Iphigenie auf Tauris - Theater Ulm
Ist sie im Recht?
1. März 2024. Was sagt uns heute noch Johann Wolfgang Goethes Klassik-Drama um den Konflikt zwischen Pflicht und Neigung? Kann man, sagen wir, Putin mit dem Beispiel eines Thoas der Goethe-Zeit und den für diese geltenden Normen belehren? In Ulm hat jetzt Jessica Sonia Cremer eine Interpretation vorgelegt.
Von Thomas Rothschild
1. März 2024. Ulm. Zur Erinnerung: Dort steht das Theater, an dem Größen wie Kurt Hübner, Peter Zadek, Wilfried Minks oder Angela Denoke ihre Karriere wesentlich befördert haben.
Die Hoffnung auf Fortschritt ist ruiniert
Regie führt bei der jüngsten Premiere Jessica Sonia Cremer, die schon am früheren Wirkungsort des derzeitigen Ulmer Intendanten, in Detmold, zu den viel beschäftigten Mitarbeiterinnen zählte. In Wien hat Ulrich Rasche sechs Tage zuvor "Iphigenie auf Tauris" um einen Chor erweitert und damit dem antiken Theater, dem Goethe ja den Stoff entnommen hat (heute würde man sagen: dessen durch Euripides überlieferten Stoff er im Geiste seiner Gegenwart überschrieben hat), sowie mit dem Ritual, auf Kosten einer Psychologisierung, angenähert.
Jessica Sonia Cremer bleibt näher am 18. Jahrhundert. Inzwischen sind freilich auch mehr als 200 Jahre vergangen. Benötigen wir heute den Konflikt zwischen Iphigenie und dem König der Taurier, um zu der Einsicht zu gelangen, dass Menschlichkeit besser ist als Strenge, Großmut besser als das blutige Gesetz? Kann man Putin mit dem Beispiel eines Thoas der Goethe-Zeit oder gar der Antike und den für diese geltenden Normen belehren? Der Dramaturg Christian Katzschmann schreibt in seinem kenntnisreichen, fast das ganze Programmheft füllenden Essay über die Stoffgeschichte zutreffend: "die eingeschriebene Hoffnung auf sittlichen Fortschritt ist durch die durchgängige Chronik der Kriege und Massenverbrechen bis in unsere Tage längst ruiniert." Was ist es also, was eine Aufführung jenes Dramas rechtfertigt, das als Höhepunkt der deutschen Klassik gilt und immer noch, mit oder ohne Chor, Euripides näher scheint als, sagen wir, Werner Schwab oder Sarah Kane?
Ist Iphigenie im Recht, weil sie eine Frau oder weil sie eine Griechin ist?
Die Konstellation von Goethes Drama – eine idealisierte Frau gegen vier Männer – bietet sich für eine feministische Lesart an: Iphigenie ist die kluge, selbstbewusste Frau, die sich zwischen Vernunft und Neigung entscheiden muss: Heiratet sie den Taurer-König Thoas, um als Königin Menschenopfer verhindern und damit auch ihren Bruder Orest und dessen Freund Pylades zu retten? Oder flieht sie zurück nach Griechenland, um frei zu sein?
Jessica Sonia Cremer unterläuft diese Möglichkeit jedoch, indem sie aus Arkas (Emma Lotta Wegner), dem Vertrauten des taurischen "Barbaren" Thoas, eine Frau macht, die alsbald zwei Messer zückt. Ist das ein Zugeständnis an jene Zuschauerinnen, die ein Stück danach beurteilen, wie viele Frauen auf der Bühne stehen, oder will sie uns sagen, dass Barbarei unabhängig vom Geschlecht vorkommt? Ist Iphigenie im Recht, weil sie eine Frau oder weil sie eine Griechin ist? Ohnehin: Ob Iphigenie als Modell taugt in einer Zeit, in der nicht eine Bertha von Suttner, eine Marie Curie oder eine Clara Zetkin die Schlagzeilen füllt, sondern Giorgia Meloni, Marine Le Pen oder Alice Weidel, sollte besser nicht gefragt werden.
