Aufstand auf Schultafeln

4. Dezember 2023. Wer macht hier Revolution? Und wie revoltiert man gegen einen Staat, der behauptet, die Revolution gepachtet zu haben? Der gebürtige Iraner Theatermacher Alireza Daryanavard und seine Co-Autorin Mahsa Ghafari liefern eine Menge Lernstoff. Entscheidendes bleibt dennoch offen. 

Von Frauke Adrians

"Chronik der Revolution" von Alireza Daryanavard und Mahsa Ghafari im Berliner Ensemble © Moritz Haase

4. Dezember 2023. Revolution: was für ein missverständlicher, missinterpretierter, missbrauchter Begriff. Das Mullah-Regime im Iran behauptet, die Revolution institutionalisiert zu haben: "Revolution" als staatstragender Dauerzustand, bewacht von mordenden islamistischen "Revolutionsgarden". Was für ein zynisches Paradox.

Mangel an Trennschärfe

Welche Revolution meint der gebürtige Iraner Alireza Daryanavard aber mit seinem Stück "Chronik der Revolution"? Mehr als hundert Jahre blättert er zurück, startet um 1905 mit den ersten persischen Studenten, die nach Europa gingen und die Sehnsucht nach Demokratie mit nach Hause brachten, springt in die Ära der Pahlavi-Dynastie und arbeitet sich dann an Ayatollah Khomeini ff. ab, um seine Chronik nach rund hundert Minuten mit den Protesten nach dem Tod der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini zu beschließen. Und über allem steht das Wort "Revolution" – unterschiedslos, unhinterfragt, als handle es sich beim Sturz des Schah-Regimes, dem Walten der wechselnden Präsidenten unter den geistlichen "Revolutions"-Führern Khomeini und Chamenei und dem jüngsten Aufbegehren gegen das (frauen)mordende Regime um eine fortschreitende revolutionäre Bewegung. Mehr Trennschärfe, mehr simple sprachliche Genauigkeit, hätte dem Stück sehr gutgetan (und warum ist eigentlich ständig von "Reformisten" die Rede statt von Reformern?).

Chronik2 1200 Moritz Haase uIm Schulfunk-Stil: Gabriel Schneider und Nina Bruns performen sich durch die Revolutionsgeschichte © Moritz Haase

Das Problem mit diesem Stück, das im Rahmen des Berliner-Ensemble-Experimentalprogramms WORX entstand und im Werkraum des Hauses uraufgeführt wurde, ist aber kein rein semantisches. Von einem Theaterstück zu sprechen, ist schon viel; recht eigentlich handelt es sich um eine Art Schulfunk für Bühne und Filmleinwand, ausgeführt von drei Schauspielerinnen und einem Schauspieler. Lehrreich und lernstoffsatt ist dieser Abend sicherlich, und Alireza Daryanavard nimmt den Schulfunk-Vorwurf ironisch vorweg, indem er die drei Akteure auf der Bühne mit Kreide ausstattet und sie die wichtigsten Begriffe und Namen auf die reichlich vorhandenen schwarzen (Tafel-)Flächen der Kulisse schreiben lässt – Namen übrigens, die man in Europa nur zu gern vergessen hat: Rohani, Chatami, Ahmadinedschad, um nur drei zu nennen.

Uraufführung zur rechten Zeit

Daryanavards "Chronik der Revolution" erlebt ihre Uraufführung in einer Zeit, da Israel Krieg gegen die vom Iran aufgerüstete Terrorgruppe Hamas führt, einen Krieg, von dem das iranische Regime in jedem Fall profitiert. Dass das Stück zur rechten Zeit kommt, sollte man meinen; nur geht es hier überhaupt nicht um die Außenpolitik des iranischen Regimes. Das Unheil, das die schiitischen Islamisten im eigenen Land anrichten, die Verbrechen, die sie im Inneren – etwa im grauenvollen Evin-Gefängnis – begehen, liefern Alireza Daryanavard und seiner Co-Autorin Mahsa Ghafari mehr als genug "Stoff" für ihren Bühnenabend. Und dennoch: Dass das verhängnisvolle Wirken der Mullahs außerhalb des Iran so gar nicht Teil dieser "Chronik" ist, darf man als Mangel empfinden.

