Das Elend der Jeansfabriken

von Thomas Rothschild

Stuttgart, 12. Januar 2019. Ein ebenso drastisches wie sinnfälliges Arrangement: Unten stehen, dicht gedrängt, die Arbeiter und stützen mit hochgereckten Armen das Obergeschoss, in dem die Reichen sich bequem eingerichtet haben, "zu ebener Erde und erster Stock." Das Bild hat sich im Theater ebenso etabliert wie in der politischen Propaganda. Oben aber steht der Fabrikant Dreißiger im goldfarbenen Anzug und klagt sein Leid in ein Mikrophon.

Der Begriff "Sozialdrama" wird heute fast nur noch ironisch verwendet. Als gäbe es die Armen nicht mehr, von deren Arbeit die Reichen leben. Der Maler und Sänger Arik Brauer hat kürzlich in einem Interview gesagt: "Alles, was sich der Mensch an Materiellem wünscht, ist im Überfluss vorhanden. Ein Bettler ist heute viel besser angezogen als ein mittelmäßig verdienender Mensch in den 30er-Jahren. Und er wohnt auch besser." Das stimmt wohl, ändert aber nichts an der Tatsache, dass es auch heute Bettler gibt und Menschen, die ausgebeutet werden.

die weber 560 fotograf thomas aurin uDie da oben, die da unten in "Die Weber" in Stuttgart. Auf die gereckten Fäuste werden Jeanshosen vom Schnürboden fallen © Thomas Aurin

Es ändert nichts an der Ungerechtigkeit einer Gesellschaft, deren Struktur sich seit 1844, dem Jahr der Handlung, und seit 1892, als Gerhart Hauptmann "Die Weber" veröffentlicht hat, nicht grundlegend gewandelt hat. Nach wie vor tragen jene zu ebener Erde den ersten Stock. Und die Analogie liegt auf der Hand: Was im 19. Jahrhundert die Industrialisierung, ist heute die Digitalisierung. Es bedarf keiner Computer anstelle der mechanischen Webstühle, um das begreiflich zu machen.

Auf Armut folgt Unglück

Georg Schmiedleitner, erfahren in der Inszenierung sozialkritischer Dramen, hat keine Hemmungen, dies in aller Deutlichkeit zu zeigen. Wie er am Burgtheater Nestroy entwienert hat, so hat er allerdings in Stuttgart Hauptmann das Schlesische ausgetrieben. Mit Mundart hat er hier wie dort nichts im Sinn. Der österreichische Regisseur tut alles, um Einfühlung zu verhindern. Er lässt eine Handvoll Schauspieler und knapp zwei Dutzend Statisten, die nicht am Webstuhl sitzen, sondern, stilisiert, sich häufende und sogar aus dem Schnürboden fallende Jeans produzieren, im Chor sprechen, Kernsätze wiederholen – "Wo einmal Armut ist, da kommt auch Unglück über Unglück" – und sogar Regieanweisungen deklamieren.

DieWeber 1 560 ThomasAurin uIhr Schurken all ihr Satansbrut: auf den Kleider-Bergen in Volker Hintermeiers Bühnenbild 
© Thomas Aurin

Diese Inszenierung hat wenig mit Naturalismus und umso mehr mit dem Agitprop der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zu tun. Die Arbeiter stehen breitbeinig da, entschlossen zum Kampf und selbstbewusst, ihre Gegner verkümmern zur Karikatur. Das Lied vom Blutgericht, das sich wie ein Leitmotiv durch das Stück zieht, zunächst gesprochen, dann gesungen, geht über in einen bedrohlichen tiefen Ton, der sich zu einem Akkord steigert. Der Satz von Karl Marx: "die materielle Gewalt muss gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“, formuliert just im Jahr des Weberaufstands, erfährt hier eine Paraphrase, wenn das Lied über die "Satansbrut" die Revolte vorweg nimmt. Das Lied ist eine politische Waffe, wie es Hauptmanns frühes Drama ist. Zwar hat der auf den Vorwurf, es sei eine sozialdemokratische Kampfschrift, erwidert, es sei vielmehr ein Appell an das Mitleid der Besitzenden. Aber Schmiedleitner ist offenkundig entschlossen, dies für eine Schutzbehauptung zu halten.

Zigarren für die Aufständischen

Wenn die Rebellion ausbricht, schwankt und kippt das Bühnenobergeschoss wie ein leckes Schiff. Auf den ambivalenten Schluss – just der alte Hilse, der jede Gewalt und somit die Revolte der Jungen ablehnt, wird durch einen Schuss getötet – lässt Georg Schmiedleitner eine kurze Pointe folgen: Dreißiger, die Verkörperung des Kapitals, reicht im Hintergrund dem Repräsentanten der Aufständischen eine Zigarre. Ob jene, die gemeint sind – die Korrumpierten und die Korrumpierenden –, sich am anhaltenden Applaus beteiligt haben?

