Die Geschichte einer Stunde - Ballhaus Ost Berlin
Geheimer Garten Eden
4. Februar 2022. Kate Chopins Kurzgeschichte ist ein Urtext des Feminismus. Regisseurin Marie Schleef und Performerin Anne Tismer arbeiten hier nach ihrer letzten, zum Theatertreffen eingeladenen Arbeit wieder zusammen – nach der Premiere in Berlin kam die bild- und gedankenstarke Inszenierung nun am koproduzierenden Wiener Kosmos Theater heraus.
Von Esther Slevogt
14. Januar 2022. Das Stück ist stumm. Hier wird weder gesprochen noch sonst der geringste Ton produziert. Wir hören höchstens das Rascheln, das die Performerin produziert, wenn sie im Verlauf des Abends langsam eine Tapete von der Wand ihres kleinen Zimmers reißt. Wir hören aber nicht die drei Klavierstücke von Agathe Backer Grøndahl, die diese bedeutende norwegische Komponistin und Musikerin 1894 komponierte. Und wir hören auch nicht Lili Boulangers Kantate für gemischten Chor und Klavier "Les Sirènes" von 1911. Auch das Stück "Teach Yourself to Fly" von 1970 der amerikanischen Komponistin Pauline Oliveros erklingt definitiv nicht. Titel der Stücke, Namen der Komponistinnen und Entstehungsjahr der Kompositionen sowie fragmentarische Beschreibungen musikalischer Sätze oder Fragmente aus Liedtexten laufen nur über ein Schriftband über der Bühne.
Giftiger Fingerhut, stechener Rittersporn
Dort sitzt auf einem kleinen Tisch eine Frau und schaut in ihr Smartphone. Der Raum wird dominiert von einer Tapete mit überbordenden Blumenmotiven. Das Zimmer der Frau als geheimer Garten Eden, dessen Blumen allerdings in ihrer wuchernden Pracht durchaus bedrohlich scheinen: der giftige Fingerhut, die zickigen Alpenveilchen, der stechende Rittersporn, die wild rankenden Glyzinien oder die phallisch emporschießenden Krokusse und Tulpen, die hier alles andere als einen paradiesischen Eindruck vermitteln. Mit dem Gesicht zur Wand sehen wir eine weitere Frau in diesem psychedelischen Interieur stehen.
"Die Geschichte einer Stunde" ist der Abend im Berliner Ballhaus Ost überschrieben – nach einer Erzählung der amerikanischen Schriftstellerin Kate Chopin, die die Geschichte einer Frau erzählt, die auf die Nachricht vom Tod ihres Mannes anders reagiert, als es ihre Familie erwartet hat: Sie schließt sich in ihr Zimmer ein und träumt, inspiriert vom Duft der Natur und dem Zwitschern der Vögel, die durch das geöffnete Fenster dringen, eine kurzen Traum von Freiheit und einem selbstbestimmten Leben jenseits der engen Rollenzuschreibung als (Ehe)frau. Dann stellt sich die Nachricht vom Tod ihres Mannes als Irrtum heraus.
Gefangen in den Wänden
Das Team um die Regisseurin Marie Schleef, die Performerin Anne Tismer und die Bühnenbildnerin und Videokünstlerin Jule Saworski haben diese Geschichte, die als ein verborgener Urtext des Feminismus gilt, und 1894 zuerst in der amerikanische "Vogue" erschien, mit der Erzählung "Die gelbe Tapete" der Schriftstellerin Charlotte Perkins Gilman von 1892 visuell verschmolzen. Darin geht es um eine Frau, die vor ihrer Fremdbestimmung durch den Ehemann in eine psychische Krankheit flüchtet und sich in dem Zimmer, in das sie eingeschlossen ist, eine Frau fantasiert, die hinter der gelben Tapete dieses Zimmers in den Wänden gefangen ist. Um diese Frau zu befreien, beginnt die Protagonistin, in einem sinnlosen symbolischen Akt die Tapete von den Wänden zu reißen.
Ein zerstörerisches Werk
So, wie es jetzt auch die Performerin Anne Tismer tut, die aus dem Zimmer mit der wuchernden Blumentapete durch die Wand in einen daneben liegenden Raum gewechselt ist, dessen Tapete ein noch viel erdrückenderes Blumenmuster hat. Die Kurzgeschichte von Kate Chopin, die kaum 1000 Worte lang ist, ist jetzt schon eine Weile in dem Textband über der Bühne zu lesen. Daneben eine Uhr, die exakt die Minuten anzeigt, die vergehen. Nach dem Preludium mit den Komponistinnen, deren Werke das Publikum nicht hört – aber eben auch diese verhuschte Frau mit den Blumenleggings und dem geblümten Houdi unter dem zeltartigen Anorak auf der Bühne nicht, die hier apathisch nur auf ihr Smartphone starrt, merkwürdig starre Bewegungen ausführt, bevor sie ihr sinnloses zerstörerisches Werk beginnt. Denn je mehr Tapete sie im einen Raum abreißt, desto stärker schieben sich die Blumenmuster auf der Tapeten im Raum nebenan zu gitterartigen Rastern zusammen, verengt sich die Perspektive in diesem Raum.
