Eine schrecklich unnette Familie

18. März 2023. Wie inszeniert man ein Stück über sämtliche Probleme und Fehlleistungen der Menschheit? Sebastian Schug holt mit seiner Thornton-Wilder-Inszenierung alles aus dem Theater heraus, was es zu bieten hat. Sogar ein defäkierendes Mammut. 

Von Andreas Thamm

"Wir sind noch einmal davongekommen" am ETA Hoffmann Theater Bamberg © Martin Kaufhold

18. März 2023. Gleich am Anfang geht alles schief. Ein Leuchter explodiert. Das cartoonhafte Kulissenhaus fällt fast über dem Hausmädchen Sabina zusammen. Einer hört anscheinend seinen Einsatz nicht. Mr. Fitzpatrick mit Schlingensief-Frisur und Retro-Headset eilt hinter die Bühne, und schon früh tritt Alina Rank aus ihrer Sabina-Rolle und stöhnt: "Gott, ich hasse dieses Stück. Lauter Schwierigkeiten, die die Menschheit zu bewältigen hatte."

So kann man das sagen. Und so kann man das beschreiben und hat schon viel von dem verstanden, was Thornton Wilders 1942 uraufgeführtes Drama "Wir sind noch einmal davongekommen" ist: Ein Stück über alle Schwierigkeiten der Menschheit, über Krieg und Frieden, Zerstörung und Schöpfung, die ewigen Dualismen des Daseins, dessen Fassade ständig bröckelt. Denn das Stück, das wir sehen – und so ist es geschrieben –, muss eigentlich erst noch zu Ende geprobt werden.

Von Mammuts und Menschen

Sebastian Schug nimmt sich für das Bamberger ETA Hoffmann Theater diese Pulitzerpreis-prämierte Vorlage – mit allem, was sie anbietet und einfordert –, und inszeniert mit geradezu verschwenderischer Lust. "Wir sind noch einmal davongekommen" soll einmal alles aussagen über die Menschheit und alles zeigen, was Theater sein kann. Ein großes Risiko, ein großer Spagat, viele potenzielle Abgründe, über die die Inszenierung, so viel sei verraten, mit einer beeindruckenden Selbstverständlichkeit hinüberfedert.

Die Familie Antrobus also, für die Sabina arbeitet, scheint eine der Zeit enthobene zu sein. Mr. George Antrobus wird aus dem Büro zurückerwartet, wo er das Alphabet erfindet und das Einmaleins. Im Garten defäkiert ein Mammut. Das ist der schlingensiefige Daniel Seniuk immer dann, wenn er sich zwei ganz herrlich billomäßige Papprohre unter die Nase hält und in ein Horn trötet.

Noch einmal davongekommen 2 MartinKaufholdDas Theater als Welt und umgekehrt: Bühnenbildnerin Nico Zielke schafft stets neue Räume © Martin Kaufhold

Und draußen ist der kälteste Tag des Jahres, die Hunde kleben an der Straße fest, im August! Immer, wenn jemand die Tür des Häuschens öffnet, müssen sie drinnen ihre Kleidung wedeln, des kalten Luftzugs wegen. Es lohnt sich, Details wie dieses – diese feinen Ideen der Inszenierung – aufzusaugen, so man sie denn mitbekommt, denn die Geschwindigkeit der Absurditäten ist rasant.

Dann gibt es noch diesen Sohn namens Henry, besetzt mit dem ältesten Ensemblemitglied Stephan Ullrich. Wobei: Eigentlich waren da wohl mal zwei, und eigentlich heißt er auch nicht Henry, sondern Kain. Ein Name, den er zum Schutz ablegen musste, nachdem das mit seinem Bruder passiert war. Henry kann es nicht lassen, es ist in ihm, und immer wieder heißt es, er habe schon wieder mit einem Stein geworfen und ein anderes Kind sei mutmaßlich umgekommen. Der reine Trieb, hineingepflanzt wie ein Stachel in seine Familie. Wilder schrieb das Stück "The Skin Of Our Teeth" unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges und verdeutlichte durch seine Kunstgriffe der Überzeitlichkeit die ewigen Kreisläufe der Gewalt, aus denen der Mensch nie zu entrinnen schafft.