Schmiedleitners Entscheidung gegen Einfühlung und Mitleid ist wohl nicht nach jedermanns Geschmack. Wenn man sich darauf einlässt, zeigt die Stuttgarter Aufführung eine überzeugende Möglichkeit, das Stück in die Gegenwart zu retten. Zugegeben, streckenweise erzeugt das Brüllen im Stakkato eine gewisse Monotonie. Dass das ganze Elend von den Fabriken kommt, wie Gottlieb verkündet, bleibt eine unbelegte Behauptung, wo die mechanischen Webstühle verabschiedet wurden.

Und wenig einleuchtend sind die Mehrfachbesetzungen, die sich weder einem zu kleinen Ensemble schulden, noch einer erkennbaren konzeptionellen Überlegung dienen. Der Verdacht drängt sich auf: es handelt sich um eine der zahlreichen Modeerscheinungen, die zu dem Eindruck beitragen, dass sich das Theater zwischen Klagenfurt und Kiel, zwischen Rostock und Bern immer mehr gleicht.

Die Weber
von Gerhart Hauptmann
Regie: Georg Schmiedleitner, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Su Bühler, Musik: Sebastian Weisner, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger, Chorleitung: Claudia Sendlinger.
Mit: Thomas Sarbacher, Peer Oscar Musinowski, Christiane Rossbach, Giovanni Funiati, Anne-Marie Lux, Michael Stiller, Sven Prietz, Jannik Mühlenweg, Reinhard Mahlberg, Jelena Kunz.
Premiere am 12. Januar 2019
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Mehr zu Hauptmanns "Die Weber": jüngst hat etwa Armin Petras das Stück am Schauspiel Köln inszeniert.

 

Kritikenrundschau

"Mit starken Bildern für Elend, Ausbeutung und Klassenkampf bringt Georg Schmiedleitner 'Die Weber' ins Stuttgarter Schauspielhaus. Trotzdem wäre mehr drin gewesen", schreibt Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (14.1.2019). Der Regisseur steuert mit starken, beeindruckenden, monumentalen Bildern aufs Thema der "Weber" zu: "Klassenunterschiede, Ausbeutung, Verelendung, Aufbegehren". Wohlgemerkt arbeite er mit Bildern, mit kräftigen szenischen Arrangements, "denn mit dem Text des naturalistischen Dramas hat er's nicht so". Auf Aktualisierungen verzichte die Regie und "setzt stattdessen auf etwas anderes: auf die Atmosphäre, die sich aus ihrem großen Bildertheater erhebt und suggeriert, dass der kommende Aufstand ein höchst ungemütliches Jüngstes Gericht werden wird". Fazit: "Selbst wenn im Hauptmann-Stoff mehr drin gewesen wäre. Sehenswert ist die Aufführung des gewesenen Aufstands trotzdem."

"Da das Regiekonzept darin besteht, den Einzelnen in der Masse aufgehen zu lassen und die Gut-Böse-Verhältnisse zu zeigen, ist die dramatische Spannung eher gering", schreibt Nicole Golombek in den Stuttgarter Nachrichten (14.1.2019). Was entschädige, ist der Installationscharakter des Abends. "Die Bühne von Volker Hintermeier schafft mit Licht und Nebel eine pathosgetränkte düstere Atmosphäre. Die Bühnenmaschinerie läuft auf Hochtouren." Und von Szene zu Szene formiere sich das blaue Jeansmeer neu, werde zur Arbeitsbank, zum Schlaginstrument, um gegen die Obrigkeit aufzumucken, türme sich auf zum Wohn-Berg.

 

Kommentare  
Die Weber, Stuttgart: schöne Bühne, und sonst?
Und genau daran krankt das Stück. Es ist beliebig. Wo die Möglichkeit des Mitleids fehlt, bleibt die Langeweile. Schoene Bühne, schoene Bilder. Und sonst?
Die Weber, Stuttgart: Chance vertan
Da muss ich meiner Vorrednerin Recht geben. Keine Identifikationsfigur auf keiner Seite. Das Premierenpublikum konnte sich getrost den Pelz an der Garderobe abholen.
Chance vertan.
Aber die Stuttgarter Zeitung wird sicher wieder loben, dass die 90 Minuten nicht überschritten wurden.
Weber, Stuttgart: Jeanswerbung
Schließe mich den Vorrednern an. Optisch eine Art morbider Jeanswerbeclip mit jungen, durchtrainierten Burschen, Hosenträger überm Sixpack, dazu klasse Pop-Performance. So weit, so schick. Trotzdem haben wir uns irgendwie gelangweilt. Ja, gut, die Reichen oben, die Armen unten, goldener Käfig, die Frau Dreißiger torkelt mit Glas, das Ganze gerät ins Schwanken und am Ende verbrüdern sich Ausbeuter und Revolutionär. Geschenkt. Keine neue Erkenntnis außer: Unser Staatstheater hat einfach Kohle ohne Ende, um das Elend pompös zu illustrieren.
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