Auf dem Jahrmarkt eurer Leiden

4. Februar 2023. Etwas so Flüchtiges wie Tränen sammeln und katalogisieren: Ist das nun höherer Verwaltungsirrsinn oder zutiefst human? Und ginge es der Menschheit besser, wenn wir über dieselben Dinge weinen könnten? Magdalena Schrefel hat aus diesen Fragen ein Stück gemacht, und Elsa-Sophie Jachs Antwort darauf lautet: Lasst uns spielen!

Von Sabine Leucht

"Archiv der Tränen" von Magdalena Schrefel in München © Birgit Hupfeld

4. Februar 2023. Die Archivarin betrachtet sich als "Buchhalterin des Lebens". Und wenn sie ihren Monolog über unsere Welt aus Wasser mit ein paar instant-löslichen Rap-Elementen anreichert, fährt er Tanja und Aleks in die Glieder. Das Ex-Paar, das gekommen ist, um ein paar Tränen zu lassen, staunt nicht schlecht über sich selbst und überhaupt. Denn diese Bewegungen gehören da nicht hin. Sie passen nicht zu diesen erstarrten Körpern. Und auch der Postbote lässt seinen pinkfarbenen Sitzsack fallen, den er gerade hereingeschleppt hat, und swingt sich ein.

Wenn man Thomas Reisinger zuschaut, wie seine in transparenten Tüllhosen steckenden Beine loslegen, bekommt man auf der Stelle gute Laune. Und fragt sich zugleich: Warum eigentlich? Gehört dieses Stimmungshoch da hin? Das Stück, das hier gespielt wird, heißt "Archiv der Tränen" und klingt im Titel nach etwas, das Thom Luz in eine flirrende Unbestimmtheit auflösen könnte, trägt aber in Wahrheit schwer an den Katastrophen der Gegenwart: an den Coronatoten, dem Artensterben, der Gletscherschmelze, dem Krieg und seinem Pathos.

Weltumspanndes Leiden auf der Wäscheleine

Magdalena Schrefel hat in ihrem Auftragswerk für das Münchner Residenztheater wenig ausgelassen, worüber heute zu weinen wäre. Regisseurin Elsa-Sophie Jach und ihr Team haben einiges davon eingekürzt. Klugerweise, muss man sagen, denn damit bläst das Stück eine kleine nette Idee zu einem großen Daseins-Lamento auf, das in seiner Gleichmacherei des weltumspannenden Leids fast etwas Zynisches hat.

Archiv 1 Foto Hupfeld 1242pArchivbesucherin mit Schlafbrille: Evelyne Gugolz als Vera © Birgit Hupfeld

Die kleine nette Idee ist das Archiv der Tränen selbst. In ihm wird die salzhaltige Flüssigkeit in flagranti aufpipettiert oder nachträglich aus Fotos, Taschentüchern und Telefonanrufen extrahiert, zentrifugiert und konserviert, auf Papier geträufelt und auf die Wäscheleine gehängt, geordnet und in Schubladen gepackt. Und ab und zu kommen Leute vorbei, die sich wie Vera die Tränen anderer beschauen oder in die Freude-, Wut-, Schmerz- und Verlusterlebnisse dahinter hineinhören.

Bei Jach geht das ohne das Microfiche-Lesegerät – Schrefel spickt ihren Text liebevoll mit antiquierten Dingen und Wendungen wie "Mein Mir-Verlustig-Gehen" –, Jachs Archivbesucher bekommen Schlafbrillen, Kopfhörer und sogar Münder aus einer Art Knetmasse ausgehändigt, die unter einer Speiseglocke auf ihren Einsatz warten. Wenn sie alles auf einmal tragen, sehen sie aus wie das Ergebnis eines missglückten Menschenversuchs.

Kryptische Spielfreude

Es ist gar nicht so leicht, szenische Übersetzungen für die surrealen und alchemistischen Vorgänge zu finden, die die österreichische Dramatikerin und frischgebackene Robert-Walser-Preisträgerin imaginiert. Jach hat eine Schwäche für spielerische Lösungen, die ruhig kryptisch bleiben dürfen – im Zweifelsfall helfen Charme und harmonisches Singen und Summen.

