Vor der Zeit 

7. Januar 2024. Das neue Stück von Simon Stephens erzählt vom Krebstod eines jungen Menschen und jenen, die sein Sterben mehr oder weniger zufällig begleiten. Es spielt in Stuttgart, wo es von Elmar Goerden jetzt auch uraufgeführt wurde: mit darstellerischen Highlights auf karger Bühne.

Von Verena Großkreutz

"Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau" © Björn Klein

7. Januar 2024. Christof ist ein quicklebendiger Sterbender. Der junge Mann tanzt, flirtet, disputiert, tollt oder gibt sich seiner Wut über seine tödliche Krankheit hin. So lebendig ist er aber nur in der Fantasie seiner ebenfalls noch sehr jungen Geliebten Nicola, die am Sterbebett des längst Verstummten wacht, wohlwissend, dass Christof in Kürze dem Bauchspeicheldrüsenkrebs erliegen wird. Von diesem Bett und dem Sterbenden ist nichts zu sehen auf der Bühne des Kammertheaters des Schauspiels Stuttgart, wo jetzt ein neues Stück von Simon Stephens mit dem verführerischen Titel "Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau" uraufgeführt wurde. Christof, von Felix Jordan mit Leichtigkeit und Charme gespielt, ist dementsprechend zwar körperlich präsent, aber eben nur als Hirngespinst. Und wenn er am Ende sterben wird, hüpft er einfach von der Bühne und ruft "Ich will mit dir tanzen." 

Bloß kein Naturalismus, bloß kein Sterbebett! mag sich Stephens gedacht haben, als er vorsichtshalber ins Textbuch hineinschrieb, bitte auf karger Bühne und ohne Requisiten zu spielen. Vielleicht, weil ihm bewusst wurde, dass Naturalismus die Schwäche seines neuen Stückes noch unterstreichen würde. Die Bühnenbildner:innen Silvia Merlo und Ulf Stengl haben Stephens’ Anweisungen ernstgenommen. Die Bühne ist ein dunkler, (fast) leerer Raum, in dem ein großes, dickes Metallrahmen-Rechteck hängt – als Sitzgelegenheit und Schaukel. Dahinter projiziert an die Wand: mal bewegte, mal starre Schwarzweißbilder von handschriftlichen Zitaten aus Stephens’ Text, Tauben, Schneeflocken. Der Regisseur Elmar Goerden setzt derweil auf Aktion. Alle laufen ständig hin und her, während sie reden. Und sitzen nur, wenn sie nicht spielen, am Rand der Bühne und beobachten.

Krebstod eines jungen Menschen

Stephens ist ja hierzulande sehr erfolgreich mit seinen mal mehr mal weniger abgründigen oder sozialkritischen well-made plays. Dass er sich gerne ungemütlichen Themen annimmt, zeigte sich auch an diesem Abend: Der Krebstod eines jungen Menschenf dürfte auf jeden Fall dazugehören.

Jeder stirbt für sich allein: Camille Dombrowsky (Nicola) und Felix Jordan (Christof) © Björn Klein

Aber wäre da nicht Camille Dombrowsky als Nicola, wäre das Tod-im-jungen-Alter-Thema wohl komplett der Belanglosigkeit anheimgefallen. Dombrowsky hält den Abend zusammen. Spielt das rührend natürlich: die Verzweiflung und Wut über das bevorstehende viel zu frühe Ende ihres Geliebten, ihre von Schmerz und Angst erfüllte Ruppigkeit, ihre Fürsorge, ihre tiefe Traurigkeit, ihre Liebe. Und selbst Sätze wie "Dein Schwanz ist mein Schwanz. Meine Möse ist deine Möse. Du bist Nicola. Ich bin Christof", wirken, wenn sie sie spricht, nicht peinlich, sondern als wäre gar nichts anderes zu sagen. 

Die Probleme der Anderen

Außerhalb der Rahmenhandlung des Sterbens, die ein bisschen an qualitätsvolles Jugendtheater zum Thema Tod erinnert, lässt Stephens noch weitere acht Personen auftreten, die jeweils als Duo agieren, aber nur zum Teil etwas mit dem sterbenden Christof zu tun haben. Alle sind sie neben der Spur und haben ihr Päckchen zu tragen. Und fast alle entpuppen sich schon bald als sehr selbstmitleidig und einsam: So etwa die alternativ-punkige, ziemlich aufgedrehte beste Freundin Christofs (Teresa Annina Korfmacher), die eine sehr rührselige Trauer über Christofs bevorstehendes Ableben an den Tag legt und nebenher noch die Flucht ihrer Lebenspartnerin nach Berlin zu verkraften hat. Das Stück soll übrigens in Stuttgart spielen. 

