das man jederzeit verlassen kann, aber auch wieder kommen, da nicht die Gefahr besteht, einen sinnhaft relevanten Part zu verpassen...
Im Stück gab es zwei Höhepunkte:
1. Nach einer gefühlten halben Stunde erinnerte ich mich mit aufkommender Panik, dass ich vergessen hatte, mein Handy auszuschalten. Was tun? Es ganz ausschalten, hätte die Abspannmelodie provoziert - unmöglich. Auch das Drücken auf die Stummtaste hätte keinen guten Eindruck gemacht, so als wäre ich unaufmerksam, dabei starrten die SchauspielerInnen mitunter ins Publikum als wollten sie uns gleich attackieren. Aber auch zu hoffen, dass mich niemand anruft, erzeugte mir Schweiß auf der Stirn. (Hier nichts zur Raum-Belüftung.) Ich entschied mich unter Aufbringung aller Energie für die Stummtaste. Aber immerhin erregte dieses kleine Abenteuer meine höchste Konzentration.
2. Auf einmal klingelte ein anderes Handy. Welche keineswegs heimliche Freude durchströmte mich, welche wohltuende Abwechslung, welche Schadensfreude ließ mich erzittern!
Vorsichtshalber stand der Mann mit der Mütze, der für das Stuttgarter Theaterelend verantwortlich ist, am Ausgang. Davon ließ sich aber ein Premierengast wie Herr E. Reuter nicht beeindrucken; er ging mit Begleitung als erster. In schönen Abständen gingen vereinzelt weitere Theaterfreunde. Wir gingen so nach einer einunddreiviertel Stunde, da war vermutlich die Hälfte des Textes durch.
In der Stuttgarter Zeitung wurde das Stuttgarter Schauspiel vor kurzem bilanziert, die Tonnenideologie des Intendanten wurde gelobt (Viel hilft viel). Ich meine das Gegenteil: Die massenhafte Abfertigung klassischer Literatur und Theaterstücke zeigen eine abschüssige Linie, in der die Stücke immer uninspirierter, sinnfreier und geistärmer werden. Vielleicht wie bei unser Regierung in Stuttgart und Baden-Württemberg: Der Charme des Anfangs ist vorbei, die Erwartungen sind enttäuscht, jetzt wurstelt man sich auf immer armseliger, formeller Weise weiter durch. Dass es so nicht weiter gehen soll, hat einer der ehemals Mächtigen, aber vielleicht noch Einflussreichen im Lande, mit seinem frühen Weggang deutlich gezeigt.