"Ich werde nun gehen und die Schlafenden töten"

von Cornelia Fiedler

München, 19. Juni 2016. Was für ein Arschloch von einem Gott! Nicht nur hängt Krishna als Schaulustiger beim kriegsentscheidenden Duell zwischen den Anführern der verfeindeten Pandavas und Kauravas herum. Nein, gerade als der Kampf entschieden und ein Frieden greifbar scheint, stachelt er den unterlegenden Bhima per Handzeichen zu einem ehr- und regelwidrigen letzten Keulenhieb unter die Gürtellinie an: eine Steilvorlage für den nächsten Racheschwur – und die Garantie für den nächsten Krieg.

Dass die Götter hier so schlecht wegkommen, ist kein Regieeinfall von Sankar Venkateswaran, der mit "Tage der Dunkelheit" eine extrem blutige und trostlose Episode aus dem indischen Epos "Mahabharata" in der kleinen Spielstätte des Münchner Volkstheaters inszeniert. Die deutschsprachige Uraufführung des indischen Regisseurs basiert auf einer lange verschollenen, sehr freien und offenbar ziemlich gewagten Überschreibung des mythischen Stoffes. Verfasst hat sie der altindische Dramatiker Bhasa – und zwar bereits circa 200 Jahre vor (oder nach) unserer Zeitrechnung (genauere Lebensdaten sind nicht überliefert). Bhasa stellt darin, so die Lesart von Venkateswaran und seinem Team, die ethischen Grundgedanken des gesamten Epos infrage – und damit auch dessen normativen Anspruch als hinduistischen Moralkodex.

Die Geburt des Schmerzes aus der Langsamkeit

Staubiges Dämmerlicht in orange und grün fällt zu Beginn auf fünf Körper, die wie leblos auf der leicht ansteigenden, unebenen sandfarbenen Spielfläche liegen. Magdalena Wiedenhofer als Stammesmutter Ghandari verbindet sich wortlos die Augen, dann steht sie da in ihrem langen vergilbt weißen Kleid, Blut- und Schmutzflecken am Saum, steht und schweigt. Fast könnte es nur ein Schwanken sein – oder eine optische Täuschung –, als sie irgendwann unendlich langsam beginnt, das Schlachtfeld abzuschreiten. Jeder Schritt dauert mehrere Minuten, ihre konzentrierte Anspannung erfasst den ganzen Raum. Als sie zu sprechen beginnt, tut sie das so wunderbar ruhig und achtsam, als wäre es Schweigen.TagedDunkelheit1 560 GabrielaNeeb uFast nur ein Schwanken: Magdalena Wiedenhofer als Stammesmutter Ghandari
steht und schweigt © Gabriela Neeb

Sie erzählt eine dieser Geschichten, die erklären sollen, wie und warum die Menschen das Morden erfanden. Zwei Brüder, zwei Clans geraten in Streit um die Vorherrschaft, Betrug und widerwärtige Übergriffe führen zum Krieg. "Seit siebzehn Tagen tobt der Kampf", endet der Prolog, "heute ist der achtzehnte." Das ist das Stichwort für die Toten. In extremer Zeitlupe beginnen sie aufzustehen, ein Moment wie auf Jeff Walls Soldaten-Wiedergänger-Foto Dead Troops Talk.

Wider die postmoderne Dauerironie

Diese ruhige Spannung des Anfangs wird bald gebrochen, jetzt ist Mauerschau angesagt. Pascal Fligg, Jonathan Müller, Leon Pfannenmüller, Mehmet Sözer und Timocin Ziegler schildern im schnellen Wechsel ein blutgetränktes Schlachtfeld voller Gliedmaßen und anderer Kriegsabfälle. Dann wenden sie sich nicht ohne Begeisterung dem besagten Endkampf zwischen den Clanchefs Bhima und Duryodhana zu. Der wird in bester Fußballmanier kommentiert und mit Johlen und Anfeuerungen vorangetrieben bis zum fatalen, durch Krishna provozierten Keulenschlag in Duryodhanas Lenden.

"Tage der Dunkelheit" wartet mit ungewohnter verbaler Direktheit auf – irgendwo zwischen Dringlichkeit und Pathos – was für Freund*innen der postmodernen Dauerironie schwer verdaulich ist. Wenn Venkateswaran beispielsweise Pascal Fligg als Duryodhana unter Schmerzen mit verkrümmten Beinen über die Bühne robben und dennoch Vergebung predigen lässt und wenn seine Eltern dazu auch noch echte Tränen weinen, ist das dann doch zu viel des naturalistischen Guten.

Beeindruckend ist der Abend vor allem durch die Ernsthaftigkeit, mit der Sankar Venkateswaran, Jahrgang 1979 und unter anderem künstlerischer Leiter des International Theatre Festival of Kerala, die Grundfragen des Mahabharata verhandelt. Ihm geht es um nicht weniger als die Frage, ob die Menschheit es schaffen kann, aus dem Kreislauf der Machtkämpfe auszusteigen. Gut sieht es nicht aus: "Ich werde nun gehen und die Schlafenden töten", lautet einer der letzten Sätze.

 

Tage der Dunkelheit
nach dem Einakter "Urubhanga" von Bhasa, eine Geschichte aus dem indischen "Mahabharata"
Regie: Sankar Venkateswaran, Ausstattung: Ran Chai Bar-Zvi, Dramaturgie: Caroline Schlockwerder, Musik: Joe Masi, Licht Günther E. Weiss.
Mit: Pascal Fligg, Jonathan Müller, Leon Pfannenmüller, Mehmet Sözer, Magdalena Wiedenhofer, Timocin Ziegler.
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.muenchner-volkstheater.de

 

Kritikenrundschau

Sankar Venkateswaran habe den Einakter des Dramatiker Bhasa "in einer Sprache auf die Bühne gebracht, die die Einflüsse ritualisierter Theaterformen wie des japanischen Nô oder der Pekingoper verrät", schreibt Sabine Leucht in der Süddeutschen Zeitung (21. Juni 2016). Zu Beginn entwickle "der Abend einen fremdartigen Sog", später verliere "die Inszenierung ihre schlichte Klarheit und fällt etwas zu sehr in naturalistische Spielweisen zurück. Aber sie fängt sich wieder und findet nach nur 60 Minuten zu einem überraschend abrupten Ende".

Sankar Venkateswaran und seine sechs Schauspieler arbeiteten "sehr klug mit dem Pranayama", also mit Atemübungen des Yoga, meint Michael Schleicher im Münchner Merkur (22. Juni 2016). "Die Bewusstheit, mit der auf der Bühne geatmet wird, spiegelt sich in den Bewegungen der Darsteller. Aus dieser Achtsamkeit schöpfen die Figuren Kraft und Energie, erheben sich zur letzten Schlacht." Es gebe einen "eindrucksvoll entschleunigten Prolog", und auch die anschließende Mauerschau verliere nur in wenigen Momenten "an Spannung und Intensität." Mit seiner Gotteskritik wirke der altindische Dramatiker Bhasa, zudem "überraschend zeitgenössisch".

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