Das blaue Meer - Science Fiction von Cristin König und Anne Tismer
Im Herzen der Plastikfolie
von Anne Peter
Berlin, 4. September 2008. Und es ward dunkel. Wenn das Licht ausgeht, ist das Ende der Zeiten gekommen. Oder einfach nur das Ende eines Theaterabends. In diesem Fall eines 70minütigen, verbastelten, wirr zusammengesponnenen Theaterabends im Prenzlberger Ballhaus Ost. Da hilft es auch nicht, dass Anne Tismer noch einmal "Licht" spricht, bevor es gewohnheitsmäßig schnell wieder hell wird zum ordentlichen Schlussapplaus.
Das Publikum sitzt gedrängt auf Stühlen und Tribünentreppen rund um die mit rot-weißem Baustellenband umzirkelte Spielfläche, auf der Cristin König die Science Fiction "Das blaue Meer", gewissermaßen ihre Variante des Gehirne-im-Tank-Motivs aufführen lässt. Dabei imaginiert die Schauspielerin, die zuletzt vor allem an der Schaubühne und am Maxim Gorki Theater gearbeitet hat, eine Zukunft, in der des Menschen Denken und Fühlen computerferngesteuert geregelt werden.
Böses, egoistisches Imperium!
Diese Schreckensvision verlegt sie ins Jahr 22976, was vermutlich nichts zu bedeuten hat, außer dass das ziemlich lange hin ist – und also noch Hoffnung besteht? Aber nein! Natürlich zielt die Autor-Regisseurin mit ihrer orwellschen Kontroll-Dystopie aufs gefährlich überwachungsselige Heute.
Das nennt sie zwar aus der Retrospektive von 22976 das längst vergangene "depressive Zeitalter", in dem die Menschen für ihr Glück noch selbst verantwortlich waren und entsprechend auf vielfältige Arten Suizid begehen wollten. Aber sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie uns hier und heute unweigerlich auf jenes "goldene Zeitalter" zurasen sieht, in dem unsere Gehirne mit einer Art Bluetooth-Technologie an Computer angeschlossen sind, mit deren Hilfe alle Wünsche entweder sofort erfüllt oder ausradiert werden können. Die Macht darüber hat – wie sollte es anders sein – das "Imperium, unser aller Ordnung gebender Staat", das sich außerdem natürlich alle "tollen Wünsche" für sich reserviert hat – böses, egoistisches Imperium!
Es schnurrt hier zum Videobild von Robert Hunger-Bühler zusammen, der als fieser Psycho-Dok bei einer Schutzbefohlenen gleich von drei Leinwänden herab "multiple zerebrale Dysfunktion" diagnostiziert und sie in die "Wartezone" schickt, wo sie angeblich geheilt werden soll.
Sein – oder nicht?
Anne Tismer spielt dieses rasend plappernde Wesen Carla mit gewohnter Wirrnis-Verve, atmet gehetzt ins Mikro und lässt zwischen auswendig geleierten Biografiefetzen und einprogrammierten Floskeln Selbstverzweiflung sprudeln, mit der ein rudimentär vorhandenes Bewusstsein sich zu wehren versucht. Dann sagt sie Sätze wie: "Ich fühl mich gar nicht nach mir selber an" oder "Ich möchte schon sein – oder nicht sein?"
Nicht mehr sein möchte Paula (Teenager Hannah Beer), das "Mädchen, das alles weiß" und somit auch das Publikum am Anfang in bester Schulmädchen-Aufsagemanier in die Beschaffenheit jener zukünftigen Gesellschaft einführen kann. Sie selbst ist "giga-intelligent" und an der Entwicklung der All-Controlling-Software maßgeblich beteiligt. Ihr Gehirn ist der Super-Think-Tank, dessen keiner mehr habhaft werden kann.
Wie das System funktioniert und auch wie es lahmgelegt werden kann, hat sie in einem Buch festgehalten, das auf ominöse Weise in Carlas Hände gekommen ist und nach dem die Mächte des Bösen – neben Hunger-Bühler auch die sich im Video rauchend räkelnde Cristin König selbst – jetzt fieberhaft fahnden. Da Carla es irgendwie im determinierten Gespür hat, dass das Buch Unheil bringt, schleudert sie es alsbald unbedacht ins Publikum – womit das Ende der Zeiten eben nicht mehr zu verhindern ist.
Verlorenheit im Hula Hoop
Königs schwer zu verfolgende Science-Fiction hat dabei nichts mit metallisch-verkörperten Alien-Forces oder grünziffrigen Bildschirmwelten zu tun. Im Gegenteil, auf der Bühne herrscht Wollknäuelgewirr, baumeln Plastikflaschen und Foliendrahtskulpturen. Und Anne Tismers Carla ist nicht außerirdisch, sondern einfach außer sich – das allerdings virtuos. Heillos einsam ist sie in ihrem über Hula Hoop-Reifen gespannten Plastikfolien-Kokon (inklusive Minikamera für Live-Projektion), aus dem sie ab und zu einzelne Gliedmaßen oder auch den Kopf mit kurzhaarblonder Perücke hervorwurschtelt, bevor sie sich später in die Aufrechte hebt.
Von ihrem verlorenen Posten aus versucht sie immer wieder Kontakt aufzunehmen mit allem, was nach Menschen aussieht. Die tauchen auf den virtuellen Wänden auf und ab oder lösen sich gar einfach Pixel für Pixel. Bloß Paula dringt mal zu ihr in die Plaste oder füttert sie mit Marshmallows, während sie nebenbei den Grill in Flammen setzt – kleines Widerstandsfeuerchen?
Apropos: Partisanen soll es hier übrigens auch noch geben. Aber was die so genau machen, bleibt – tja, im Dunkeln. An diesem Abend ist Tismers Hundertprozentspiel leider der einzige Lichtblick.
Das blaue Meer (UA)
von Cristin König
Regie: Cristin König, Bühne und Ausstattung: Burkart Ellinghaus, Anne Tismer, Kostüme: Lea Reusse, Videos: Niklas Goldbach.
Mit: Hannah Beer, Robert Hunger-Bühler, Arnd Klawitter, Anne Tismer.
www.ballhausost.de
Kritikenrundschau
In der Berliner Zeitung (6.9.2008) macht sich Irene Bazinger für Cristin Königs "bizarr-burleske Performance" stark, die sie "von viel kreativer Unverdrossenheit", "darstellerischer Leidenschaft" sowie vom "rauhen Charme eines putzmunteren Kinderspiels" getragen fand. Deswegen will sie diese "wirre Zukunftsvision" fast schon wieder unbekümmert Avantgarde eingeordnet wissen und hebt auch das Berliner Ballhaus Ost lobend als "so etwas wie ein Laboratorium für neue Erzählformen und Spielweisen" hervor.
Esther Slevogt in der Berliner Tageszeitung (6.9.2008) konnte dem aus ihrer Sicht eher unübersichtlichen Abend nur wenig abgewinnen. "Im Ballhaus Ost, dieser experimentellen Spielwiese für staatstheatermüde Schauspielprofis, geben nun also Anne Tismer und Cristin König ihre Version der schönen neuen Welt zum Besten, aber leider bietet sie auch keine neuen Erkenntnisse über unsere Gegenwart oder Zukunft. Außer, dass sie vielleicht die Hoffnung weckt, Tismer und König bald wieder mal auf großen Bühne in einem echten Theaterstück zu sehen."
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