alt

Im protoplasmischen Hirnmeer

von Christian Rakow

Berlin, 8. April 2011. Dass aus diesem Schmachtfetzen noch ein Funken zu schlagen ist, war nicht zu erwarten: "Time to Say Goodbye" von Andrea Bocelli und Sarah Brightman, mit dem sich bereits der Boxer Henry Maske vor seinem Abschiedskampf 1996 einseifte, lassen sie zum Auftakt laufen. Und sie singen mit – gleich den Fußballchören auf der Nordkurve beim Vereinslied (dabei sind sie bloß ein Vierer ohne Steuermann). Sie schmettern das Ihre heraus, inbrünstig, mit aufrichtigem Pathos, ein jeder hehrer Ton beinah getroffen. Für diesen Auftakt muss man sie lieben!

Dieses junge Hildesheimer Performancekollektiv Vorschlag:Hammer hat mit dem Sieg bei Körber Studio Junge Regie 2010 erstmals auf sich aufmerksam gemacht und dabei gleich mal untermauert, dass eine neue, starke Off-Talentschmiede neben den seit Jahren etablierten Angewandten Theaterwissenschaften Gießen entstanden ist. Die praxisorientierten Kulturwissenschaften Hildesheim, aus denen auch die Gruppe Turbo Pascal hervorgegangen ist, kommen weniger theoriegesättigt daher, dafür alltagssensibel erzählerisch. Ihre genretypisch locker assoziierenden Abende wirken immer mal wieder wie Lectures auf einer Sommerakademie. Die Erkenntnis leuchtet zwischen Schäfchenwolken.

Die Passionen des Kelvin

Mit "Tears in Heaven" zeigt das vierköpfige Kollektiv um die Gründer Kristofer Gudmundsson, Gesine Hohmann, Margrit Sengebusch und Stephan Stock jetzt seine erste abendfüllende Arbeit am Berliner Ballhaus Ost. Auf den Spuren des legendären Science-Fiction-Romans "Solaris" von Stanisław Lem tauchen sie in die fremde Seinsform des gleichnamigen Planeten mit dem intelligenten Ozean – mit dem "protoplasmatischen Hirnmeer" – ein. Vornehmlich Stephan Stock und Gesine Hohmann spielen und erzählen das Schicksal des Psychologen Kelvin. Als Forscher nach Solaris gekommen, realisiert Kelvin spätestens beim Erscheinen seiner toten Frau Harey, die der Ozean offenbar als Kopie seines Gedächtnisinhalts für ihn entworfen hat, wie er hier selbst zum extraterrestrischen Versuchsobjekt wird.

Dass die Lem-Geschichte über die Grenzen menschlicher Erkenntnis- und Kommunikationsfähigkeit gut für eine aktuellpolitische Parabel auf globale kulturelle Dissonanzen taugt, versteht sich nahezu von selbst. Die entsprechenden Erzählbrocken etwa zum Wohl und Weh Afrikas, die Vorschlag:Hammer dazu anlagert, sind kaum mehr als Vorstudien für eine längere Textentwicklung. Nicht eben glücklich wirkt sich der gelegentliche Drift ins traditionelle Schauspielfach aus. Auf manches Hysterico-Solo zur Bezeugung der Passionen des Kelvin ("Ich versteh das nicht!") hätte man gern verzichtet.

Entgrenzt und schwerelos

Doch sind diese Einwände nicht allzu hoch zu hängen. Denn wie der Abend punktuell enttäuscht, so bezaubert er auch in Momenten. Zahllose Kisten aus milchig trüber Plaste werden in immer neue atmosphärische Installationen geordnet. Mal sind sie aufgestapelt zur Senderöhre für Kopfbotschaften, mal zum kultischen 21-Teile-Dreieck aus dem Geiste Erich-von-Dänikens formiert.

Mit wohltuendem Dilettantismus referiert Kristofer Gudmundsson aus den Annalen der Solaristik, unterspielt Gesine Hohmann launig ihre anekdotischen Intermezzos. Und Stephan Stock wirft gegen Ende den Lem'schen Konstruktivismus pointierend ins Rund: "Wir sehen überhaupt nicht mehr die Welt. Wir sehen nur noch die Bilder, die wir drüber klatschen."

Danach entgrenzt sich der Abend, wird so schwerelos, wie er begonnen hat. Minutenlang folgen wir dem tänzerischen Lichtspiel von tausenden Laserpointern auf der abgedunkelten Bühne. Krude, fast schon Kruse-mäßig angeschnitten, wechseln die Musiken aus der Konserve. Walzerklänge schleichen sich herein als entfernte Reminiszenz an Kubricks "2001: A Space Odyseey". Ein letztes Mal taucht der Held Kelvin noch auf, ehe er unter dem Zuschauerpodest verschollen geht, verschluckt von der amorphen Masse Publikum. Auf baldiges Wiedersehen!


Tears in Heaven
nach Motiven aus Stanisław Lems "Solaris"
von und mit: Vorschlag:Hammer
Regie und Spiel: Kristofer Gudmundsson, Gesine Hohmann, Margrit Sengebusch und Stephan Stock.

www.ballhausost.de


Mehr zu starken Köpfen der universitär geprägten Performance-Szene? Im Lexikon finden Sie alles zu den Arbeiten der Altvorderen aus Gießen: Rimini Protokoll, She She Pop und Gob Squad. Nicht zu vergessen: Showcase Beat Le Mot, die nachtkritik.de zuletzt mit ihrer Adaption der Bremer Stadtmusikanten sah.



Kommentar schreiben