Der stille unruhige Fluss

16. April 2023. Zwei Schwestern, zwei Lebenswege: Die eine hält am Traditionsmodell Familie fest, die andere kämpft als Netzfeministin gegen das Patriarchat. Anna Gschnitzer spürt in ihrem Stück über gewaltvolle Familienstrukturen den Beschädigungen ausnahmslos aller Figuren nach, Alexander Nerlichs Inszenierung erwischt das Publikum mit Wucht.

Von Christian Muggenthaler

Anna Gschnitzers "Wasser" in der Regie von Alexander Nerlich am Theater Ingolstadt © Ludwig Olah

16. April 2023. Das scheiternde Familienfest ist ja nun kein ganz so neues Rangiergleis des dramatischen Betriebes mehr – und dennoch immer wieder gut nutzbar für eine bestimmte Form des Erzählens: Weil hier so ein wunderbarer, großer, gemeinsamer Summenstrich gezogen werden kann unter Einzelbiografien, unter all dem Unglück und den Verwundungen und Verwünschungen. Außerdem ändert sich das Genre mit der zunehmenden Aufarbeitung psychischer Daseinshintergründe im 21. Jahrhundert – und mit der fortschreitenden Demaskierung des Patriarchats.

Latente Unterdrückungsstrukturen

In Anna Gschnitzers Stück "Wasser", das jetzt am Stadttheater Ingolstadt uraufgeführt wurde, basiert das gründliche In-die-Hosen-Gehen der geplanten Gemeinsamkeit zudem auf großartigen Tiefenbohrungen in seelischen Kausalitäten und Vorgeschichten. Die Autorin schafft es mit ihrem Text ebenso wie der Regisseur Alexander Nerlich mit seiner Inszenierung, das mit Gewalt infizierte patriarchale System in all seiner Subtilität und zuneigungszersetzenden Macht zu zeigen. Hier wird die Erfahrung einer kompletten Schutzlosigkeit vor Übergriffen zum Ausdruck – als Gegenmodell zum tradierten Bild der Familie als Hort von Geborgenheit. Wie Wasser sickern latente Unterdrückungsstrukturen in alle Beziehungen ein.

Wasser 02 805 Ludwig Olah uWellen der Erinnerung: Das tolle Ingolstädter Ensemble mit Judith Nebel (vorn) sowie Ingrid Cannonier, Jan Gebauer, Sarah Horak und Victoria Voss (hinten v. l.) © Ludwig Olah 

Kris und Jana sind die Töchter des Ehepaars Maria und Georg; die Ehe zerbricht, weil der Vater an seiner tradierten Rolle scheitert: Er kann sie nur noch mit Gewalt ausfüllen. Maria lernt später als Altenpflegerin den Gesamtschullehrer Wolfgang kennen, der sie "Spatz" nennt und dessen Zärtlichkeiten mit einem andauernden Überwölbungsgestus gepaart sind.

Die Schwestern reagieren sehr unterschiedlich auf ihre frühen traumatisierenden Erfahrungen: Die eine will das Lebensmodell Familie auf Biegen und Brechen mit ihrem Mann Manuel wahr werden lassen – der indes selbst beschädigt ist durch seiner dominante Mutter Isabel und schreckliche Internatserfahrungen. Die andere Schwester ist als Künstlerin, Netzaktivistin und Feministin den patriarchalen Strukturen auf der Spur, die sie am eigenen Leib erlebt hat. Bei einer geplanten Taufzeremonie für Janas und Manuels Kind eskaliert die Situation.

Alles kommt aus dem Wasser

Anna Gschnitzers Text ist voll rascher Dynamik, legt zupackend die Zusammenhänge offen, ist sehr präzise und nie überzogen oder überzeichnend. Mit wenigen Strichen stellt die Autorin heraus, wie in einem zerstörerischen System ausnahmslos alle unter diesen Zerstörungen leiden. Nie senkt die Autorin den Daumen, jede einzelne Figur erfährt Gerechtigkeit, weil es vorrangig um ihre jeweiligen Prägungen geht. Die Schauspielerinnen und Schauspieler versehen ihre Rollen mit einer Aura des Verwundetseins: mal wieder eine – in Ingolstadt traditionelle – großartige Ensembleleistung. Zudem spielt der Text seine im Titel steckende Metaphernvielfalt – "Wasser" – gelungen aus: Das Fest findet an einem See statt, der Vater schenkt den Kindern ein Aquarium und zerstört es wieder. Aus dem Wasser kommt alles, und in ihm ist alles, heißt es in einer kurzen, verzweifelten Rede Janas.

Zappelnde Fische

Die Regie nimmt diese Metaphernvielfalt clever auf und setzt sie auf Thea Hoffmann-Axthelms Bühne, die mal See ist und mal Steg, mal mit Lichteffekten Wellengefunkel herstellt und mal ein Bächlein fließen lässt, hervorragend um. Die Schauspielerinnen und Schauspieler sind immer mal wieder auch Badende, zappelnde Fische, bewegen sich in Wellen, choreografiert von Zoe Gyssler.

Überhaupt prägt die Welle den inszenatorischen Rhythmus: In Wellen der Erinnerung wird auch die Geschichte erzählt, schnell wandeln sich dabei die Kostüme von Zana Bosnjak. Vor allem erweitert aber auch Malte Preuss' Klang- und Musikkonzept den Raum: Es unterlegt das Geschehen mit einem Sound von Wasserplatschen und -Rauschen oder auch mit einer Tonspur, auf der die Handlung via Mikrofon kommentiert wird – und erwischt das Publikum auf diese Art selbst mit der Wucht einer Meereswelle.

Wasser
von Anna Gschnitzer
Regie: Alexander Nerlich, Musik/Sounddesign: Malte Preuss, Bühne: Thea Hoffmann-Axthelm, Kostüme: Zana Bosnjak, Choreografie: Zoe Gyssler, Dramaturgie: Daniel Theuring.
Mit: Judith Nebel, Sarah Horak, Victoria Voss, Ralf Lichtenberg, Jan Gebauer, Matthias Zajgier, Ingrid Cannonier.
Premiere am 15. April 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theater.ingolstadt.de

 

Kritikenrundschau 

Auch Christine Dössel merkt in der Süddeutschen Zeitung (17.4.2023) an, dass Familienzusammenkünfte ein beliebtes Sujet für Film und Theater sei. Anna Gschnitzer erzähle dabei jedoch "eine soghafte Geschichte, die aus der Polyfonie heraus entsteht". Viel Lob von Christine Dössel mit dem Fazit: "Es ist ein Theaterabend, der flutscht und einen starken Eindruck hinterlässt." 

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