Das Archiv der Tränen steht auf der Bühne des Marstall auf einer Art abstrahiertem Dorfplatz, auf dem Pia Händlers Archivarin gar nicht mystisch und geheimnisvoll, sondern eher wie eine feixende Glücksbudenbesitzerin auftritt und erst mal mit einem Knall den "Lacrimosa"-Schriftzug über der gelben Bühnenrückwand anknipst. Die Jahrmarktsatmosphäre setzt sich im Bühnenbild von Aleksandra Pavlović fort, wo sich eine kleine Rotunde aus Stellwänden zu einer Art Spiegelkabinett auswächst.

Archiv 1 Foto Hupfeld 1242pIsabell Antonia Höckel und Pia Händler im Spiegelkabinett © Birgit Hupfeld

In ihm weint Christoph Franken als Aleks erste späte Tränen über seine verlorengegangene Liebe zu Tanja, die diese zuvor immer alleine hat vergießen müssen, und stimmt ein paar Takte von The Cures "Boys don't cry" an. Dazu gibt es von Schrefel ein paar leicht schwülstige Banalitäten zum Kreislauf des Lebens wie "In ihren Tränen finden sie zurück ins Wasser, aus dem wir alle gekommen sind" oder "Jedem Anfang wohnt schon das Ende inne …. als wäre es geradezu die Qualität, das einzigartige Merkmal des Anfangs an und für sich, dass er eigentlich, tatsächlich, ursächlich ein Ende ist."

Von Sklaverei bis Geburtswehen

Entsprechend ist hier alles im Wandel. Die regenbogenbunt aquarellierten Wandteile werden von den sechs Schauspieler*innen wie wild gedreht, zu Nischen auf- und gegeneinandergeklappt , weggetragen und am Ende wieder neu zusammengesteckt. Das verläuft einigermaßen analog zur Dynamik der Stückvorlage, die mit konturierten Figuren ins Rennen geht, um dann in ein Kaleidoskop von Stimmen, Zeiten und Gefühlen zu zerspringen: Evelyne Gugolz' Vera, die zwischen Berichten von Sklaverei und Vergewaltigungen nach "unerlösten Tränen" gegraben hat, hört die letzten Worte ihrer verstorbenen Schwester, gespielt von Isabell Antonia Höckel, die außerdem auch Tanja spielt, die von Zitaten heimgesucht wird, die sie an ihr nie geborenes Kind erinnern.

Vom "Unsagbaren", für das der Tränen-Postbote in hunderten von leeren Notizbüchern Platz lässt, hört man nur indirekt, dafür viel von Listen von Toten, von gerade noch abgegebenen Tränen, "bevor es zu spät ist". Und über "Pressen, pressen, pressen" hier und "Pressen, pressen, pressen" da werden Geburtswehen und der misslungene Wiederbelebungsversuch eines Herzinfarktpatienten miteinander kurzgeschlossen. Leben und Tod, Anfang und Ende: Da soll ein so großer Bogen gespannt und ein Menschen und Zeiten verbindendes emotionales Band behauptet werden, und doch bleibt dieser hübsche theatrale Spuk so erratisch wie unverbindlich – und so flüchtig wie ein Mikro-Tränlein.

 

Archiv der Tränen
von Magdalena Schrefel
Uraufführung
Regie; Elsa-Sophie Jach, Bühne: Aleksandra Pavlović, Kostüme: Bettina Werner, Musik: Anna Bauer, Sounddesign: Michael Anklin, Licht: Barbara Westernach, Dramaturgie: Ewald Palmetshofer.
Mit Pia Händler, Pujan Sadri, Thomas Reisinger, Isabell Antonia Höckel, Christoph Franken, Evelyne Gugolz.
Premiere am 3. Februar 2023
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de


Kritikenrundschau

Einen "hübschen Bühnen-Ausflug ins Surreale, ein entrücktes Spiel im wunden Wunderland" hat Yvonne Poppek erlebt und schreibt in der Süddeutschen Zeitung (online am 5.2.2023). Elsa-Sophie Jachs Regie sei für Schrefels Text ein Gewinn, "da die Regisseurin genauso poesiebegabt ist wie sie auch einen Text musikalisch fassen und strukturieren kann", so Poppek. "Sie hat klug den Text konzentriert, nicht alles nebeneinander stehen lassen, worüber sich heute weinen ließe, nicht Krieg und Klimawandel auf die gleiche Ebene wie Liebeskummer gepackt." Für die abstrakten, absurden Apparaturen und Räume des Dramas habe Jach eine eigenständige Bildsprache gefunden, "klar, reduziert, mit schönen, kleinen Erfindungen". Trotzdem bleibe das "Archiv der Tränen" letztlich "eine Versuchsanordnung von hübscher, aber harmloser Kraft".

 

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