Vom Hölzchen aufs Stöckchen

21. Januar 2024. Thomas Manns "Der Zauberberg" hat Hochkonjunktur. Weil er bereits vor hundert Jahren Krankheit und die intellektuelle Höhenluft als Metaphern für die Flucht vor der herannahenden Katastrophe etablierte. Im Münchner Volkstheater widmet sich Claudia Bossard dem Thema in epischer Breite und nutzt die volle Bühnentiefe.

Von Sabine Leucht

Claudia Bossards Adaption von Thomas Manns Roman "Der Zauberberg" am Volkstheater München © Gabriela Neeb

21. Januar 2024. Ein Abend von fast vier Stunden Dauer ist selten im Münchner Volkstheater. Ein derart weit aufgerissener Raum auch. Bühnenbildnerin Romy Springsguth hat im größten Saal des Hauses auch die Hinterbühne leergeräumt und dort, wo man vom Zuschauerraum aus selbst seine Lieblingstante kaum erkennen würde, Alexander Yannilos mit seinem Schlagzeug-Synthesizer-Hybrid platziert. Der wird später noch Stimmung, Krach und richtig fett Party machen. Anfangs jedoch durchpulst bloß ein puckerndes Geräusch das Geschehen, das nur zögernd in die Gänge kommt.

Thomas Manns "Zauberberg" steht an, und Regisseurin Claudia Bossard, die im Volkstheater zuletzt in "Feeling Faust" Goethes Hauptwerk auf seinen emotionalen Gehalt hin abgeklopft und mit einer so klugen wie respektbefreiten Germanistenseminar-Satire eröffnet hat, schickt auch diesmal wieder zwei Schlaumeier vor.

Luise Deborah Daberkow und Nina Steils spielen die (männlichen) Ärzte des Sanatoriums, in dem Manns Protagonist Hans Castorp eigentlich nur seinen Vetter besuchen wollte. Noch bevor es so weit ist, fragen sich die Mediziner, ob es sich lohnt, "eine Geschicht von irgendeinem Hansl" zu erzählen, "die schon ganz mit historischem Edelrost überzogen ist". Und wann sie denn spielt, diese Geschicht. "Im Unbewussten", ist sich Psychiater Dr. Krokowski sicher. Und "immer vorher", also vor den großen Kriegen.

Rauschen der Gegenwart

"Die Geschicht" ist damit zu einem der Körper erklärt, die die beiden berufsmäßig analysieren. Und sie sind fest davon überzeugt, dass die Zeit und der Raum, die sie für sich in Anspruch nimmt, nicht mit ihrer Kurz- oder Langweiligkeit korrespondiert. Das allerdings stimmt nicht ganz.

Bossard hat entschieden zu wenig Darlings gekillt und über weite Strecken ein Diskursschlachtfeld angerichtet, überfüllt von ausufernden Mann-Sätzen und anthropologisch, philosophisch und politisch schwadronierenden Figuren, die zwar in konkrete Situationen, aber zu selten ins Spielen kommen. Und wenn die eng aufeinander bezogenen Antipoden Settembrini und Naphta einander Sätze wie "Frieden ist Arbeit" und "Das Faulbett ist die Geburtsstätte des europäischen Bodens" vor den Latz knallen, während sie auf einer Slackline aufeinander zugehen, spürt man den Knall fast körperlich. Wenn sie dabei ein halbes Fußballfeld trennt, eher nicht. Auch wenn die verwendeten Mikroports die Tiefe des Raums negieren.

Auf breiter Bühne und mit viel Platz fürs Zusteuern auf die Katastrophe: Claudia Bossards "Der Zauberberg" am Volkstheater München © Gabriela Neeb

Manchmal wählt die Schweizer Regisseurin auch eine Soundkulisse, breit wie eine Parklandschaft, in der von verschiedenen Menschen gleichzeitig Fußball gespielt, diskutiert, geflirtet, gegrillt und gegessen wird. Nichts davon ist dann im Fokus oder akustisch verständlich. Das Rauschen der Gegenwart aber ist recht gut abgebildet, auf das fast jede*r, der oder die heute zum "Zauberberg" greift, hinauswill. Einer Gegenwart, die auf eine Katastrophe zusteuert.