Andy Warhol im Gehrock
Ihren Einleitungsmonolog singt Iphigenie (Stefanie Schwab) zu stampfenden Poptönen. Das ist dann weder Antike, noch 18. Jahrhundert. Und auch das Ulmer Tauris, mit dem nach einer geläufigen Interpretation die heutige Krim gemeint ist, jene Halbinsel also, auf die im Laufe der Geschichte seit den Taurern unter anderem schon die Griechen, die Skythen, die Mongolen, die Osmanen, die Russen und die Ukrainer Anspruch erhoben haben, ist mit keiner vertrauten geographischen Realität in Verbindung zu bringen. Zu sehen sind alle fünf Akte lang drei hintereinander gestaffelte hohe Bögen, eine Wendeltreppe, drei Barhocker, eine Sitzbank, ein mickriger Baum, schäbige Lampen.
Thoas (Stephan Clemens) tritt in einem grün gemusterten Anzug und mit Goldkettchen auf: ein Playboy of the Eastern World. Er ist weder ein Tyrann, noch ein edler Wilder, sondern eher eine unfreiwillig komische Figur, auf die Iphigenie in Körperhaltung und im Tonfall ziemlich gouvernantenhaft einredet. Am Ende darf auch er kurz zu dröhnenden Bässen singen.
Orest (Vincent Furrer) wiederum, begleitet von seinem Freund Pylades (Samson Fischer) sieht aus wie ein Andy Warhol im Gehrock, der, verfolgt von seinem Schuldgefühl, auch in "Metropolis" oder dem "Cabinet des Dr. Caligari" keine schlechte Figur machte.
Was ist es also, was eine Aufführung dieses Dramas rechtfertigt? Darauf erhält man in Ulm keine triftige Antwort.
Iphigenie auf Tauris
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Jessica Sonia Cremer, Ausstattung: Petra Mollérus, Licht: Kai Pflüger, Musik & Sounddesign: Patrick Kuhn, Dramaturgie: Dr. Christian Katzschmann.
Mit: Stefanie Schwab, Stephan Clemens, Vincent Furrer, Samson Fischer, Emma Lotta Wegner.
Premiere am 29. Februar 2024
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.theater-ulm.de
Kritikenrundschau
Die Titelfigur sei hier "wie eine Androidin" angelegt. "Das ist ein eigenwilliger, aber einleuchtender Zugriff" und Schauspielerin Stefanie Schwab "hält die androidische Sprödheit über die ganze Dauer wunderbar durch", schreibt Marcus Golling in der Südwest Presse (2.3.2024). "Zum Lieblingsstück taugt dieser Klassiker trotz aller Bemühungen nicht, dafür ist dieser Goethe einfach zu steif, dafür sind die Konflikte zu alltagsfern. Dennoch: ein lohnender Theaterabend, der mit einem Knalleffekt endet – den hätte es gar nicht gebraucht. Das Publikum jedenfalls belohnt Ensemble und Regie mit einem sehr freundlichen Applaus."
"Im Theater Ulm war das große Haus zur Premiere zu etwa zwei Dritteln gefüllt, nach der Pause lichteten sich die Reihen deutlich. Woran das liegen mag? Sitzt dem Publikum die schulische Beschäftigung mit der so reinen mythologischen Figur im Nacken?", fragt Dagmar Hub von der Augsburger Allgemeinen (2.3.2024). Regisseurin Jessica Sonia Cremer akzentuiere "Aspekte des Stoffes, die Bezug zum Heute haben: die Entschlossenheit, dem eigenen Herzen und nicht dem Erwartungsdruck zu folgen, auch wenn es persönliche Nachteile bringen kann." Oder die Frage, ob ein Exil zur Heimat werden kann. Die Inszenierung schaffe Abstände und Statik zwischen den Figuren, die sie "distanziert und emotionsarm" wirken ließen.
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