Der Turm - Residenztheater München
Hoch erhoben vor dem Fall
22. Oktober 2022. "Ungleich dem Tier hab ich Begriff von meiner Unkenntnis": Was ist der Mensch – woher kommt Macht, worauf beruht Legitimität?, fragt Hugo von Hofmannsthal in "Der Turm". Regisseurin Nora Schlocker zeigt Herrschaft als Balance auf schmalem Grat.
Von Martin Jost
22. Oktober 2022. Sigismund steht im Mittelpunkt von Hugo von Hofmannsthal „Der Turm", und als wir ihn das erste Mal sehen, befindet er sich genau in der Mitte der Bühne: Nicht bloß horizontal, sondern auch in ungefähr vier Metern Höhe. Trotzdem haben wir ihn nicht gleich entdeckt, wie er da auf einem angenagelten Stuhl kauert: Scheinbar nackt, glatzköpfig und eingerollt unter einer knisternden Folie. Da hat sich doch etwas bewegt! Ist das ein Mensch?
Philosophischer Versuch über die Legitimation von Gewalt
Sigismund (Lisa Stiegler) wird wie ein Tier in einem Verlies gehalten, dem "Turm". Sein Vater Basilius (Michael Goldberg) ist der König von Polen, aber das weiß Sigismund noch nicht. König Basilius hat ihn einsperren lassen, damit sich die Prophezeiung nicht erfülle, der zufolge Sigismund den Vater vom Thron stürzen wird. Wie das mit Orakelsprüchen und verstoßenen Kindern so ist, kommt es dann doch so, aber anders als man denkt. Basilius unterzieht seinen Thronerben einem Test, um zu sehen, was dieser mit der Königsmacht anstellen würde. Als erste Amtshandlung versucht Sigismund, den Vater zu erwürgen. Aber Basilius wäre ohnehin bald fällig gewesen. Es sind genug Aufstände und Komplotte im Gange, dass man am Ende gar nicht sagen kann, wer ihn jetzt eigentlich abgeräumtt hat.
Die Handlung ist chaotisch und das Drama kann sich nicht so richtig entscheiden, welche Fabel es ins Zentrum stellen will. Hugo von Hofmannsthal wäre der Erste, der das einräumte. Er hat zwischen 1920 und 1927 drei unterschiedliche Fassungen vorgelegt, die alle offen enden. Als Vorlage benutzte er Calderóns "Das Leben ein Traum". Besonders schwer tat er sich damit, eine allegorische, nicht zu konkrete Handlung für etwas zu finden, das eigentlich ein philosophischer Versuch über die Verleihung von Macht und die Legitimation von Gewalt ist.
Einst eingekerkert und nie ganz Kulturmensch
Nora Schlocker hat den Text stark reduziert und geschickt konzentriert. So sind von zig Figuren immerhin noch 18 Rollen übrig geblieben, die sich die sechs Schauspieler:innen teilen. Schlockers Version behält die Kernfrage im Vordergrund: Woher kommt Macht? Wer verleiht das Recht zu herrschen? "Woher so viel Gewalt?" ist das erste, was Sigismund seinen Vater fragt, als der sich ihm enthüllt. Der Prinz möchte verstehen, was den König jetzt und ihn selbst in Zukunft zum König macht. Eine Antwort: Das Mandat stamme direkt von Gott. Eine andere: Der königliche Ring verleihe Macht. In einem Monolog zuvor sprach die Nebenfigur Simon (ebenfalls Michael Goldberg) über die herrschaftliche Prägung, die billiges Metall zu Geld macht. Und später weigert sich Basilius, das Revolutionsgericht anzuerkennen, das ihm Ring und Königswürden abnimmt.
Der Ring ist hier ein Halsring mit Perlen-Collier, an dem der König schwer zu tragen hat. Die Grenze von Kostüm zu Requisite ist fließend: Bettina Werner hat die Figuren nicht bloß angezogen, sondern ihnen auch etwas zum Spielen gegeben. Alle tragen grelle Interpretationen einer Standeskleidung. Sigismund behält seinen nacktfarbenen Einteiler an, schmutzig vom Kerker, und wird so nie ganz zum Kulturmenschen. Seine kindlichen Fragen nach der Macht, wie alle seine Äußerungen, klingen, als müsse er seine Sprache erst noch ausprobieren. In Bedrängnis fällt er zurück auf tierische Laute.
Den Ort der Macht umkreisend
Auch räumlich verlässt Sigismund seinen Kerker nie. Es gibt bloß ein Bühnenbild (Bühne: Irina Schicketanz), alles spielt sich in dem runden, hohen Schaft des Turmes ab. Der Halbkreis aus rauen, grauen Wänden lässt die Bühne klaustrophobisch wirken. Das Licht ist grell weiß und Videoprojektionen (Licht: Gerrit Jurda; Video: Sven Zellner) erschaffen Unwetter oder legen alptraumhafte Doppelbilder auf die Szene. Der Stuhl, der oben befestigt ist, die hoch liegenden Türen und das umlaufende schmale Sims verstärken das Gefühl von Unsicherheit. Jede:r droht immerzu abzustürzen, niemand steht sicher.
Das ist im übertragenen Sinne auch das Einzige, was in dieser Untersuchung der Macht feststeht: Macht ist fragil, Gewalt ist nicht nachhaltig. Hofmannsthal konnte die Frage nur umkreisen und auch die Münchner Inszenierung stellt sie einfach mal in den Raum. "Der Turm" im Residenztheater legt es zum Glück nicht darauf an, alles abschließend und zeitgemäß zu klären. Das Stück ist vielmehr ein gespielter Fragebogen: "Woher so viel Gewalt?"