Enzyklopädie der menschlichen Leiden

Thomas Mann hat sie vor genau hundert Jahren auf gut 1000 kleingedruckten Seiten porträtiert: In Gestalt von Menschen, die sich lieber in einem Lungensanatorium in den Schweizer Bergen fragwürdige medizinische Behandlungen und Bevormundungen gefallen lassen als sich der Realität zu stellen. Auf dem Zauberberg/im Elfenbeinturm sind sie "der Welt abhandengekommen". Und der Zeit. Drei Wochen sind wie ein Tag. Und flugs sind sieben Jahre vergangen.

DerZauberberg3 GabrielaNeebMedizinisch-musikalisch: Luise Deborah Daberkow, Alexandros Koutsoulis in "DerZauberberg" © Gabriela Neeb

Was sich "im Flachland" unten zusammenbraut, können sie von da oben nicht sehen. Dafür haben sie zu allem eine Meinung, die umso hitziger ausfällt, weil sie sich nicht in Handlungen entlädt. Und ach, das sind ja wir! Diese Erkenntnis kumuliert in der einzigen Szene des Abends, in der klaustrophobische Enge herrscht: Jakob Immervolls Settembrini hat Jan Meeno Jürgens Castorp in die rollbare Box gelockt, die sich anfangs als Seitenwand der leeren Riesenbühne getarnt hatte.

Da drin stehen sie nun dicht gedrängt nah an der Rampe, alle anderen kommen nach und nach auch noch dazu; und weil der Satz "Wo viel Raum ist, ist auch viel Zeit" ebenso gilt wie sein Umkehrschluss, überschlägt sich Immervolls Stimme und es geht ungeheuer hektisch zu. Von einer Enzyklopädie der menschlichen Leiden erzählt der geschwätzige Humanist, eine Rivella-Flasche ejakuliert auf die Dicht-Gedrängten und Settembrini endet resigniert: "Wenn in Potsdam Worte wie Remigration fallen: Was soll ich ihnen da noch erzählen?"

Im Schneesturm

In Momenten wie diesen bringt Bossard den Stoff zum Glühen, in anderen unterhält sie mit Slapstickiaden, in denen Liv Stapelfeldt als Clawdia Chauchat beim Versuch, cool zu wirken, mit den Skiern gegen die Schwingtür rumst, Anton Nürnberg einen akrobatischen Stunt hinlegt oder die wunderbare Nina Steils eine schräge Therapiestunde mit Basketbällen gibt.

In der berühmten Schneesturm-Szene beginnt der über der Bühne hängende Riesen-Ring zu qualmen und langsam herabzufahren. Es gibt einen betörend schönen Choral, ein hellwaches Ensemble und Schauspieler wie Steffen Link, denen man auch dann noch gerne folgt, wenn ihre Figur nach ihrem Tod und anschließender Wiederbelebung plötzlich Schweizerdeutsch spricht. Als Ganzes aber kann der Abend nicht überzeugen, der mit zu vielen Monologen vom Hölzchen aufs Stöckchen kommt und nach fast vier Stunden immer noch offenlässt, woran er eigentlich baut.