In diesem Raum war das virtuelles Double und Alter Ego der Frau zurückgeblieben – in eine Videoprojektion gebannt. Zunächst hatte sie nur an der Wand gestanden, dann aber bald ihr Eigenleben entwickelt, sich an den Schreibtisch gesetzt, ein Laptop aufgeklappt und daran zu arbeiten begonnen. Zwischendurch waren weitere virtuelle Doubles aus der Wand hervorgekommen, war diese schöpferische Version der Protagonistin also noch vervielfacht worden.
Kurzer Freiheitstraum
Allerdings hört die Frau draußen die Frau(en) in den Wänden nicht. Ebenso wenig wie wir die Arbeit der Komponistinnen am Anfang nicht hören. Als am Ende dieses minutiös getakteten Abends, der in Echtzeit exakt die Geschichte einer Stunde erzählt, die Nachricht kommt, dass der Ehemann nicht tot ist und dem Plot der Geschichte zufolge die Frau stirbt, als sie erkennt, dass ihr kurzer Traum von der Freiheit ganz umsonst geträumt wurde, da stirbt auf der Bühne die virtuelle Frau in der Wand. Die analoge Frau draußen jedoch verschwindet in dieser Wand. Nimmt dort also den Platz der Toten ein.
Frauen, die Geschichte schrieben
So bildet dieser Abend in gewisser Weise eine Antithese zur letzten, auch zum Theatertreffen eingeladenen Arbeit dieser Gruppe Name her. Hier ging es um die Nennung von 150 bedeutenden Frauen, die in der Geschichtsschreibung nicht vorkommen, weil sie Frauen waren. Dieser Abend nun stellt subtil die Frage, ob diese feministischen Opferdiskurse eigentlich nicht Teil des Systems sind, das Frauen unterdrückt und verhindert. Denn die Frauen, Agathe Backer Grøndahl, Lili Boulanger oder Pauline Oliveros zum Beispiel, waren ja da, haben gearbeitet, bedeutende Werke geschaffen und als Wegbereiterinnen der Moderne Geschichte geschrieben. Aber wir haben sie nicht gehört, nicht gesehen. Haben auf unser Smartphone gestarrt (das bei "Name her" ein zentrales Motiv des Bühnenbilds war) oder uns in selbstreferentiellen wie zerstörerischen Diskursen bemitleidet, statt einfach mit der Arbeit zu beginnen.
Weil dem Abend gefühlt ein Gedankenschritt fehlt, um das explosive Potenzial seiner Versuchsanordnung wirklich zu entfalten, bleibt er ein bisschen in der Tapete gefangen – um mal bei der Metaphorik der Geschichte zu bleiben. Zum Denken gibt es trotzdem genug Stoff. Und zum Gucken sowieso.
Die Geschichte einer Stunde
von Kate Chopin
Übersetzung aus dem Englischen: Hannah Schünemann
Idee, Konzept, Regie: Marie Schleef, Konzept, Bühne und Video: Jule Saworski, Entwicklung Bewegungssprache, Kostüm und Performance: Anne Tismer, Dramaturgie: Hannah Schünemann, Kamera und Schnitt: Hendik Lietmann, Licht: Leander Hagen.
Mit: Anne Tismer.
Premiere am 13. Januar 2022
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
www.ballhausost.de
kosmostheater.at
Kritikenrundschau
"Ein schlüssiges Konzept, visuell toll umgesetzt", schreibt Patrick Wildermann im Berliner Tagesspiegel (15.1.2021). "Sicher, diese stille Stunde verlangt Konzentration und Einlassbereitschaft", so der Kritiker. Aber es lohne sich, dranzubleiben, bis zur bösen Pointe.
"Über die Hälfte der Zeit ist sie (Tismer, d. Red.) damit beschäftigt, die Tapete im Schlafzimmer von der Wand zu kratzen, wie die Heldin in Charlotte Perkins Gilmans 'Die gelbe Tapete' (die dem Abend ebenfalls Motive liefert). Hier soll deutlich werden: jetzt beginnt etwas Neues, hier wird etwas gewechselt, die Tünche kommt weg, die Wand wird sichtbar", so Simon Strauß in der FAZ (17.1.2022). "Oben neben einer gnadenlosen Minutenanzeige flimmert der Text, die Geschichte von einer, die sich täuscht und für eine Stunde in Freiheit wähnt. Dann kehrt der Mann zurück, und ihr Traum ist dahin."
Bald kratze die reale Anne nur noch an der Tapete ihres engen Raumes, während die virtuelle Anne im Nebenraum am PC schreibe. "Reale Enge kontrastiert virtuelle Weite, dennoch vollzieht sich zwischen beiden Zimmern eine doppelte Volte. Denn keine dieser modernen Eingeschlossenen scheint hier je an ihr 'frei, frei!' zu gelangen. Schöne, irrlichternde Bilder entstehen und Tismers intensives Gestenspiel – dennoch bleibt diese komplexe Stunde abstrakt", schreibt Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (16.1.2022).
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