Der Turm
von Hugo von Hofmannsthal
Inszenierung Nora Schlocker; Bühne Irina Schicketanz; Kostüme Bettina Werner; Komposition Alexander Vicar; Video Sven Zellner; Licht Gerrit Jurda; Dramaturgie Constanze Kargl.
Mit: Michael Goldberg, Lisa Stiegler, Katja Jung, Johannes Nussbaum, Valentino Dalle Mura & Thiemo Strutzenberger.
Premiere am 21. Oktober 2022
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.residenztheater.de
Kritikenrundschau
Christine Dössel von der Süddeutschen Zeitung (23.10.2022) sah "eine beflissene, zunehmend schale Kunstanstrengung". "Es ist ein unintelligibler, hohl tönender Abend. Die Schauspieler scheinen streckenweise selber nicht ganz zu verstehen, was sie, teils in Mehrfachrollen, spielen (sollen). Nicht nur gilt es, Hofmannsthals hochfahrende Sprache zu durchdringen, sie müssen auch die wenig hilfreichen, jede Figur prototypisch-exzentrisch überzeichnenden Kostüme von Bettina Werner überspielen." Die Kritikerin wähnt sich im Provinztheater.
Robert Braunmüller von der Abendzeitung (24.10.2022) bescheinigt der Inszenierung solides Handwerk, beklagt jedoch, die starken Kürzungen machten die Figuren eindimensional. Mehr noch hat der Kritiker an der Interpretation des Stücks auszusetzen: "Schlockers Inszenierung antwortet auf die mühevolle Selbstpolitisierung des Ästheten Hofmannsthal mit einer Entpolitisierung des Theaters. Man sieht auf der Bühne, wie schlimm ein Machtwechsel sein kann und wendet sich mit Grausen. Aber in politischen Zeiten ist das kein überzeugender Ansatz – vor allem wenn die Frage nach der gegenwärtigen gesellschaftlichen Relevanz von Theater als riesiger Elefant in jedem Zuschauerraum steht. Da ist Hofmannsthal keine Antwort."
Ein teilweise beeindruckter Christoph Leibold vom Bayerischen Rundfunk (22.10.2022) beklagt, vieles wirke doch recht artifiziell und leicht hüftsteif. "Unsichtbar, aber merklich spürbar steht schon auch 'Wir machen hier Bühnenkunst!‘ über der Aufführung." Der Kritiker schließt: "Ästhetisch hat Nora Schlocker eine Spur zu viel Elfenbein-"Turm" inszeniert. Inhaltlich indes überzeugt dieser Abend als finsteres Fanal für unsere Gegenwart: Selbst wenn Diktatoren stürzen, bedeutet das nicht zwingend Besserung."
"Schlocker und ihrer Dramaturgin Constanze Kargl gelingt es, das Textgebirge Hofmannsthals auf eine Spielzeit von einer Stunde und vierzig Minuten zu komprimieren, ohne Geist und Ton des Originals zu opfern", schreibt Hannes Hintermeier von der FAZ (24.10.2022). "'Der Turm‘ wird selten gespielt. Ihn gerade jetzt zu reanimieren ist eine überzeugende Idee, eben weil das Stück in seiner Gegenwartsferne plötzlich ganz nah wirkt." Schlockers Inszenierung bezeichnet der Kritiker als mutig und kompakt. "Hofmannsthals Sprache changiert zwischen hohem Ton und deklamatorischer Wucht, existenzialistischer Verlorenheit und Einsprengseln von Komik. Man spürt, wie sehr wir gelegentlich einer solchen Sprache bedürfen."
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Die Idee der Hausregisseurin Frau Schlocker, mit einem stark reduzierten Figurenensemble die unterschiedlichen Positionen zum Gewaltverständnis um Sigismund herum zu versammeln, hätte eine anregende Erforschung sein können. Die Umsetzung war für mich enttäuschend. Hölzern und starr rezitieren die verbliebenen Figuren in langen Monologen ihre Gewalt- und Machtkonzepte, bleiben dabei jedoch meist unverbunden. Zwar zitiert das Programmheft Hugo von Hofmannsthal selbst: „Sie reden kaum miteinander, jeder eigentlich nur mit sich selbst.“ Doch hebt Hofmannsthal in eben diesem Text ihre „schicksalsmäßige Verknüpfung“ hervor: „Wechselweise sind sie für einander etwas.“ In der Inszenierung gibt es mehrere Brüche und unvermittelte Handlungssprünge. Auch die Doppel- und Mehrfachbesetzungen irritieren. Wenn Frau Schlocker in dem im Programmheft abgedruckten Gespräch äußert, dass „dass die Schauspieler*innen (…) auf der Bühne als Gruppe vertreten“ sein sollten, „sich die unterschiedlichen Figuren aneignen und sich mit ihnen unserem Sigismund stellen“, dann wäre ein konsequenterer und offensiverer Wechsel der Schauspieler:innen in alle verschiedenen Rollen angebracht gewesen, so wie es Felicitas Brucker im zweiten Teil Ihres Doppelabends „Nora“ und „Die Freiheit einer Frau“ an den Münchner Kammerspielen überzeugend gelingt. Viel von dem, was Walter Benjamin bei Hofmansthals „Der Turm“ im Unterschied zu Calderóns romantischem Schauspiel „Das Leben ein Traum“ als die besondere Form des „Trauerspiels“ würdigt (vgl. Programmheft), geht in dieser fragmentierenden Inszenierung verloren: „Die strengen Züge des deutschen Dramas.“