DunklesBlau2 1200 BjoernKleinAngehörige mit eigenen Problemen: Tim Bülow (Benjamin), Felix Jordan (Christof), Camille Dombrowsky (Nicola), Matthias Leja (Matheus), Gábor Biedermann (Lukas) © Björn Klein

Oder Marie (Therese Dörr), deren vierjähriger Sohn einst bei einem Wohnungsbrand ums Leben kam und die jetzt sachte mit dem "Zauberberg"-Leser und Religionsphilosophie-Studi Tomas (Simon Löcker) anbandelt. Oder Christofs Vater Walter (Klaus Rodewald), Porsche-Händler, der seine Frau bei einem Autounfall verloren hat und schon seit langem in Depressionen versackt. Außerdem Christofs Onkel Matheus (Matthias Leja), der mehrere Jahre wegen Delikten in Sachen Kinderpornographie im Knast gesessen hat und nun unbedingt noch einmal seinen sterbenden Neffen sehen will – Motivation auch hier unklar.

Herzerfrischende Liebesbedürftigkeit

Leja spielt Matheus allerdings wirklich gut: Zerrüttet von der Haft, dünnhäutig, unsicher, wirr, auch unberechenbar – und unbelehrbar. An ihn knüpft sich wiederum die Rolle des Kommissars Lukas (Gábor Biedermann), den der Kontaktabbruch seiner Tochter quält, der aber als Zielperson seines kommunikationsfreudigen Nachbarn Teil einer komödiantischen Glanzleistung werden wird: Boris Burgstaller – mit Kurzhaar-Minipli und in schickem fliederfarbenem Anzug – wanzt sich recht ordentlich an den brummeligen Polizeibeamten an, und das mit lustig-detaillierter Übergriffsfreude: Zieht unauffällig den Teebeutel aus der Tasse seines Gegenübers, der dort seines Erachtens wohl schon viel zu lange drinhängt. Später hebelt er ganz nebenbei das Glas Rotwein aus dessen Hand, um selbst daran zu nippen. Er tut das mit einer so herzerfrischenden Liebesbedürftigkeit, dass der einen oder anderen im Publikum ein gerührtes "Oh!" [im Sinne von: voll süß!] entfährt. Aber: Was hat das bloß mit der eigentlichen Geschichte zu tun? 

"In seinem psychologischen Beziehungsdrama" erzähle Simon Stephens "von familiären Tragödien vor dem Hintergrund des Klimawandels und generationsübergreifender Konflikte", so steht’s in der Ankündigung. Davon
ist an diesem Abend nur im homöopathischen Sinne etwas zu erkennen. Stattdessen erlebt man ein zwar gut gespieltes, aber auseinanderfallendes Episoden-Theater, das eine Plattitüde an die andere reiht. "Was mit diesem Planeten passieren wird, ist absolut unvorstellbar", äußert etwa Christof, "Das Klima ist kaputt. Die Temperatur außer Kontrolle. Die ganze Welt wird brennen. Ich bin froh, dass ich hier rauskomme, ehe ich mir den Scheiß anschauen muss." 

Ein dunkles, dunkles, dunkles Blau
von Simon Stephens
Deutsch von Barbara Christ
Uraufführung
Regie: Elmar Goerden, Bühne: Silvia Merlo und Ulf Stengl, Kostüme: Lydia Kirchleitner, Video: Ulf Stengl, Licht: Sebastian Isbert, Dramaturgie: Ingoh Brux.
Mit: Felix Jordan, Camille Dombrowsky, Therese Dörr, Simon Löcker, Klaus Rodewald, Matthias Leja, Teresa Annina Korfmacher, Tim Bülow, Gábor Biedermann, Boris Burgstaller.
Premiere am 6. Januar 2024
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

Kritikenrundschau 

"Goerdens unaufgeregte Inszenierung gibt auch den Nebenfiguren mit ihren Träumen und Traumata viel Raum", schreibt Otto Paul Burkhardt in der Südwest Presse (8.1.2024).  Der Regisseur und Simon Stephens seien "ein Dream Team" und es gehe an dem Abend zwar "um den Tod, aber auch um Unendlichkeit und Hoffnung". Zwar gerieten gelegentlich "Grenzen zum Sozialkitsch ins Fließen", aber "Goerdens lebensweise, anrührende Regie" belasse "all diesen Verletzten ihre Würde".