Der Zauberberg
nach Thomas Mann
Regie: Claudia Bossard, Bühne & Kostüme: Romy Springsguth, Live Musik: Alexander Yannilos, Tonregie: Moritz Alfons Stäubli, Licht: Björn Gerum, Dramaturgie: Leon Frisch.
Mit: Jan Meeno Jürgens, Steffen Link, Liv Stapelfeldt, Luise Deborah Daberkow, Jakob Immervoll, Nina Steils, Lorenz Hochhuth, Alexandros Koutsoulis, Anton Nürnberg und Pascal Fligg.
Premiere am 20. Januar 2024
Dauer: 3 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

Kritikenrundschau

"Bei Bossard gibt's Manns Roman nicht als Geschichte, sondern den 'Zauberberg' als Zustand", findet Christoph Leibold im Bayerischen Rundfunk (21.1.2024). Der Abend sei zuweilen auch albern, amüsant, dann wieder anstrengend, enervierend, faszinierend, oft alles auf einmal. "Was das Buch über Zeit erzählt, macht die Inszenierung: erlebbar. Alle anderen Themen werden zelebriert, oder, je nachdem, wie man’s nimmt - ist ja alles relativ - zerredet. Oh Mann! Man meint zwischendurch, diesen Abend schon auch aushalten zu müssen. Um sich zuletzt dann aber doch zu fragen: Wo denn die Zeit hin ist? Vier Stunden Theater. Am Ende sind sie im Nu vergangen."

Die Leere der Bühne sei "durchaus wohltuend, es gibt tatsächlich den ganzen Abend keine der so gern eingesetzten Live-Kameras, das Einzige, was einmal auf eine kleine Leinwand projiziert wird, sind die Wochentage", so Yvonne Poppek in der Süddeutschen Zeitung (22.1.2024, €). Bossard habe ihr Ensemble und die Sprache Thomas Manns einfach in diesen Weiten ausgesetzt. Dass immer alle gleichzeitig redeten, ergebe eine Diffusität, die dem Leben im abgeschotteten Davoser Sanatorium gleiche. "Bossard zeigt zwar so, wie wenig das Leben, das Weltgeschehen einen tangieren kann, wenn es in der Ferne vorbeirauscht. Im Publikum erfährt man das sozusagen am eigenen Leib, emotional bleibt man dadurch aber auf Distanz."

Skeptisch wirkt Matthias Hejny in der Münchner Abendzeitung (22.1.2024), was Romandramatisierungen generell anbelangt. "Natürlich entstehen eindrucksvolle Bilder wie die krachende Faschingsparty oder der Schneesturm, den Hans Castorp nur knapp überlebt." Aber warum ein Roman? Sein Fazit: "Viel lebendige Schauspielkunst für einen langen Abend im Theater, der dazu anregt, nicht ins Theater zu gehen, sondern mal wieder Thomas Mann aus dem Bücherregal zu ziehen."

Dieser "Zauberberg" beeindrucke "vor allem durch seine Ensembleleistung", so auch Michael Schleicher im Münchner Merkur (22.21.2024). Allerdings werde in manchen Szenen der Bogen überspannt. "Hier wäre es an Bossard gewesen, zu bremsen, zu kanalisieren und zu ordnen. Das hätte es gerade auf der weiten Fläche dieser großartigen Bühne dringend gebraucht - und wäre zudem der Textverständlichkeit zuträglich gewesen." Besonders hebt Schleicher die Schauspieler Anton Nürnberg und Lorenz Hochhuth sowie Musiker Alexander Yannilos hervor: "Er verpasst der Produktion ihr ganz eigenes, mitreißendes Herzklopfen."

Einen "aufregenden Ritt über Thomas Manns Zauberberg" hat Teresa Grenzmann gesehen und merkt in der FAZ (26.1.2024) gleichwohl kritisch an: "Ein Bildungsroman? Ein Anti-Bildungsroman? Darüber scheiden sich nicht nur die Geister – auch Claudia Bossard und ihr Dramaturg Leon Frisch vermögen sich nicht zu entscheiden zwischen einem tief diskursiv inhalierten Ernst aus Geist und Materie, Menschsein und Kranksein, Intellekt und Affekt, Leben, Lieben oder Tod und einem eher flach geatmeten, pointenreichen Spaß." Die große Stärke der Inszenierung liege in der Darstellung der Absurditäten und Kuriositäten.

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