Aktivismus und Selbstermutigung

Und man darf sich – selbst wenn das nur eine Petitesse ist – darüber mokieren, dass in den wenigen theaterähnlich inszenierten Sequenzen perfekt gegendert und von "Protestierenden" und "Studierenden" gesprochen wird, auch wenn diese Szenen in den 1980er und 90er Jahren spielen sollen. Wo kein "echtes" Theater, da aber wahrer Aktivismus: Der Abend endet mit Selbstermutigung. Die Bewegung "Frau Leben Freiheit" sei nicht am Ende, der Protest gehe weiter, "die Revolution lebt". Das ist eine Chronik, die weitergeschrieben gehört.

 

Chronik der Revolution
von Alireza Daryanavard und Mahsa Ghafari
Regie: Alireza Daryanavard, Bühne: Katja Pech, Kostüme: Anneke Goertz, Musik: Mona Matbou Riahi, Licht: Leonard Nickel, Dramaturgie: Daniel Grünauer
Mit: Nina Bruns, Corinna Kirchhoff, Gabriel Schneider, Amelie Willberg
Uraufführung am 3. Dezember 2023
Dauer: 100 Minuten, keine Pause

www.berliner-ensemble.de

Kritikenrundschau

Verdienstvoll, lehrreich und oft auch erschütternd, findet Felix Müller von der Berliner Morgenpost (5.12.2023) den Abend, auch wenn er sich "am Ende nicht wirklich entscheiden kann, welche 'Chronik' er dem Publikum anzubieten hat. Ist es nicht viel eher eine des tragischen Scheiterns als eine der begrifflich auch von den Mullahs beanspruchten Revolution? Man möchte dem optimistischen Abschiedsgruß, mit dem das Stück ausklingt, dennoch nur zu gern glauben."

"Irgendwann bewahrheitet sich alle Hoffnung, mit diesem Gefühl verlässt man das Klassenzimmer im BE," schreibt Julian Sadeghi in der taz (5.12.2023).Ein wenig hat sich der Kritiker im Publikum wie bei einem Geschichtsleistungskurs gefühlt, "Thema: Iranische Revolutionen. Das ist erst mal toll, denn wer lernt in deutschen Schulen schon etwas über persische Geschichte? Allerdings geraten die Unterrichtseinheiten in ihrem Informationsgehalt etwas zu dicht. Das Problem ist ja: Möchte man als erwachsener Mensch im Theater wieder die Schulbank drücken? Die drei Schau­spie­le­r*in­nen können ihr Talent in diesen Szenen gar nicht richtig ausspielen vor lauter paukerhafter Erklärerei."

Kommentare  
Chronik der Revolution, Berlin: Kluge Idee
All diese unterschiedlichen politischen Umschwünge gleichermaßen als "Revolution" tituliert zu lassen, klingt für mich ehrlich gesagt nach einer ziemlich klugen Idee. Genau darin liegt ja ein schwer aushaltbares, aber reales Paradox: Revolution ist nicht nur das was ICH gut finde, zu unterschiedlichen Zeiten können diametral entgegenstehende politische Gruppierungen sich im Namen einer "Revolution" versammeln.

Zu allem anderen kann ich leider nichts beisteuern, da ich den Abend noch nicht gesehen habe und diese Kritik in seinem Bemühen den Abend von vornerein abzukanzeln leider darauf verzichtet erstmal zu beschreiben, was denn stattfindet. Okay, es werden Begriffe auf Tafeln geschrieben aber sonst? Wird gesprochen? Welche Qualität haben die Texte? Wie wird gespielt? Performativ? Oder gibt es Figuren? Gibt es ein Bühnenbild und wenn ja wie sieht es aus und was soll es erzählen? Kostüme? Werden vielleicht Musik oder Video eingesetzt?

Oder nochmal anders: Die Kritikerin findet offenbar, man hätte über den Iran heutzutage grundsätzlich einen Abend mit anderem Inhalt machen sollen. Dann sollte sie vielleicht als Dramaturgin arbeiten? Von einer Kritik erwarte ich, dass sie beschreibt: Was ist zu sehen, was sollte damit erzählen werden und abschließend bewertet, ob sich dieses Vorhaben einlöst. Wenn die ersten beiden Schritte übersprungen werden, ist der dritte obsolet.
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