Regisseur Elmar Goerden bestätige und verstärkte die Botschaft des Stücks, die "deutlich versöhnlicher ist als gemeinhin in der Kunst", so Nicole Golombek in der Stuttgarter Zeitung (8.1.2024). Sie laute: "Leute, das Leben ist doch wüst genug, seid bitte nett zueinander!" Auch manch Beziehungskonstellation, "die bei der Lektüre eher uninspiriert wirkte", werde "durch Regie und Darsteller zu heiterem Leben erweckt". Zu den "anrührendsten Szenen des Abends" gehört für die Kritikerin zudem der Versuch Camille Dombrowskys, "die Trauer wegzutanzen".

"Aus manchen Dialogen ergeben sich keine überzeugenden Figuren, was zu kleinen Längen führt, auch weil sich Goerden bei der Uraufführung eng an den Text gehalten hat", findet Grete Goetze in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (9.1.2024) Andere Szenen aber träfen genau. "So wirkt der Tod in diesem Ensemblestück nicht ganz schwarz, sondern wie etwas, das man gemeinsam begehen kann und wobei man, wenn man Lust darauf hat, auch eine verspiegelte Sonnenbrille tragen kann."

Im Freitag (11.1.2024) ist Björn Hayer sehr angetan von Stephens' "schonungslos naturalistischen Drama über Tod und Abschied" und schreibt über die Inszenierung: "Elmar Goerden, der sich viel Zeit lässt, um die filigrane Entwicklung der Figuren darzustellen, setzt mit kurzen Fluchten aus dem Alltag bemerkenswerte Akzente. Sie erzeugen Dynamik, wo allzu rasch eine lähmende Tragik triumphieren könnte." Als Zuschauer*in werde man in das Geschehen integriert, "weil wir uns letztlich immer unter den gerade nicht spielenden, stets am Rande sitzenden Protagonist:innen befinden", so Hayer. "Auf diese Weise schafft das Schauspiel Stuttgart für die Dauer der Aufführung eine Gesellschaft des empathischen Zuhörens. Und was wäre in Zeiten zunehmender Konfrontationen und sich abschottender Echokammern wertvoller?"

"Das Stück ist eine Feier des Lebens in Moll, egal, ob Gott eine Lüge ist oder nicht", schreibt Roland Müller in der Zeit (11.1.2024). "Die Regie setzt Stephens’ philosophische Expeditionen durch die Stadt- und Seelenlandschaft kongenial um. (...) Goerden und Stephens, Brüder im Geiste, können den Herrn zumindest im Theater ersetzen. Sie sind exzellente Zuhörer."

Kommentare  
Dunkles Blau, Stuttgart: Begeisterung
Stephens/Goerden best match ever! What a show!
Dunkles Blau, Stuttgart: Dream Team
Da kann ich nur zustimmen. Absolutes Dream Team (siehe Kritik im „Freitag“!)!
Dunkles Blau, Stuttgart: Ungleich dankbar
Am Schluss ist man (mit) sich etwas unschlüssig, ob Stephens' Duettfolge (oder Reigen) dem Anspruch der nicht ganz kleinen und nicht bloß privaten Themen gewachsen ist.

Liegt es an der Inszenierung? Musikalisch ist die Sache - obwohl der Text Anregungen zu liefern scheint - wenig elaboriert. Kein Vergleich etwa zu Goerdens musikalisch geradezu veredelten "Wildente" von 2014 (Mannheim) bzw. 2019 (Stuttgart): hier beim Blau gibt es nur lieblose Zuspiele zum Tanzzweck, und Schuberts "Winterreise" wird ebenso bewusst ignoriert wie Chopins Nocturnes, trotz expliziter Referenzen im Stücktext.

Nicht alle Parts scheinen darstellerisch gleich dankbar, ein paar Tempowechsel und Denkpausen mehr hätten das textlastige Dialogprinzip fruchtbar konterkariert, trotzdem bieten besonders Therese Dörr, Matthias Leja und Camille Dombrowsky herausragendes Kammerspiel und machen den Abend sehenswert.
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