Windschiefes Spielzeug

Der zweite Akt spielt in Atlantic City, was zunächst einmal bedeutet, dass sich Palmen von der Decke senken. Ein Genuss, auf die immer nächste Idee der Bühnenbildnerin Nico Zielke zu warten, die der Inszenierung das genau passende Maß an Klimbim, Geleucht und windschiefem Spielzeug bauen ließ. Florian Walter sitzt als trocken-zynische Wahrsagerin in einer Kabine, die über die Bühne geschoben wird. Sabina ist jetzt eine verführerische Schönheitskönigin, die in einem Tennisschiedsrichter-Stuhl sitzt, als Mr. Antrobus seinen Kopf in ihrem Schoß versenkt, dann singt sie mit Mrs. Antrobus ein ernsthaft anrührendes Duett von "Here Comes The Rain Again" von den Eurythmics, und irgendwo hat Henry schon wieder mit einem Stein …

Noch einmal davongekommen 3 MartinKaufholdKein Entrinnen aus den Kreisläufen der Gewalt: Das Bamberger Ensemble in Schugs Regie © Martin Kaufhold

Im dritten Akt dämpft sich der Wahnsinn etwas ab, und Regisseur Schug arbeitet eine große Stärke des Abends noch mehr heraus: Die im besten Sinne aufwühlenden Momente, wenn alles komisch ist und wie durch eine Membran die Ernsthaftigkeit des Menschheitsdramas durchdringt. Henry und sein Vater kommen aus dem Krieg heim. Einer ist blutbesudelter als der andere. Henry ist der Feind, der zerstörerische Egoismus, der glaubt, sich alles nehmen zu können, sein Vater schafft es nicht, ihn zu erschießen. Und so ringen sie miteinander, in Zeitlupe, während ein süßer Choral anschwillt, und alles ist ganz ungreifbar seltsam und berührend, ein kaltes Gelächter am Ende der Welt.

Neue Währung: Brühwürfel

Das komplette Ensemble, angeführt von Sabina, Alina Rank, und Mr. Antrobus, Eric Wehlan, spielt wie angestachelt oder selbst inspiriert von einer inspirierten Regie. Die Übergänge zwischen der Geschichte und dem Aus-der-Geschichte-Treten fließen, und irgendwie gelingt es, dass Wilders ernste Botschaften nie verschüttgehen unter der Fülle an Klamauk und Gags. Zum Beispiel: Müssen Brühwürfel nach dem Krieg rechtmäßig der Behörde gegeben werden, die für eine gerechte Verteilung sorgt, oder hat jetzt eigentlich jeder das Recht, zunächst sich selbst am Besitz dieser neuen Währung zu erfreuen? Darauf läuft es doch hinaus.

Sebastian Schug ist in Bamberg ein Abend gelungen, der, weil er das Maß der Überforderung nicht ausreizt, am Ende zwar viele Impulse pflanzt, aber das Publikum nicht aus der Wohlfühlzone treibt. Ein gutes Timing für das ETA Hoffmann Theater, um das – wegen der Diskussionen um die anstehende Verlängerung des Vertrags der Intendantin Sibylle Broll-Pape – Unruhe aufgekommen war. Das sollte, müsste ein Publikumserfolg werden.

 

Wir sind noch einmal davongekommen
von Thornton Wilder in der Übersetzung von Barbara Christ
Regie: Sebastian Schug, Bühne und Kostüme: Nico Zielke, Live-Musik: Daniel Seniuk, Dramaturgie: Armin Breidenbach, Regieassistenz und Abendspielleitung: Marlon Otte, Ausstattungsassistenz: Anaiz Buzduga.
Mit: Eric Wehlan, Barbara Wurster, Stephan Ullrich, Alina Rank, Florian Walter, Daniel Seniuk.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.theater.bamberg.de

Kritikenrundschau

"Der Versuchung zur Zeitgenossenschaft gibt Regisseur Sebastian Schug allenfalls in homöopathischen Dosen nach", schreibt Christoph Hägele im Fränkischen Tag (online 18.3.23, €). Für diese "Bescheidenheit" müsse man dem Regisseur "dankbar sein", denn "mehr Aktualisierungen" hätten unter anderem bedeutet, "dem Stück seinen ins Überzeitliche gespannten Geltungsanspruch zu rauben", argumentiert der Kritiker. Aus einem "groß aufspielenden Ensemble" rage an diesem Abend Alina Rank (in der Rolle der Sabina) "um eine Nuance hervor", was auch daran liege, dass ihre Figur das Publikum einlade, sich mit ihr zu identifizieren.

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